Die Regierung hatte es gut gemeint: Diesen Winter sollte kein Mieter auf die Straße gesetzt werden. Allenfalls, wenn eine Wegweisung wegen häuslicher Gewalt verhängt wurde oder nach einer Ehescheidung einer der Ex-Partner gehen muss. Sonst nicht. Bis zum 31. März 2023. Solange sollten auch vor Gericht anhängige Anträge von Vermieter/innen auf Zwangsräumung Pause haben. Justizministerin Sam Tanson (Grüne) hinterlegte dazu am 3. Oktober im Parlament einen Gesetzentwurf. Der choix politique darin schien zu den Anti-Krisenmaßnahmen zu passen.
Diesen Mittwoch stimmte die Kammer über den Text ab. Die Diskussion war sehr kurz. Die meisten Fraktionen verzichteten auf ihre Redezeit, was ungewöhnlich ist. Die Justizministerin nahm nur anderthalb Minuten lang Stellung. Den meisten im Plenarsaal schien, was mit großer Mehrheit verabschiedet wurde, seltsam peinlich zu sein.
Gesetz wird nicht, was die Regierung wollte. Sondern was der Staatsrat für angemessen hält. Eine nahezu generelle und automatische trève hivernale bevorteile Mieter/innen gegenüber Vermieter/innen, verstoße gegen die Menschenrechtskonvention und die Verfassung. Außerdem sehe das Mietgesetz schon vor, dass Mieter/innen bis zu drei Mal drei Monate Aufschub erhalten können; wieso noch mehr geben? Weil der Staatsrat sein Gutachten erst vergangene Woche herausgab, blieb den Abgeordneten keine andere Wahl, als die opposition formelle darin zur Kenntnis zu nehmen und in der letzten Sitzungswoche vor Jahresende zu beschließen, was der Staatsrat als Vorschlag zur Güte anbot: Die Zwangsräumung muss ein Friedensrichter aussetzen. Im Eilverfahren, weil ja Winter ist. Aber erst nachdem die drei Aufschübe laut Mietgesetz ausgeschöpft sind. Und die betreffenden Mieter/innen müssten beweisen, dass ihre Lage tatsächlich prekär ist und sie genug unternommen haben, um eine andere Wohnung zu finden.
So weit kann in diesem Land das Misstrauen, ja die Verachtung gegenüber Menschen reichen, die zur Miete wohnen. Wohlgemerkt gegenüber jenen, die sozial schwach sind und im „environnement économique actuel“ und angesichts der „pressions inflationnistes“, auf die die Justizministerin zur Begründung ihres Gesetzentwurfs verwiesen hatte, womöglich ihre Miete nicht zahlen können. Jene, denen die „sozial gezielten Steuererleichterungen bis in die Mittelschicht hinein“, die die DP-Finanzministerin im April vorschlagen will, falls „Sputt“ da ist, besonders helfen würden.
Weltfremd ist, was der Staatsrat quasi erzwungen hat, auch. Die laut Mietgesetz möglichen drei Gänge vors Friedensgericht müssen mit einem Anwalt vorgenommen werden, der zusätzliche ebenfalls. Das kann teuer werden. Wer staatliche assistance juridique haben will, darf nicht viel mehr Einkünfte haben als das Revis. In der Praxis ist es eher so, dass Mieter/innen eine Wohnung schon verlassen, wenn eine Zwangsräumung nur angedroht wird. Denn die kostet ein paar tausend Euro für Verwaltungs- und Polizeiaufwand.
Selbst wenn es für Vermieter/innen höchst ärgerlich ist, ausstehenden Mietzahlungen hinterherzulaufen, ändert das nichts daran, dass zwischen Vermieter und Mieter ein Machtgefälle besteht. Es für ein paar Monate auszusetzen, wäre ein Akt der Solidarität gewesen. Geschaffen wurde stattdessen ein bürokratisches Monster. Dass es demnächst zu Zwangsräumungen kommt, ist nicht auszuschließen. Ende April waren vor den Friedensgerichten in Luxemburg, Esch und Diekirch 227 Räumungsklagen anhängig. Zwischen Juli 2021 und April 2022 wurden 404 Zwangsräumungen angeordnet, dagegen 26 Mal ein Aufschub gewährt, antwortete Wohnungsbauminister Henri Kox (Grüne) im Mai auf eine parlamentarische Anfrage.
Hinzuzufügen wäre, dass es die Gewerkschaften waren, die bei der September-Tripartite für die trève hivernale eintraten. Ob die Regierung von selber darauf gekommen wäre, ist nicht so sicher. 2020 hatte sie im Covid-Notstand Zwangsräumungen ein erstes Mal ausgesetzt. Aber nicht aus sozialen Erwägungen, sondern weil sie fürchtete, bei den Räumungen würden die gestes barrières nicht eingehalten. Das Misstrauen gegenüber sozial schwachen Mieter/innen ist Teil der Kultur hierzulande.