Seit Anfang des Jahres macht eine junge Firma von sich reden. Mit kleinen Bussen will sie einen „Tür-zu-Tür-Fahrdienst“ für Berufstätige anbieten. An Werktagen würden sie morgens daheim abgeholt und zum Arbeitsort gebracht, nachmittags ginge es zurück. Verfügbar sein soll der Dienst – sofern sich genug Kunden finden – nicht nur innerhalb Luxemburgs, sondern auch für Grenzpendler. Im Internet wirbt die Start-up dafür mit der Aufforderung: „Hol dir deine Zeit zurück! Egal ob du in Luxemburg, Frankreich, Belgien oder Deutschland wohnst …“
Das ist nicht nur ein griffiger Slogan. Er deutet auch an, wie das Mobilitätsverhalten der Leute sich in den nächsten Jahren verändern könnte, wenn die Fahrzeuge immer „autonomer“ werden und eines Tages sogar völlig selbstfahrende Autos auf den Straßen unterwegs sein werden. Für Francesco Viti, Professor für Mobilitätsforschung an der Universität Luxemburg, ist nicht ausgemacht, dass in der „autonomen“ Zukunft das Straßenverkehrsaufkommen sinkt. „Es könnte sogar deutlich wachsen“, sagt er.
Denn die neue Art des Reisens würde es erlauben, sich „Zeit zurückzuholen“. Jeder Ortswechsel, und sei er noch so kurz, ist mit einem Aufwand verbunden. In der Zeit, die damit verbracht wird, könnte man auch etwas anderes tun. Ist der Grund für die Reise triftig genug, reist man.
„Mit selbstfahrenden Autos wird sich das drastisch ändern“, ist Francesco Viti überzeugt. „Fahre ich nicht mehr selbst, kann ich im Auto am Computer arbeiten, mich mit anderen Menschen treffen, mich einfach entspannen und so fort.“ Der Mobilitätsforscher hält es für „sehr wahrscheinlich, dass wir dann mehr Kilometer fahren werden“.
Die Entwicklung in diese Richtung könnte bereits eingesetzt haben: Statistisch gesehen, wendet in den Industrieländern jeder Mensch durchschnittlich eine Stunde pro Tag für Ortswechsel auf. „Dieser Wert war fünfzig Jahre lang erstaunlich konstant geblieben“, erklärt Francesco Viti. „Seit ein paar Jahren nimmt er zu, graduell zwar, aber der Trend ist nicht zu übersehen.“ Wenngleich es auch andere Einflussfaktoren gibt – knappe Arbeitsplätze etwa, die zu mehr Mobilität zwingen –, sei der wesentliche Grund, „dass wir schon jetzt während einer Reise auch andere Dinge tun können“. Schon allein der Umstand, dass immer häufiger Wifi in Bussen und Zügen verfügbar ist, habe „unser Verständnis Value for time verändert“.
Solche Zusammenhänge sind ziemlich bedeutsam für ein Land wie Luxemburg, das mit 672 Autos auf tausend Einwohner EU-weit am stärksten motorisiert ist und mit derzeit rund 180 000 die im Europa-Vergleich höchste Grenzpendlerzahl im Verhältnis zur ansässigen aktiven Bevölkerung aufweist. Würde bis Mitte des Jahrhunderts der „1,1-Millionen-Einwohnerstaat“ Realität, den Eurostat vor zwei Jahren aus den Einwanderungstrends der letzten Zeit extrapolierte, dann könnte die Zahl der beruflich Aktiven bis 2050 auf insgesamt 755 000 zunehmen, die der Grenzpendler auf 320 000. So steht es als mögliches Szenario im Kapitel „Mobilität“ des Rifkin-Berichts über die „Dritte industrielle Revolution“ (S. 76).
Für den Rifkin-Bericht wurde auch hochgerechnet, wie sich die Zahl der Fahrten von Zuhause zum Arbeitsort für Ansässige und Grenzpendler voraussichtlich entwickeln könnte: Zum einen, falls der so genannte Modal split zwischen der Nutzung des Privat-PKW, des öffentlichen Transports und der „aktiven Mobilität“ (Radfahren oder Zufußgehen) so bliebe wie heute. Zum anderen, falls im Jahr 2050 etwa 40 Prozent der Fahrten im öffentlichen Transport oder über ein „Sharing“ absolviert würden und jeweils 30 Prozent im eigenen Auto beziehungsweise „aktiv mobil“: Im letzteren Fall würden die PKW-Fahrten gegenüber heute um 18 Prozent abnehmen, obwohl die Zahl der Berufstätigen um 82 Prozent wüchse. Allerdings müsste sich, damit das klappt, die Nutzung von öffentlichem Transport und Sharing mehr als versechsfachen (siehe untenstehende Tabelle).
Car sharing, bei dem man ein Auto nur nutzt, wenn man es braucht; Car pooling, bei dem mehrere Passagiere ein Auto zu gleicher Zeit gemeinsam nutzen, und öffentlicher Transport würden „in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren einen substanziellen Anteil des Verkehrs“ auf sich vereinen, hält der Rifkin-Bericht als Teil einer „Vision für eine intelligente und nachhaltige“ Mobilität in Luxemburg fest. Erreicht werden soll das auch durch „Automatisierungstechniken, die helfen werden, auf Reisenachfragen in Zukunft weitaus flexibler und multimodaler einzugehen“ (S. 75). Aber wenn die Automatisierungstechniken am Ende jedem erlauben, im eigenen selbstfahrenden Auto den zum Ortswechsel nötigen Zeitaufwand zu vergessen – wie realistisch sind dann die Rifkin-Szenarien der „shared mobility“?
Im Nachhaltigkeits-und Infrastrukturministerium koordiniert Gilles Caspar eine interministerielle Arbeitsgruppe, die die Empfehlungen des Rifkin-Berichts zur Mobilität weiterverfolgt. „Was wir auf jeden Fall nicht anstreben“, sagt er, „ist eine Zukunft, in der jeder ein selbstfahrendes Auto besitzt, darin zur Arbeit fährt, und dort angekommen, dem Auto sagt: Jetzt suchst du dir irgendwo einen Parkplatz und heute Nachmittag um fünf Uhr holst du mich wieder hier ab!“ Denn dann würde sich nichts ändern an der „schrecklichen Ineffizienz“ von Privat-PKW: „95 Prozent der Zeit sind sie ungenutzt.“ Die Regierung wolle deshalb die Weichen stellen in Richtung „Mobility as a service“, so Gilles Caspar.
„Mobility as a service“ bieten öffentlicher Transport und Taxis natürlich schon heute an. Car sharing ist ein spezialisierteres Angebot; der Sammeltaxi-Dienst den die Start-up mit ihren kleinen Bussen ankündigt, ist ein weiteres. Das von den CFL für dieses Jahr anvisierte Car sharing an Bahnhöfen geht ebenfalls in diese Richtung, und denkbar wäre, dass eines Tages selbstfahrende Autos an Bahnhöfen und an großen „Umsteigepolen“ bereitgestellt werden oder dass selbstfahrende „Rufbusse“ dort geordert werden können: Mit ihnen könnten in Dörfern Wohnende die „letzte Meile“ nach Hause zurücklegen.
„Es ist aber gar nicht einfach, ein Mobilitätssystem der Zukunft mit selbstfahrenden Autos zu entwerfen“, sagt Francesco Viti. Zum einen, weil sich die Frage stellt, ob die Luxemburger Verkehrsinfrastruktur selbst in dem derzeit geplanten Ausbau um neue Schienenwege und Straßen die richtige sein wird. Zum anderen, weil die Entscheidung, welche Art selbstfahrender Autos demnächst zur Verfügung stehen wird, noch aussteht: „Im Moment konkurrieren zwei Ansätze miteinander“, sagt Francesco Viti, „einerseits ,vernetzte‘ selbstfahrende Autos, andererseits völlig autonome Selbstfahrer“. Die nennt Francesco Viti „Ego-Cars“ (siehe auch S. 28).
Für Luxemburg ist dieser Technologieunterschied kritisch: Vernetzte Autos würden sich wesentlich besser als „Ego-Cars“ in Ansätze einbinden lassen, den Verkehr zu optimieren und Sharing-Angebote zu machen. „Soll das Straßenverkehrsaufkommen sinken, dann ist es ein Muss, selbstfahrende Autos im öffentlichen Transport oder in Sharing-Lösungen einzusetzen“, ist Francesco Viti sicher. Würden die Roboter-Autos vor allem von Privatpersonen besessen, dann dürfte die derzeit schon spektakulär niedrige Besetzung der in Luxemburg verkehrenden PKW mit durchschnittlich nur 1,1 Personen noch weiter abnehmen: „Dann werden sehr viele automatische Fahrzeuge leer unterwegs sein, um jemanden irgendwo abzuholen.“
Deshalb ist die Vernetzungs-Initiative C-ITS der EU-Kommission in ihrer Bedeutung wohl kaum zu überschätzen: Sie will dafür sorgen, dass ab 2019 eine europaweit einheitliche Infrastruktur aus Sensoren und Datenübermittlungsanlagen eingerichtet wird und Standards für Verkehrsdatenflüsse definiert werden. Dadurch soll, wie es in der Ende November vergangenen Jahres veröffentlichten Strategie heißt, ein „tatsächlich multimodales Transportsystem, das sämtliche Transportmodi integriert“, entstehen.
Womöglich aber, meint Francesco Viti, stünden selbstfahrende „Ego-Cars“ am Ende früher zur Verfügung als die Vernetzung Wirklichkeit wird. Das Interesse der Hersteller, eine neue Technologie in den Markt zu drücken, ist auf jeden Fall groß. Der Wille, durch selbstfahrende Autos den Verkehr senken zu wollen, bedarf deshalb gerade in Luxemburg eines politisch langen Atems, und überzeugende Beispiele für eine „andere“ Mobilität müssen her, so rasch es geht. Denn niemand kann sagen, wie viele Leute sich von den „multimodalen“ Angeboten überzeugen lassen werden und auf Autobesitz verzichten; wie viele ein selbstfahrendes Auto werden besitzen wollen, und wie viele lieber selber fahren. Die Vorstellung, dass Roboter-Autos als Zweitwagen angeschafft werden könnten, ist ebenso wenig unrealistisch wie die, dass während einer ziemlich langen Übergangszeit die alte und die neue Technologie auf den Straßen miteinander koexistiert – und das Verkehrsaufkommen alles andere als gering wäre.