Die Filme der Brüder Dardenne

Aus dem Leben gegriffen

d'Lëtzebuerger Land vom 27.06.2025

Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes gewann Jeunes mères den Preis für das Beste Drehbuch. Es ist die neunte Auszeichnung der Gebrüder Dardenne an der Croisette und ein weiterer Eintrag in eine internationale Erfolgsgeschichte, die weit zurückreicht. Der künstlerische Ursprung der Gebrüder Dardenne liegt zunächst in politischen Dokumentarfilmen, die sie zugunsten von Spielfilmen aufgaben, die menschliche Dramen fokussierten. Die Dardenne sind in Seraing aufgewachsen, einem industriellen Vorort von Lüttich, geprägt von Werften, Armut und Arbeitslosigkeit. Jean-Pierre (geb. 1951) studierte Schauspiel, Luc (geb. 1954) Philosophie. Mitte der Siebzigerjahre gründeten sie die Produktionsfirma Dérives und drehten rund 60 Dokumentarfilme, oft mit politischem oder sozialem Fokus – über Streiks, Widerstandsbewegungen oder Flüchtlinge. Sie arbeiteten eng mit linken Aktivistengruppen zusammen und betrachteten das Kino schon früh als Teil eines gesellschaftlichen Engagements.

Irgendwann reichte ihnen die dokumentarische Form nicht mehr. 1994 gründeten sie Les Films du Fleuve, ihre heutige Produktionsfirma, um Spielfilme zu drehen – aber mit dem gleichen Anspruch an Wahrhaftigkeit und politischer Dringlichkeit. Ihre ersten beiden Spielfilme, Falsch (1987) und Je pense à vous (1992), blieben experimentell und weitgehend unbeachtet. Erst mit La Promesse (1996) fanden sie ihre Form: dichte Kameraarbeit, Nähe zu den Körpern, Reduktion aufs Notwendigste. Es folgten Rosetta (1999), mit der Goldene Palme in Cannes ausgezeichnet, Le Fils (2002) und L’Enfant (2005), ein erneuter Palmen-Gewinn. Man kann diese Filme als Trilogie über Jugendliche am Rand der Gesellschaft bezeichnen, über Schuld und Verantwortung. Das künstlerische Programm des Regiesseurpaars war etabliert. Ihr neuer Film, Jeunes mères, um fünf minderjährige Mütter, die mit ihren Babys in einem belgischen Mutterhaus leben, verbindet erstmals multiperspektivisch die Themenfelder, die die Brüder immer schon umtrieben.

Durch ihre wiederkehrende Präsenz in Cannes wurden die Dardenne international zu einer festen Größe im Arthouse-Kino. 13 Spielfilme haben sie bisher gedreht und einen Stil kultiviert und zur Vollendung gebracht, der sofort erkennbar ist: Die Kamera – geführt von Alain Marcoen – bleibt immer dicht an den Figuren, oft an ihren Rücken, folgt ihnen durch Gänge, Straßen, Werkstätten. Diese Nähe erzeugt Intimität und Unmittelbarkeit, aber keine Sentimentalität. Dialoge sind spärlich. Gefühle entstehen weniger durch Worte, sondern mehr durch Bewegungen, Handlungen, Blicke. In Le Fils etwa sagt der Schreiner Olivier kaum ein Wort. Dennoch begreifen wir seine innere Qual: Der Jugendliche, den Olivier als Lehrling annimmt, ist der Mörder seines Sohnes. Der Film erzählt keine Rachegeschichte, verweigert moralische Erklärungen – nur das beharrliche Beobachten einer Annäherung steht im Vordergrund. Die Dardenne zeigen keine Lösungen, sondern Prozesse. Menschlichkeit wird nicht behauptet, sie entsteht. Ein wesentlicher Aspekt dieses Stils ist die Besetzung mit Laiendarstellern oder weitgehend unbekannten Schauspielern. Jérémie Renier war 15, als er in La Promesse debütierte – später spielte er Bruno in L’Enfant. Für die Brüder sind prominente Schauspieler mit einem medialen Image vorbelastet und stehen zwischen Figur und Zuschauer. Bei aller Spontaneität und Unmittelbarkeit, die die Brüder erzeugen, ist in ihrer Arbeitsweise nichts dem Zufall überlassen: Oft proben sie wochenlang jede Szene, jede Bewegung. Die improvisierte Wirkung ist das Ergebnis minutiöser Planung. Der hochgradig filmisch konstruierte Realismus-Effekt macht ihre Geschichten „wie aus dem Leben gegriffen“.

Die Dardenne zeigen Armut, aber nie als Spektakel. Wohl verurteilen sie neoliberale Zustände, aber weniger systemkritisch und paternalistisch als etwa Ken Loach. Der Kapitalismus wird bei ihnen sichtbar in Form von Strukturen, Hierarchien, vorgesetzten Autoritäten mit sichtbaren Gegnern: Arbeitsämter, Konzerne, Polizei, Bürokratie. Die Filme verweigern entschieden die verführerische Ästhetisierung des Leids, zielen weniger auf Empörung ab als auf existenzielle Unruhe. In Rosetta etwa lebt die Hauptfigur in einem Wohnwagen mit ihrer alkoholkranken Mutter. Sie sucht Arbeit mit verzweifeltem Eifer und scheitert. Der junge Vater in L’Enfant handelt skrupellos, aber nicht aus Bosheit, sondern aus Unreife. Der Film zeigt seinen langsamen Prozess der Wandlung – nicht durch Strafe, sondern durch zwischenmenschliche Erfahrung. Das Kino der Dardenne lädt zu einer Ethik des Sehens ein. Wie handelt man richtig in einer Welt, die moralisch ambivalent und strukturell ungerecht ist? So lautet die Leitfrage, die das Werk der Brüder strukturiert.

Oft werden sie deshalb als politische Filmemacher bezeichnet. Das stimmt – aber auf besondere Weise. Sie erzählen keine Geschichten über „die Gesellschaft“, sondern über Einzelne in einem konkreten sozialen Kontext. In Le gamin au vélo (2011) sucht ein Junge menschliche Nähe, auch zu einem Drogendealer. Die Darstellung ist nicht wertend, sie zeigt emotionale Bedürftigkeit. Le jeune Ahmed (2019) erzählt aus dem Leben eines Teenagers, der sich in seinem Glauben verliert und radikalisiert. Jeunes mères erzählt aus dem Leben junger Frauen, die Mütter sind, aber selbst noch nicht erwachsen sein durften. Die Dardenne zeige nicht, wie die Welt sein sollte, sondern wie sie ist und wie Menschen darin handeln. Sie glauben an die Möglichkeit moralischer Erkenntnis, nicht als Botschaft, sondern als Erfahrung.

Die Form ist bei ihnen nie Selbstzweck. Sie ist indes durch jahrelange Wiederholung längst konstant und erwartbar geworden. Das ist in Jeunes mères nicht anders. Der Film zeigt den Wunsch nach Autonomie, nach Selbstbestimmung junger Menschen in einem sozialen Gefüge, das zwischen kaltherziger Ächtung und aufrichtiger Unterstützung oszilliert. Dabei offenbart sich die komplexe Lage der jungen Frauen zwischen Fürsorge und Überforderung, Verantwortung und Selbstschutz. In bester modernistischer Manier denkt auch dieser Dardenne-Film nicht für uns, sondern fordert unsere Ansichten und Vorstellungen heraus.

Marc Trappendreher
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