Stahltripartite

Das Orakel von Delphi

d'Lëtzebuerger Land du 09.10.2008

Leise, still und heimlich haben sie bisher verhandelt. Obwohl die Gewerkschaften geschrien hatten: „Wir müssen!“ und das Management von Arcelor Mittal geblockt hatte: „Wir wollen nicht!“ Auch mit der Regierung stand man in Kontakte. Die Stahltripartie ist, wenn auch hinter verschlossenen Türen, demnach voll im Gange. Am Montag, so schätzt jedenfalls Alain Kinn von der Sidérurgie a.s.b.l, wird das gemeinsame Positionspapier von Arbeitgebern und Arbeitnehmern fertig sein. Das wird an die Regierung weitergeleitet; im November könnte dann die offizielle Runde der Tripartite eingeläutet werden. 

Viel Zeit bleibt den drei Parteien ohnehin nicht. Die aktuellen Regelungen laufen am 31. Dezember 2008 aus. Das gilt sowohl für die betriebsinterne cellule de reclassement und also auch für das Recht der Arbeitnehmer, sich ab dem 57. Lebensjahr via pré-retraite ajustement in den Ruhestand zu verabschieden. 

Dass man sich schon vor dem Gang zum zuständigen Minister mit den Gewerkschaf­ten geeinigt hat, begrüßt auch Arcleor-Mittal-Direktionsmitglied Michel Wurth. „Man soll nur ausnahmsweise zum Orakel von Delphi gehen“, sagt er. Das Luxemburger Modell ergebe nur dann Sinn, wenn die Sozialpartner im Gespräch einen Konsens fänden. Das sei auch der Grund dafür, dass Arcelor Mittal bereits im Vorfeld mit Vorschlägen auf die Gewerkschaften zugegangen ist. „Wir sind hier in Luxemburg und insgesamt im Konzern auf industrieller Ebene ambitiöser als noch 2006“, sagt Wurth. Wurden in der Vergangenheit zwischen drei und 3,3 Tonnen Stahl jährlich produziert, sollen es künftig vier Millionen Tonnen werden. „Die Produktivitätsrate soll einen neuen Spitzen­wert erreichen, mit Steigerungen zwischen 25 und 30 Prozent“, kündigt er an. 

Dass man sich mit den Gewerkschaften einigen konnte, hat aber wohl auch damit zu tun, dass beide Seiten ähnliche Interessen haben – die sich aber nicht unbedingt mit denen der Regierung decken. So scheint es, als könn­ten die Rollen in der Stahltripartite 2008 ein wenig anders verteilt sein, die Fronten anderen Linien folgen, als eigentlich gedacht. „Die Essenz des Kompromisses, den die Regierung anstrebt, ist ein Ausstiegsmodell aus der aktuellen Logik, die pré-retraite sei ein Recht“, verrät Michel Wurth. „Das würde bedeuten, wir befänden uns in einer Übergangsphase. Denn damit würde das phasing out der 30 Jahre alten pré-retraite ajustement eingeleitet. Das ist es, was auf dem Spiel steht.“ 

Seit den Verhandlungen über den Investitions- und Beschäftigungsplan Lux 2006 hat sich die Rechtslage verändert. Das umstrittene Gesetzes­projekt 5611 zieht eigentlich einen Schlussstrich unter die Regel, wonach Arbeitnehmer ab dem 57. Lebensjahr in den Vorruhestand gehen können. Den Löwenanteil der Kosten dafür trug bisher der Staat über den Beschäftigungsfonds. Ein klarer Vorteil für die Arbeitgeber. Künftig aber sollen sie je nach innerbetrieblicher Wetterlage, zwischen 30 und 70 Prozent der Kosten übernehmen. Da aber weder die Gewerkschaften gewillt sind, die Errungenschaft des Vorruhestands kampflos aufzugeben, die Regierung aber, das hätten Gespräche mit dem Arbeitsministerium ergeben, nicht weiter dafür aufkommen will, dass qualifiziertes Personal automatisch vor dem Rentenalter aus dem aktiven Arbeitsleben ausscheidet, finden sich Arbeitnehmervertreter und Arcelor Mittal zu einer Zweckgemeinschaft zusammen. „Wir wollen der Regierung sagen, dass wir aufgrund der Alterspyramide die pré-retraite ajustement noch brauchen“, erklärt Wurth. Er rechnet damit, dass in den drei Jahren, für die das neue Programm Lux 2010 gilt, rund 300 Beschäftigte das Unternehmen verlassen werden. 

Die pré-retraite solidarité, deren Kosten der Arbeitgeber zu 30 Prozent übernimmt, habe nie funktioniert. Das bestätigt auch Alain Kinn. Dort gilt das Prinzip, wenn einer geht, nimmt ein anderer seinen Platz ein. Und zwar genau diesen Arbeitsplatz. Das klappt in einem sich ständig wandelnden Unternehmen nicht, sagt Manager Michel Wurth. Ersatz wird nicht unbedingt dort gebraucht, wo jemand weggeht. Anderenorts vielleicht schon. Seit der Fusion hat Arcelor Mittal in Luxemburg das Personal ständig aufgestockt, zählt mehr Beschäftigte als zuvor. Von der guten Konjunktur getragen, musste der Stahlriese sogar Arbeitsplätze erhalten, deren Streichung in Lux 2006 vorgesehen war.

Angesichts dieser kniffeligen Ausgangslage sagt Arbeitnehmervertreter Alain Kinn: „Wir wollen die Vorruhestandsregelung nicht abschaffen, sondern eine neue pré-retraite solidarité einführen.“ Seinem Szenario zufolge sollen neue Beschäftigte eingestellt werden, damit andere in den Ruhestand gehen können. Die Neuzugänge sollen dann in der cellule de reclassement auf ihren Job im Stahlsektor vorbereitet werden. Deshalb sei es so wichtig die cellule aufrecht zu erhalten und in Zusammenarbeit mit der Arbeitsagen­tur Adem für den Luxemburger Arbeitsmarkt zu öffnen. Daraus soll eine neue aktive Arbeitsmarktmaßnahme entstehen, hofft Kinn. Zuvor müsste allerdings das Gesetz so geändert werden, dass Vorruheständler einfach nur zahlenmäßig ersetzt werden müssen – und nicht auf ihrem Posten. 

Michel Wurth wünscht sich eine Neuauflage der solidarischen Vorruhestandsregelung, die es erlauben würde, Arbeitnehmer, deren Jobs im französischen Gandrange abgebaut werden, in Luxemburger Werken einzustellen. Ist die gewünschte Balance zwischen Vorruheständlern und neuen Mitarbeitern dann immer noch nicht erreicht, möchte Wurth dennoch gerne auf die pré-retraite ajustement zurückgreifen können. In seinem Modell werden die diesbezüglichen Ausgaben, denen der solidarischen Vorruhestandsregelung angepasst. „Man darf zwei Dinge nicht verwechseln. Dem Konzern geht es weltweit gut. Aber hier in Luxemburg müssen wir unsere Produktivität weiter verbessern“, unterstreicht er schnell. Damit niemand auf die Idee kommt, zu fragen, weshalb man einem Konzern wie Arcelor Mittal, der Rekordgewinne verbucht, in diesem Punkt entgegenkommen soll. Und weil die Regierung ihn bereits gewarnt habe, die pré-retraite ajustement gebe es nicht mehr zum Nulltarif.

Neben dieser strategischen Allianz haben sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf weitere Punkte geeinigt. Zum Beispiel darauf, dass sie die cellule de reclassement, in der derzeit 120 Beschäftigte in Lohn und Brot sind, als sinnvolles und erhaltenswertes Instrument betrachten. Auch da könnte Streit mit dem zuständigen Arbeitsminister drohen, denn der Staat trägt auch hierfür den Großteil der Kosten. Wie hoch diese sind, ist unbekannt. Laut Alain Kinn zahlt Arcelor Mittal ein Fünftel der Kosten. Das seien ein paar Millionen Euro jährlich, sagt Wurth. Genauer werden will er nicht.Zurück zum Ausgangspunkt der Diskussionen: die Ankündigung des Arbeitgebers, mehr zu produzieren und die Produktivität zu steigern. Im konzerninternen Vergleich schneiden die Luxemburger Werke mehr schlecht als recht ab. Zwischen 700 und 900 Tonnen werden hier jährlich pro Arbeitnehmer produziert. In anderen Werken sind es zwischen 1 000 und 1 500 Tonnen. Außerdem sollen sich die Investitionen, die seit Mitte der Neunziger getätigt wurden – rund eine Milliarde Euro – wirklich lohnen. Deswegen soll noch etwas mehr investiert werden. Denn die Spitzenproduk­te, die hier hergestellt werden, sind weltweit gefragt. Wie viel das genau ist, wisse man noch nicht genau. Oder man will es nicht sagen. Eine bessere Produktivitätsrate, das heißt nicht nur, mehr produzieren.

Das heißt auch, etwas weniger Personal. Im Klartext rund 200 Mitarbeiter weniger, legt Wurth die Karten auf den Tisch. Davon etwas weniger als 100 in Belval und etwas weniger als 80 in Differdingen. Zur Erinnerung: Bei insgesamt 6 600 Beschäftigten werden in den den Jahren 2009 bis 2011 zwischen 900 und 1 000 Mitarbeiter ihren Arcelor-Mittal-Helm definitiv an den Nagel hängen und in den Ruhestand gehen. Dafür wird es dann zwischen 600 und 700 Neueinstellungen geben. Auf den Arbeitsplatzabbau angesprochen, merkt der Verhandlungsführer der Gewerkschaften lediglich an, die in Lux 2006 vorgesehene Belegschaftsreduzierung sei nicht in ganzem Maße umgesetzt worden. Wohl deshalb bleibt der Protest bisher aus.

Zusätzliche Flexibilität soll der Ausbau des Arbeitszeitkontos bringen, kündigt Wurth an. So soll bei guter Konjunktur und Auftragslage mehr produziert werden können. Und falls die Konjunktur schwächelt – was nächstes und übernächstes Jahr der Fall sein könnte – die Beschäftigten weniger arbeiten und von ihrem Konto zehren können. Damit in Produktionsspitzen das Arbeitspensum überhaupt bewältigt werden kann, soll das Unternehmen zudem mehr als bisher auf Subunternehmer zurückgreifen können. Aber in begrenzten Maß, was sowohl die Tätigkeiten betrifft, wie auch die Dauer der Einsätze, betont Wurth. Der Rückgriff auf Subunternehmer werde die Ausnahme bleiben und von Fall zu Fall mit den Delegationen abgesprochen werden, stellt Alain Kinn klar. 

Ob das – nach den Streitereien zum Einheitsstatut – ungewöhnlich anmutende Bündnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber Arcelor Mittal von Dauer ist, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Wenn sie das Orakel von Delphi befragen. Dann, wenn sich Arbeitsminister Biltgen – der sich nicht zur Sache äußern wollte – und seine Regierungskollegen ihrerseits Tacheles reden müssen, sprich sagen, welchen Teil der angesprochen Maßnahmen die öffentliche Hand mitfinanzieren wird oder nicht. 

Michèle Sinner
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