„Understand the lay of the land.“ Feist
Es beginnt im Doppeldeckerbus. Auf der Fahrt nach Luxemburg sitzen zwei Männer vor mir, oben in der ersten Reihe, gleich vor den Panoramafenstern. Der Bus passiert die Grenze, und bei der ersten Tankstelle setzt das Knipsen ein. Der linke Typ macht ein einziges Foto: Er zoomt auf die Tafel, die die Spritpreise anzeigt, und drückt ab. Schon ist die Essenz eines Landes eingefangen. Sie prangert in roten Zahlen auf seinem Smartphone: Diesel / 1,08 €. Sein Begleiter wählt die gegenteilige Methode und fotografiert schlichtweg alles. Die Kreuzung, die Schulkinder links am Eck, die Strommasten, das eine abgasgraue Haus weiter vorne, später das andere rußbeschmutzte Gebäude noch weiter vorne – alles gerät ihm zum Bild, weil alles gleich wichtig, alles gleich unwichtig ist.
Wie soll man auch anders auf die kleine hügelige Willkür der luxemburgischen Topografie und Mentalität reagieren? Im Doppeldecker wurden die zwei Enden der Skala gesetzt, zwischen denen wir hierzulande pendeln: ein resignatives Hier-gibt’s-nix und ein manisches So-tun-als-ob. Und die gute Verblendung, die man sich deswegen zulegt, liegt im Mittelmaß, im schalen Zufrieden-Sein, im schwachen Unzufrieden-Sein. Aber eine starke Prägung, eine bleibende Eindrücklichkeit lässt sich diesem Landstrich und seiner Atmosphäre nicht abringen.
Dabei haben so viele Länder ihre Begriffe, beeinflusst von landschaftlichen Eigenheiten: Die Schweizer hegen den Bergfestungsmythos des Réduits, die Portugiesen ihre vom Meeresrauschen induzierte Sehnsucht, die saudade. Die Deutschen stürzen sich tannenbaumtrunken in ihre Waldeinsamkeit, die Dänen pflegen ihre häusliche Gemütlichkeit, die Hygge, die umso stärker wird, je unwirtlicher das Wetter ist. Aber was lässt sich schon denken und sagen über ein Land ohne Berge und Meere? Über die hiesigen Wälder, in denen hinter jedem siebten Baum ein Jäger in seinem tarngrünen Range Rover lauert?
Immerhin, bezüglich der Vokabel langweilig zeigt sich das Luxemburgische erstaunlich flexibel: latzeg, driibseg, flemmseg, driibséileg, verdräbbelt, gaapsereg. Und als wolle selbst Google mir eine algorithmische Bestätigung ausstellen, spuckt die Suchmaschine zu „Latzebuerg“ zahlreiche Ergebnisse aus. Ein automatisch eingelesener Forum-Artikel von November 1990 etwa wird mit „Literatur zu Latzebuerg“ anzitiert. Und, seien wir ehrlich, jeder kennt es doch: Wie man leicht geniert mit seinen ausländischen Gästen vor dem Schießentümpel im Müllertal steht, in der sogenannten Kleinen Schweiz Luxemburgs. Während die einen den Namen belächeln, fragen die anderen nach dem Weg zum eigentlichen Wasserfall.
Zu viel Schinken, zu wenig Geist
Hier und jetzt: der Glacis, vorne, bei diesem kleinen Häuschen. Das Spannendste ist das Versprechen eines Unfalls auf dieser übelst unübersichtlichen Kreuzung. Zwischen den Wolken lugt unverhofft das Blau hindurch. Busse fahren an. Irgendwo dahinten arbeitet sich Europa wund. Mehr ist nicht. Was aber soll mit diesem Tag noch angestellt werden? Umherstreunen ließe sich, an der Kinnekswiss vorbei, Richtung Rue des bains, hinein in die Einkaufsstraßen mit ihrem üblichen Personal. Die asiatischen Shopper vor Louis Vuitton, die man leichtfüßig verlacht, dann die Typen in ihren zu maßgeschneiderten Anzügen, die immer stramm irgendwohin marschieren, zuletzt die éclair-kauenden Damen im Namur – alles sattsam bekannt, alles längst beschrieben.
Über die Hauptstadt und ihren dumpfen Geist wird schon lange geflucht. Norbert Jacques’ Kindheitsskizze Luxemburg von 1908 beginnt mit dem Satz: „Toteninsel – es war eine Befreiung, als wir, noch Knaben, dieses Wort für unsre kleine luxemburgische Heimat gefunden hatten.“ Vier Jahre später schreibt Aline Mayrisch an einen französischen Freund, den sie für einen Vortrag nach Luxemburg einladen wollte: „Je suis un peu gênée de vous le proposer, à cause de la qualité du public qui est fort inculte et vous obligerait sans doute à parler fort au-dessous de votre niveau habituel.“
Mehr als dreißig Jahre später befand der Lyriker Edmond Dune 1946 gegenüber seinem Freund Arthur Praillet in einem Brief, „que le Luxembourg est trop profondément enfoncé dans ses jambons, saucisses et foudres de vin de Moselle, pour garder une faim disponible pour les choses dites de l’esprit.“ Wiederum knapp dreißig Jahre später wurde Roger Manderscheids Stadtportrait stille tage in luxemburg (1973) im Saarländischen Rundfunk ausgestrahlt. Der erste Satz lautet: „Wer nach Luxemburg kommt und die Welt kennt, wird einen Ort finden, der aussieht, als ob da nichts Außergewöhnliches, nichts Erschütterndes beginne, als ob da vieles zu Ende gehe.“ Und seit 2011 kleben uns Serge Tonnar & Legotrip mit ihrem „Laksembörg Sitti, wäry pritty, wäry dout“ in den Ohren wie angetrocknetes Schmalz.
Das ist freilich nur die innere Perspektive. Der Banken-Thriller The International, der 2009 unter der Regie von Tom Tykwer in die Kinos kam, spielt unter anderem in Luxemburg. Dort hat die in den Waffenhandel verstrickte IBBC-Bank ihre Konzernzentrale. Auf den imposanten Luftaufnahmen ist aber nicht Luxemburg-Stadt zu sehen. Die Szenen wurden in der sogenannten Autostadt in Wolfsburg gedreht, einem architektonisch beeindruckenden Vertriebsareal von Volkswagen.
Jetzt, vor mir: der Huelen Zant, ein kaputtes Türmchen, das 1874 zur Fake-Ruine umgebaut wurde, um der Stadtsilhouette einen kleinen dekadenten Touch zu geben. Auch die Infotafel klärt nicht darüber auf, wie aus diesem pseudo-historischen Brocken ein nationales Symbol werden konnte. Unter meinen Füßen winden sich die Kasematten, modrige Gänge für Touristen mit ausgeprägtem Höhleninteresse. Der einzige Mythos, der in die muffige Dunkelheit versenkt wurde, raunt von einem Tresor der Spuerkeess, in dem nach wie vor Gold gelagert werde. Zu mehr gereicht die hiesige geldzugedröhnte Phantasie nicht.
Weg von hier, egal wie
Dieses Ungenügen an der eigenen Landschaft und ihrem Zentrum ist nicht nur ein künstlerischer Spleen. Tatsächlich flieht Luxemburg seit Jahrhunderten vor seiner Karg- und Kleinheit, kurzum: vor sich selbst. Als der Landstrich noch bitterarm und nicht industrialisiert war, wanderten zwischen 1841 und 1891 circa 72 000 Einwohner aus. Später wurden dann Stollen in die Terres rouges gehauen, Minen und Schächte ins Erdreich hineingebohrt. Es galt: weg von der öden Oberfläche, hinab in die reichhaltige Tiefe des Bergbaus. Heute mag sich die Wirtschaft verändert haben, die Fliehkräfte aber sind ähnliche. Es sind Glasfaserkabel und Clouds, die die Banken und Beraterfirmen binnen Nanosekunden mit der Welt verbinden. In Zeiten globalen Wirtschaftens kann der Überdruss gegenüber dem Lokalen als Trumpf verkauft werden: Wir sind dynamisch, wir sind offen, wir schicken Datensätze um den Globus, auch, um mit unseren Gedanken nicht immerzu hier sein zu müssen. Wer bereits das Unten ausgehöhlt und das Weite gesucht hat, dem bleibt eine letzte Geste: nach oben, hinauf ins Weltall. Die Space-Ressources-Initiative ist in diesem Sinne das finale Element der ökonomischen Dreifaltigkeit – und das letzte Eingeständnis, wie latzeg es hier ist. Die Bewegung bleibt grundsätzlich dieselbe, lediglich ihre Richtung wird adaptiert: weg von hier, diesmal hoch zu den Sternen.
Wie weit hier das Streben nach dem Woanders und die bittere, biedere Realität auseinanderliegen, zeigt ein Foto auf der staatlichen Website von Space-Ressources. Zu sehen ist der Knuedler bei Nacht, mit dem Rathaus, der Reiterstatue sowie einem imposanten Sternenhimmel samt vor sich hin glänzender Milchstraße. Es zeigt eine nächtliche Aussicht, wie sie nie und nimmer von hier aus zu sehen wäre. Zu viele Kräne, zu viel Lichtverschmutzung. Vor allem liegt dem Foto eine absurd falsche astronomische Darstellung zugrunde. Es ist Pfusch am Bild, im Dienste der Zukunft. Nein, der Himmel über Luxemburg ist ein anderer, oft ist er gefahrlos grau, hin und wieder auf okaye Weise blau. Auch jetzt, vor der Brasserie Guillaume, die halbtoten Hummer im Rücken, fällt einem keine treffende Farbe ein, am ehesten irgendetwas zwischen verwaschenem Handtuchweiß und dem matten Grau ungepflegter Nägel.
Die Kartografie der Langeweile
Die Gëlle Fra ragt auch heute starr und stolz in die Höhe. Ein wenig ratlos wirkt sie, dort oben, den Blicken und dem Regen ausgesetzt. Ja, wer trübt hier überhaupt die Stimmung? Der Gelangweilte oder die ihn langweilende Umgebung? Wäre mehr Fairness, weniger grantiger Unmut angebracht? Erwähnte Stahl-, Banken- und Weltraumindustrie stehen schließlich auch dafür, wie produktiv Langeweile sein kann, wie erfinderisch sich die Luxemburger geben – und das nicht erst seit dem neuen Nation-Branding-Clip, der nichts anderes tut, als uns einen Vogel zu zeigen. Vielleicht gilt das ja auch in ästhetischen Belangen? Vielleicht besteht die hiesige künstlerische Aufgabe, wenn es so etwas denn überhaupt gibt, darin, Latzebuerg zu kartografieren? In Let there be rock, einem Song der Band Tocotronic, singt Dirk von Lowtzow: „Wir haben gehalten / in der langweiligsten Landschaft der Welt. / Wir haben uns unterhalten / und festgestellt, dass es uns hier gefällt.“
Wer Kritik an Manderscheids stille tage in luxemburg üben will, sollte an dieser Stelle ansetzen, nicht das blamable Argument des „Nestbeschmutzers“ bemühen, wie es Léon Zeches nach Erscheinen des filmischen Stadtporträts 1973 im Luxemburger Wort tat: „Möchte der Vogel denn nicht, nachdem er sein Nest beschmutzt hat, flügge werden und die Stätten verlassen, in denen aber auch gar nichts das Leben lebenswert zu machen scheint?“ Vielmehr ließe sich Manderscheid entgegnen: Langeweile, na und? Es gibt weitaus schlimmere Zustände, gerade in dieser Zeit der neuen Unübersichtlichkeit. Lieber das enge Feld beackern, statt sich zu beschweren. Denn die Langeweile wird diesem Landstrich nicht ausgetrieben werden, sie ist ihm eingeschrieben als Mentalitätstattoo. Und, wer weiß, es gilt zu hoffen: Womöglich lässt sich gerade zwischen dem hiesigen Dösen und Dahinleben besonders gut schlafwandeln. Tatsächlich hält das Luxemburgische, endlich mal, ein Wort bereit, welches das Denken und Sprechen aus dieser fiebrigen Langeweile meint: fuebelen.