Wissen aufbewahren

Digitale Veralzheimerung

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2010

Ab und zu stößt man beim Räumen auf eine Schachtel mit einigen Computerdisketten. Um dann feststellen zu müssen, dass am neuen Computer überhaupt kein passender Schlitz mehr für solche Disketten ist. Die auf den Disketten aufgehobenen Texte, Tabellen und Fotos sind binnen weniger Jahre praktisch unbrauchbar geworden. Vielleicht hilft noch der Erwerb eines externen Laufwerks.

Dabei ist es erst drei oder vier Jahre her, dass wir unsere privaten und die meisten beruflichen Texte und Tabellen auf solchen Disketten abspeicherten. Zuletzt waren es kleine 3,5-Zoll-Disketten mit Blechschiebern, zuvor biegsame 5,25-Zoll-Disketten in Pappumschlägen, und die PC-Pioniere speicherten in den Achtzigerjahren ihre Daten und Programme sogar auf Musikkassetten, die heute nicht einmal mehr benutzt werden, um Musik zu hören.

Passt die Diskette noch in den Computer, muss man oft feststellen, dass all die neuen, bunten Programme nicht mehr in der Lage sind, die alten Texte zu lesen. Denn selbst das Allerweltsprogramm Word ist seit seiner Einführung 1983 so oft geändert und weiterentwickelt worden, dass es Texte, die in seinen Frühversionen verfasst wurden, nicht mehr erkennt oder fehlerfrei öffnet. Dies gilt besonders für hierzulande geschriebene Texte mit ihren französischen Akzenten und deutschen Umlauten. Mit viel Geduld und etwas Geschick lässt sich vielleicht eine exotische Programmerweiterung finden, um die alten Daten zu lesen.

Aber vielleicht erkennt der Computer die Diskette auch gar nicht, weil ihre magnetische Beschichtung sich im Laufe der Jahre diskret in ihre Bestandteile zersetzt hat, auch wenn das Plastikgehäuse bloß etwas vergilbt ist. Wahrscheinlich waren auf der einem natürlichen Alterungsprozess zum Opfer gefallenen Diskette Sicherheitskopien. Die Originaltexte befanden sich auf der Festplatte des alten Computers, der schon vor zehn Jahren und mit ihm all seine Daten verschrottet wurde.

So sieht der Alptraum aller Hobbyfotografen aus, die Zehntausende digitale Familienfotos für die Enkel aufzuheben versuchen. Doch noch größer sind die Probleme, die sich dem Staatsarchiv, der Nationalbibliothek, den Forschungszentren, der Universität, den Verwaltungen, den Unternehmen und anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen bei der Archivierung von Computerdaten stellen. Denn die Digitalisierung ist eine großartige Technik, um Daten schnell zu verarbeiten und zu verbreiten, aber eine miserable, um sie langfristig zu konservieren.

Der im April 2005 von der Regierung verabschiedete Plan directeur de la gouvernance électronique sieht vor, dass nicht mehr länger das Papierdokument als Original und die digitale Version als Kopie betrachtet wird. Vielmehr sollen alle Dokumente im Staat künftig elektronisch sein und als solche aufbewahrt werden. Auf Papier werden dann lediglich Ausdrucke für den kurzfristigen Gebraucht gemacht und anschließend weggeworfen, das rechtsgültige Original ist elektronisch. Bei der Durchsetzung dieser Politik wird sich aber derzeit mehr mit der elektronischen Signatur von Dokumenten und dem Schutz der Computeranlagen vor Terroranschlägen beschäftigt als mit dem durch den technischen Fortschritt verursachten Verschleiß.

In Luxemburger Archiven und Biblio­theken lagern Hunderte von handschriftlichen Urkunden, die 600 oder 700 Jahre alt, Tausende von gedruckten Büchern, die 300 oder 400 Jahre alt und lesbar geblieben sind wie am ersten Tag. Alles spricht dafür, dass sie es auch noch in 300 oder 400 Jahren sind. Die durchschnittliche Haltbarkeit einer mit eigenen Daten gebrannten CD-Rom oder einer Diskette wird dagegen mit fünf bis zehn Jahren angegeben. Eine gepresste CD mit Computerprogrammen aus dem Handel soll vielleicht 50 Jahre alt abspielbar bleiben. Ob eine DVD ebenso alt wird, kann niemand sagen, weil es sie erst seit Mitte der Neunzigerjahre gibt. Magnetbänder sollen 30 Jahre alt werden, aber viele Videokassetten sind bereits nach wenigen Jahren unbrauchbar, insbesondere wenn die Konservierungsbedingungen nicht optimal sind. Auch externe Wechsellaufwerke sollen es auf 30 Jahre bringen, während interne Festplatten im Dauereinsatz selten älter als fünf Jahre werden. Ein USB-Stift hält zwischen drei und zehn Jahren, die Version als Werbegeschenk ist erfahrungsgemäß nach wenigen Monaten kaputt.

Hinzu kommt, dass auch die Datenformate obsolet werden, weil sie durch neuere Versionen ersetzt werden, die Firmen, welche die dazu passendem Programme herstellen, die Programme ändern oder ersetzen oder die Firmen von der Konkurrenz übernommen werden oder in Konkurs gehen. Die Abgeordnetenkammer, das Handelsregister, der Service central de législation und die Nationalbibliothek betreiben ehrgeizige öffentlichen Digitalisierungsprogramme, um Dokumente und Druckwerke zu digitalisieren, damit sie über Internet zugänglich werden und vor Abnutzung durch den ständigen Gebrauch geschützt werden. Dazu werden die Originale meist im Bildformat TIFF (Tagged Image File Format) aufgenommen und ins Dokumentenformat PDF kopiert, zwei der kalifornischen Firma Adobe gehörenden Normen, die folglich auch über deren Zukunft entscheiden wird.

Um Daten langfristig zu sichern, ist es also nicht nur nötig, Sicherheitskopien anzufertigen, um gegen einen Totalabsturz, ausgebrannte Laufwerke und Feuersbrünste gewappnet zu sein. Die gesamten Datenbestände müssen auch in relativ kurzen Abständen auf neue Datenträger kopiert werden, weil die alten Speichermedien und Computerprogramme vom Markt verschwinden. Je mehr Dokumente aber elektronisch archiviert werden, um so größer ist der Aufwand für regelmäßige Konvertierungen.

Ein wachsender Teil des Schriftverkehrs von öffentlichen Einrichtungen und Privatfirmen geschieht inzwischen mittels E-Mails. Aber anders als bei Briefen, die meist in Aktenordnern aufbewahrt und in irgend einem Keller verstaut werden, gibt es längst nicht überall Richtlinien über die Konservierung von E-Mails, die oft der Delete-Taste zum Opfer fallen.

Anders als Bücher und Zeitschriften, die dank ihrer hohen Auflagen meist in dem einen oder anderen Exemplar überleben, verschwinden auch Internetseiten, wenn die Autoren oder Server vom Netz gehen. Das großherzogliche Reglement vom 6. November 2009 über den „dépôt légal“ dehnt die Pflichtabgabe von Büchern und Zeitschriften in der Nationalbibliothek erstmals auf „les publications sans support matériel mises à disposition du public à travers un réseau électronique, notamment les sites et contenus Internet” aus. In der Praxis fehlt es aber an Menschen und Material, um den nationalen Teil des Internets zu archivieren. Das Material aus der Pionierzeit Anfang der Neunzigerjahre ist bereits verloren.

Romain Hilgert
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