„Fuck off“: Mit diesen unmissverständlichen Worten reagiert die lässig gekleidete Darstellerin Grace im Verlauf des zweiten Castings auf die Forderung des Regisseurs, die Anbetung ihres fiktiven Bräutigams mit einem „sexy Twist“ zu unterlegen. Zu Beginn des Theaterabends trat sie noch völlig devot und verunsichert im Brautkleid mit Rosenstrauß vor die Casting-Jury. Zwischen Prolog und Epilog klaffen die Abgründe eines alten, veralteten, zeitweise pervertierten Frauenbildes, mit dem sich die Hauptfigur konfrontiert sah und auseinandergesetzt hat.
Es hätte mehr sein dürfen, doch liegt in der Kürze bekanntlich die Würze. Zumindest passt diese abgelutschte Redewendung auf die kurze und kurzweilige One-Woman-Show Lovefool der in Litauen geborenen Regisseurin und Schauspielerin Gintare Parulyte. Sie bietet der kroatisch-amerikanischen Darstellerin Kristin Winters in der Rolle der Grace die Gelegenheit während einer knappen Stunde die Biografie ihres Alter Ego in Rückblenden Revue passieren zu lassen. Die Vergewaltigung durch den Vater reiht sich ein in den Sumpf aus Alkoholismus und Selbstaufopferung, die Entwürdigung beim morgendlichen Quickie mit einem Musiker, der die Schauspielerin seelisch und finanziell ausnimmt, das wiederholte Ritzen an der immer gleichen Stelle, um die Schmerzen eines ganzen Lebens zu überlagern. Der einzige, der ihr noch Aufmerksamkeit schenkt, ist ihr shrink, ihr Psychologe, reduziert auf eine regelmäßig eingeblendete, väterliche Stimme. Seine skurrilen Methoden bleiben so zweifelhaft wie wirkungslos.
Klingt nach tragischem Stoff. Immerhin wird die thematische Gravität formal mit Filmaufnahmen aus der guten alten Zeit und Zeugenberichten vertieft. Darin fällen Frauen ein Urteil über ihre Väter: In ihren Erinnerungen waren Alkoholismus, Missbrauch und Selbstsucht Motor für eine gescheiterte Vater-Tochter-Beziehung.
Parulyte schafft es jedoc
h durch den Text, dem Abend Leichtigkeit, Komik und Schwung abzugewinnen. Ein Highlight ist der anfangs eingeblendete Auszug einer US-amerikanischen, an Mädchen gerichteten Aufklärungsreihe aus den 80-er-Jahren, deren religiöser Puritanismus das Publikum auflachen lässt. Schließlich sei die menschliche Sexualität vom feuchten Traum zum langen, sehr langen Kuss bis hin zum Ejakulat, das sich in den weiblichen Körper vorwagt, von Gott höchstpersönlich abgesegnet. Was wie aus der Zeit gefallen wirkt, prägt heute noch das Meinungsbild so mancher Landstriche. Ein weiteres Highlight sind die Audio-Mitschnitte von deutsch-, luxemburgisch- und englischsprachigen Kindern über deren Vorstellung einer guten Frau: Sie sei immer nett, spiele gern mit Kindern und sage immer zu allem Ja. Und trage dazu – wen wundert’s – langes Haar. Szenen dieser Art erweitern die Handlung ins Groteske.
Diskussionen rund um Gender-Fragen stehen nicht selten im Verdacht, humorbefreit zu sein. Kristin Winters schafft es mit ihrer feinen Mimik und rhetorischen Frische über weite Strecken, Lovefool bei allem Ernst eine urkomische Note zu verpassen, ohne dass einem dabei das Lachen im Halse stecken bliebe.
Im Kontext einer überaus politisierten Thematik bietet Parulyte dem anwesenden Publikum auch auf dreifache Weise die Möglichkeit, Teil der Debatte zu sein. Zum einen richtet sich Winters in ihrer Rolle als Darstellerin nahezu ständig an die Zuschauer und bricht damit die vierte Wand. Auch sind einige der mimischen Überreaktionen als auflockerndes Kommunikationsmittel mit den Anwesenden zu verstehen.
Zudem hält sie handgeschriebene Din-A2-Zeichenblätter in die Menge, um ihre biografische Selbstfindung zu dokumentieren und ein weiteres Mittel des Verfremdungseffekts zu nutzen. Kritisch ist hier einzuwenden, dass diese Aufschriften aufgrund des ebenen Publikumsbereichs weitestgehend von den vorderen Zuschauern verdeckt und damit unlesbar bleiben.
In einem letzten, interaktiven Schritt nähert sich Winters der vorderen Reihe und wendet sich mit persönlichen Fragen ans Publikum. Man solle die Hand heben, habe man je Angst vor dem eigenen Vater gehabt. Man solle antworten, ob man je suizidalen Gedanken nachgehangen habe. Es solle aufzeigen, wer eine solche Person zumindest kenne. Parulyte lädt den Zuschauer zur Konfrontation mit den eigenen, intimen Ansichten und Erfahrungen ein, die mancher nur allzu gern unter den Teppich kehren möchte.
„When I came back from my AA-meetings, I bought some AA-batteries to replace them in my dildo. I hate when things don’t work“: Bei aller Tristesse entlässt das Ensemble am Théâtre National du Luxemburg das Publikum mit einem Gefühl der Leichtigkeit in die Nacht. Die herrlich aufgelegte Solo-Darstellerin verpasst dieser multimedialen Kollage einen spritzigen und entkrampften Twist.