Mit Tardes de soledad – zu Deutsch „Nachmittage der Einsamkeit“ – wendet sich der katalanische Regisseur Albert Serra erstmals dem Dokumentarfilm zu. Bekannt wurde er bislang vor allem durch seine stilistisch radikalen Spielfilme wie La mort de Louis XIV (2016) oder Pacifiction (2022), in denen er historische Figuren und politische Machtstrukturen in kunstvoll komponierten Bildern inszenierte. In seinem neuen Werk widmet er sich einem realen und zugleich höchst umstrittenen Thema: dem Stierkampf. Dabei begleitet er den peruanischen Torero Andrés Roca Rey, einen der bekanntesten und gefeiertsten Matadore der Gegenwart, den viele als Superstar oder gar als „Lionel Messi der Corrida“ bezeichnen.
Schon in der Eröffnungssequenz setzt Serra ein eindringliches Bild: Ein Stier blickt direkt in die Kamera, also auch in die Augen der Zuschauenden – eine Begegnung von erschreckender Unmittelbarkeit. Es folgt der Blick eines Toreros, konzentriert, doch zugleich wie entrückt. Über dieser dichten visuellen Stimmung liegt ein dunkler Klangteppich, der mit dröhnenden Bässen den Filmtitel in roten Lettern ankündigt. An wessen Einsamkeit werden wir da angebunden? An die des Tieres, das dem sicheren Tod entgegentreten muss? Oder an die des Menschen, im Angesicht des Todes, immer in Lebensgefahr, der sich diesem Ritual aussetzt?
Statt die bekannte Debatte um die Legitimität des Stierkampfs explizit zu führen, setzt Serra auf eine poetisch-repetitive Annäherung, die das Geschehen weder anklagt noch verteidigt – ganz ohne Kontext, ohne Rahmung, ohne Kommentar. Seine Inszenierung betont vielmehr die ritualhafte Wiederholung der Abläufe: vom Ankleiden des Toreros in der Umkleidekabine über das konzentrierte Warten vor dem Kampf bis hin zum tödlichen Aufeinandertreffen in der Arena. Diese ständigen Wiederholungen der Kämpfe – visuell unterstützt durch eine meist statische Kamera und begrenzte Schauplätze wie Arena, Hotelzimmer oder Minibus – vermitteln eindringlich, wie sehr die Corrida eine kulturell durchformte Aufführung ist, einer Sportveranstaltung dabei nicht unähnlich. Roca Rey ist der Star, um ihn herum scharen sich Zuspieler, etwa Lanzenträger, die den Stier verwunden. Die Corrida auch als ein Mannschaftssport. Serra beschränkt sich in Tardes de soledad auf wenige präzise gesetzte Orte – durch diese Reduktion wirkt der Film wie eine Studie: Ein streng strukturiertes, in sich geschlossenes System aus Bewegung, Stillstand und Tod wird da gezeigt, dabei dominiert Serras präzise Kontrolle über die Bildkomposition und Kameraarbeit. Er verwendet überwiegend statische Einstellungen, in denen die Kamera dem Geschehen nicht allumfassend folgt, sondern es aus der Distanz beschaut. Oft sind die Bilder wohlkomponiert, fast wie Standbilder. Die Farbpalette ist reduziert – dominiert von erdigen Tönen, dem Gold der Torero-Kostüme und immer wieder von einem tiefen, leuchtenden Rot, das sich wie ein visueller Leitfaden durch den gesamten Film zieht. Blut, Kleidung, Tücher – alles erscheint im Rotton als Symbol für Sterblichkeit, Leidenschaft und Gewalt. Auch die Tongestaltung hat an der atmosphärischen Dichte erheblichen Anteil: Serra verzichtet auf Voice-over-Kommentare oder erklärende Zwischentexte. Stattdessen setzt er auf pointiert eingesetzte Filmmusik, insbesondere tieffrequente Klänge, die wie eine unheilvolle Untermalung wirken. Musik ist hier keine emotionale Überhöhung, sondern ein akustisches Mittel der Distanzierung, die Archaik und Gefahr der Szenerie signalisierend.
Um das Ritual des Stierkampfs in seiner vollen Bedeutung als immaterielles Erbe zu erfassen – und mithin Albert Serras Film einzuordnen –, ist es notwendig, den anthropologischen und kulturellen Kontext zu umreißen: Der Stierkampf – la corrida de toros – reicht tief in die Geschichte Spaniens und anderer hispanischer Kulturen zurück. Bereits in der Antike waren blutige Tierkämpfe verbreitet, doch erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich die moderne Form der Corrida, wie sie heute in Spanien, Mexiko, Kolumbien oder Peru praktiziert wird. Dort ist sie nicht bloß ein effekthascherisches Spektakel, sondern ein Ausdrucksmedium, in dem sich Konzepte wie Männlichkeit, Mut, Ehre und Tod auf theatralische Weise verdichten. Obwohl die Corrida tief im kulturellen Selbstverständnis vieler hispanischer Gesellschaften verankert ist, bleibt eine offizielle Anerkennung international umstritten. In Spanien wurde der Stierkampf 2013 ins Nationale Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen, gilt damit als erhaltenswertes Kulturgut. Dagegen scheiterten bislang alle Versuche, ihn durch die Unesco in die internationale Liste des Weltkulturerbes aufnehmen zu lassen – zu groß ist die Kritik an der Gewalt gegenüber Tieren, die das Spektakel begleitet. Diese institutionelle Spannung – zwischen staatlich geschützter Tradition und globaler Ablehnung – verschärft sich zudem mit Blick auf die der Corrida inhärenten sozialen Funktion: Sie bringt Gemeinschaften zusammen, sie dient als Erfahrungsraum für regionale oder nationale Identitäten zwischen Tradition und Kontinuität. In ländlichen Regionen Spaniens etwa ist sie häufig mit religiösen Festen verknüpft. Nicht selten wird der Stierkampf als Opferhandlung oder als Echo auf mythologische Ursprünge interpretiert. Aus anthropologischer Sicht kann die Corrida als modernes Überbleibsel archaischer Ritua-
le gelesen werden, in denen der Mensch seine Dominanz über die Natur demonstriert – oder seinen eigenen Tod durch das symbolische Töten des Stieres spiegelt. Serras Film greift diese Deutung zwar nicht explizit auf, aber die strenge Wiederholung der Abläufe, die beinahe sakrale Stille vor dem Kampf und die rituellen Gesten der Toreros heben diese kulturellen Tiefenschichten auf subtile Weise ins Bewusstsein.
Im Zentrum von Tardes de soledad steht der 1996 in Lima geborene Andrés Roca Rey, eine der schillerndsten Figuren der zeitgenössischen Corrida. Roca Rey ist nicht nur wegen seiner technischen Fertigkeit und seiner Risikobereitschaft berühmt, sondern auch aufgrund seiner medialen Präsenz: Er ist jung, fotogen, professionell vermarktet und identifiziert sich zugleich mit der jahrhundertealten Tradition. Ist es ein Zufall, dass Serra ihn sich bekreuzigend oder das um seinen Hals hängende Kruzifix küssend zeigt? Wir sehen ihn beim Umziehen, beim Warten, in der Arena – aber wir erfahren kaum etwas über ihn als Menschen. Keine Interviews, keine Hintergründe, kein persönliches Erzählen. Diese Leerstelle ist kein Versäumnis, sondern Teil von Serras filmischer Strategie: Roca Rey wird zur Projektionsfläche, zum archetypischen Torero – und damit zum Gegenpol des Tieres, das ebenfalls nicht individualisiert, sondern als symbolische Figur erscheint.
Gerade durch diese Gleichsetzung und Abstraktion entsteht eine eigentümliche Symmetrie: Der Mensch und das Tier, beide sind gefangen in einem Ritual, das sie gleichermaßen überformt und in Rollen zwingt: als gleichwertige Kontrahenten in einem Todestanz, der von Brutalität wie von Grazie geprägt ist. Roca Rey bewegt sich wie ein Tänzer, kontrolliert jede Pose, doch der Preis dieser Eleganz ist stets das Leben des Stieres – und die permanente Bedrohung des eigenen. Serra inszeniert Roca Rey damit nicht nur als Meister der Technik, sondern als Verkörperung eines Widerspruchs: der Schönheit im Angesicht des Todes. In der Ästhetik des Todes offenbart sich so eine paradoxe Wahrheit: Die Corrida ist grausam schön – und schön in ihrer Grausamkeit. Kino, sagte Jean Cocteau, sei der Tod bei der Arbeit – selten aber geschieht dieses Zusehen mit solcher Anmut, Klarheit und Grausamkeit wie in Tardes de soledad. Darin liegt die besondere Kunstgeste von Albert Serra: Tardes de soledad ist ein verschmelzendes Erlebnis zwischen Leinwand und Kinosaal – der Film ist weniger Erzählung als vielmehr Ereignis, das sich unmittelbar im Raum zwischen Bild und Betrachter entfaltet.