Ein wundersames Kammerspiel gaben Premier Jean-Claude Juncker und sein Geheimdienstchef Marco Mille mit dem dreiviertelstündigen Gespräch über eine geheimnisvolle CD im Frühjahr 2008: Mille erstattete dem Regierungschef vertraulich Bericht und nahm das Gespräch heimlich auf. Er missbrauchte das Vertrauen seines politischen Vorgesetzten, weil er ihm seinerseits nicht traute. Nach einer chaotischen Zusammenkunft zuvor wollte er sich diesmal absichern, einen materiellen Beweis schaffen, dass er und worüber er Jean-Claude Juncker informierte, falls sich dieser nicht erinnern wollte oder konnte. Weil er das Gespräch heimlich aufnahm, war sich Mille ständig bewusst, dass er gar nicht oder nicht nur für Juncker sprach, sondern gleichzeitig auch Theater spielte für das Publikum in seiner Armbanduhr, für die Zuhörer, welche die Aufnahme zu hören bekämen. Deshalb sind seine Monologe streckenweise künstlich wie schlechtes Theater, wo jeder Schauspieler umständlich erklärt, wen er darstellt und was er tut. Am Ende des Gesprächs, kurz bevor der Vorhang fällt, kann der Geheimdienstchef es sich nicht verkneifen, noch schnell zu überspielen: Er beteuert wiederholt seine Loyalität, stellt sich als mustergültigen Demokraten dar, der die „philosophischen Ansichten“ des als aufgeklärten Christlich-sozialen geltenden Premiers teilt und, anders als sein Vorgänger, selbst Grünen und Kommunisten ein politisches Existenzrecht einräumt. Doch Jean-Claude Juncker misstraut seinerseits dem Geheimdienstchef. Er hört ihm zu und sagt so wenig wie möglich. Am liebsten murmelt er bloß unverfänglich „Jo, jo“. Hätte er gewusst, dass das Gespräch heimlich aufgenommen wurde, er hätte sich kaum vorsichtiger anlegen können. Mille drängt ihn immer wieder zu erzählen, worüber er mit dem Großherzog geredet hatte, weil er einen Anhaltspunkt brauche, um den „roten Faden“ aufnehmen und das Rätsel der angeblich verschlüsselten CD lösen zu können. Doch Juncker lässt sich nicht aus der Reserve locken, will die Arbeit seines Nachrichtendienstes nicht erleichtern. Er beteuert immer wieder, dass er nichts Wichtiges mit dem Großherzog geredet habe. Denn selbstverständlich misstraut der Regierungschef auch dem Staatschef. Er „passt auf“, was er ihm sagt, um den offenbar etwas überforderten Großherzog „nicht nervös zu machen“. In der Staatsbürgerkunde werden die Konziliabulen des Staatsoberhaupts mit seinem Regierungschef anders dargestellt. Natürlich misstraut der Großherzog auch seinem Staatsminister. Schließlich war Juncker Ende 2005 nicht davor zurückgeschreckt, den Bruder des Großherzogs als möglichen Bommeleeër beim Staatsanwalt quasi anzuzeigen, und damit den entsprechenden Gerüchten eine regierungsamtliche Glaubwürdigkeit verliehen. Nun, 2008, erzählt der Direktor des Nachrichtendienstes dem Premier von „glaubwürdigen Berichten“, laut denen der Großherzog „ständig“ Kontakte zum britischen Geheimdienst unterhalte. Demnach würde das seiner Regierung und ihrem Service de renseignement misstrauende Staatsoberhaupt heimlich mit einer fremden Macht zusammenarbeiten, auf die Gefahr hin, von dieser manipuliert zu werden oder ihr Gegenleistungen erbringen zu müssen. Als der Großherzog wenige Monate später nach Rom geflogen war, um sich im Vatikanstaat Unterstützung im Kampf gegen das Euthanasiegesetz zu holen, entrüstete sich Jean-Claude Juncker im Dezember 2008 vor dem Parlament: „Ech akzeptéieren net, dass de Vatikan sech hei amëscht. “ Vielleicht meinte er nicht nur den Heiligen Stuhl, sondern auch den britischen Geheimdienst. Der Geheimdienstchef erinnert den Premier auch daran, dass das Palais Abhörmaterial zu beschaffen versuchte, um die Telefonate oder Gespräche der Mitarbeiter und Besucher abzuhören, denen es nicht traut. Was Mille zu der Frage bewegt, ob der Premier vielleicht im Palais mit hauseigenem Material abgehört worden sei – um so mehr, als es mit in Jugoslawien üblichem Material geschehen sei und der britische Geheimdienst den jugoslawischen Sicherheitsapparat kontrolliere. Verdächtig erscheint dem Geheimdienstchef auch die Rolle der zum Sicherheitsdienst im Palais abkommandierten Polizeibeamten. Für Juncker sind sie ein „Statussymbol“ des Großherzogs, also ein Mittel, um sich wichtig zu machen. Mille nennt sie eine unkontrollierbare „Privatarmee“ und weiß, dass auch die Polizeidirektion ihnen nicht traue. Wenige Monate später mobilisierte der christlich-soziale Premier binnen Stunden sämtliche Parteien, um im Streit um das Euthanasiegesetz den Großherzog durch die Änderung von Artikel 34 der Verfassung zu entmachten. Noch einmal vier Monate später hinterlegte CSV-Berichterstatter Paul-Henri Meyers den Entwurf einer großen Verfassungsreform, welche den Großherzog seiner letzten Vorrechte berauben soll. Aber Jean-Claude Juncker hat nicht nur Grund, dem Großherzog und dem Nachrichtendienst zu misstrauen. Für Mille kann der Lauschangriff auch aus Junckers eigener Partei oder dem gerade 30-köpfigen Staatsministerium kommen, wo er „auch nicht nur Freunde“ habe. Das ist auch Juncker „klar“. Selbstverständlich macht das Misstrauen nicht vor dem Service de renseignement halt. Mille stellt seinen Vorgänger Charles Hoffmann als für die Demokratie bedrohlichen Geheimniskrämer dar, der 300 000 Karteikarten über alles und jeden im Land anfertigen ließ. Und erzählt, dass Beamte des Nachrichtendienstes das Büro ihres Direktors abhörten, um ihn zu kompromittieren. Mehrfach warnt Mille den Premier im freundschaftlichen Duz-Ton davor, im eigenen Büro abgehört zu werden. Und zeichnet gleichzeitig das Gespräch heimlich mit seiner Armbanduhr auf. Somt erscheint die Spitze des CSV-Staats als mühsam zusammengehaltene Kulisse eines wundersamen Kammerspiels, hinter der das allgemeine Misstrauen herrscht und regiert. Einige Darsteller versuchen, irgendwie die parlamentarische Demokratie am Funktionieren zu halten, andere weniger.
Véronique Poujol
Kategorien: Affäre Srel
Ausgabe: 30.11.2012