Anderthalb Jahre vor den Kammerwahlen veröffentlichte das Tageblatt vergangene Woche die Ergebnisse seiner halbjährlichen Wählerbefragung. Sie geben einen Hinweis auf das parteipolitische Kräfteverhältnis im Land. Wobei man sich zu ihrer Beurteilung selbstverständlich zuerst die besonderen Umstände vergegenwärtigen muss, unter denen die Wählermeinungen zwischen Mai und November gesammelt wurden. Nämlich in einer Zeit, als alle Versprechen, dass der Wirtschaftsaufschwung endlich beginne, sich als haltlos erwiesen, bekannte Unternehmen mit Hunderten von Beschäftigten ihre Schließung ankündigten, und die Regierung die Kontrolle über die Staatsfinanzen zu verlieren schien. Viele Leute begann das deprimierende Gefühl zu beschleichen, dass die im Herbst 2008 offen ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise zum Dauerzustand zu werden droht. Die Regierung zeigte ihre Hilflosigkeit, indem sie ein Sparpaket nach dem anderen ankündigte.
Das ist selbstverständlich eine politische Herausforderung für eine Regierungskoalition aus einer Partei, welche vom Versprechen lebt, dass sie hausväterlich mit den Steuergeldern umzugehen verstehe, und einer Partei, welche sich als letztes Bollwerk gegen die Demontage des Sozialstaats andient. Die Folge ist, dass beide Regierungsparteien in allen Wahlbezirken heute weniger Stimmen erhielten als bei den Kammerwahlen 2009. Für die CSV ist das mäßig schlimm. Sie hatte 2004 ein Traumergebnis erzielt, das sie 2009 nur übertreffen konnte, weil die angesichts der Krise von Panik ergriffenen Wähler in Scharen Unterschlupf bei der konservativen Partei suchten. In Anbetracht der doch etwas wirren Finanzpolitik und der demonstrativen Amtsmüdigkeit ihres Spitzenkandidaten ist die CSV vielleicht sogar überraschend stabil, was auch an der geringen Überzeugungskraft ihrer Konkurrenten liegen mag.
Mit der LSAP geht es bei den nationalen Wahlen seit bald 30 Jahren bergab, weil durch die demographischen Veränderungen ihre soziale Basis schrumpft und die Sozialdemokratie weltweit dem Neoliberalismus keine überzeugende Alternative entgegensetzen konnte. Da hilft etwas als „Oppositionskur“ empfohlene linke Demagogie nicht viel: Die fünf Jahre Opposition nach 1999 hatten der LSAP 2004 landesweit gerade einen Prozentpunkt Stimmen mehr eingebracht. Mit etwas Pech hätte die LSAP heute so viele Kammersitze wie die DP, ein Dutzend. Da ihre Beziehungen zum OGBL derzeit gestört sind und die Tripartite tot ist, bleiben der LSAP immer weniger Argumente, um sich als unverzichtbarer Koalitionspartner darzustellen.
Denn die zweitstärkste Kraft im Parlament ist inzwischen der ökoliberale Block von DP und Grünen, die mit den Stimmen älterer und jüngerer Beamten, Angestellter und Selbstständiger jeden dritten Abgeordneten stellen könnten. Wobei die DP, die 2009 noch ihr schlechtestes Ergebnis seit 1964 einfuhr, derzeit die große Wahlsiegerin wäre. Das hat nicht viel mit programmatischen Alternativen zu tun, wie ihre mitleiderregenden Stellungnahmen in den Haushaltsdebatten diese Woche zeigten. Aber das Programm der DP war seit jeher ihr politisches Personal, und mit dem Durchbruch von Xavier Bettel haben die sich seit zehn Jahren verzweifelt erneuernden Liberalen erstmals wieder einen nationalen Publikumsliebling. Bettel macht das etwas forsch angekündigte Vorhaben der Grünen, die in allen Bezirken zulegen, zunichte, drittstärkste Partei am Krautmarkt zu werden. Damit könnte der vom Partylöwen zum Hauptstadtbürgermeister aufgestiegene Anwalt, der nächsten Monat auch den Parteivorsitz übernehmen soll, gewollt oder ungewollt in eine historische Rolle hineinwachsen: nach 2014 an der Seite der CSV das noch etwas atypische Luxemburger Modell von Indexanpassung und sozialstaatlicher Umverteilung endgültig im Zeichen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit so zu mainstreamen, wie es mit den zögerlichen Sozialisten nicht zu machen war.
Romain Hilgert
Catégories: Partis politiques
Édition: 23.11.2012