Der achtminütige Opener von Horror Vacui, der neuen CD der Kitshickers, stimmt nicht nur perfekt auf die allgemeine Stimmung des Albums ein, sondern gibt auch zu verstehen, dass hier nichts übersprungen wird. Die explodierenden, monumentalen Gitarrenakkorde und die Soli muss man sich mit ein wenig Geduld verdienen. Viele der zwanzig (!) Songs behandeln soziopolitische Themen, die oft mit Soundsamples betont werden.
So auch sin 180, in der eine Männerstimme uns von seinen Erfahrungen mit Prozac, dem weltweit beliebtesten Antidepressivum, erzählt. Das Tempo des Stückes ist schleifend und passt so ganz gut zum Thema der mit Pillen zugedröhnten Massen. Die Wärme der sich immer wieder wiederholenden Gitarrenmelo-dien klingt jedoch, als würde die Band sich um diesen Stand der Dinge ehrlich Sorgen machen.
Lokavibha?ga.0 setzt die gleiche Stimmung fort, die Gitarristen Gilles Heinisch und Boris Schiertz liefern später allerdings einen dichten Gitarrenwall, der nach den sich wiederholenden Sätzen der Audioaufzeichnung für Abwechslung sorgt. Erfrischend lauter geht es auf Lokavibha?ga.1 vor sich. Fabrice Men-nuni, Sänger der Band Cosmogon, kritisiert hier die „seelenlosen Massen“ mit sehr effektiven Growls. „Rise my friend and raise your fist. From ashes to monuments. Step out of the mist“, fordert er, schwere Gitarren stimmen ihm zu. „Once upon a time, they lived happily never after“, endet das dunkle Märchen der modernen, gescheiterten Gesellschaft.
Ja?a? ist wohl eines der nettesten Titel in der Tradition des religionskritischen Metals, denn statt den Beelzebub mit Corpse Paint und Splatter-Fantasien zu huldigen, lassen die Kitshickers wieder ein Audio-Sample reden. „I don’t like him“ wiederholt hier eine Stimme, die Gott eine „schreckliche Persönlichkeit“ nennt. Das Zusammenspiel von Geigen und Piano betont dieses Gefühl mit schaurig-schönen Melodien, die eigentlich perfekt in einen Horrorfilm passen würden.
Auf Siddhanta und Brahmasputha spricht Severn Suzuki, ein zwölfjähriges Mädchen, das 1992 mit ihrer Rede auf der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung Delegierte zu Tränen rührte. Ihre Kritik ist auch heute noch so aktuell wie damals, und es überrascht nicht, dass Kitshickers auf ihrer sozialkritischsten Platte auch dieses Audiosample benutzt.
Sunya, einer der Höhepunkte der Platte, liefert knackige Riffs und dreckig-verzerrten Growl-Gesang von Raph Altmann (von The Majestic Unicorns from Hell), der scheinbar die Kriegsmaschine kritisiert. In den Audio-Samples hört man zuerst ein Ausschnitt eines Sci-Fi-Films der Achtziger, danach ein aufgebrachter Sergeant, der in New York während der Räumung eines Occupy-Protestes gegen eine Gruppe New Yorker Cops wetterte, die wegen ihres brutalen Vorgehens kritisiert wurden.
Error bietet eine Auszeit von den beunruhigenden Themen. Das Stück klingt erstaunlicherweise sehr erhebend, mit einhüllende Echo und den umarmenden Melodien. Haben die Kitschickers vielleicht doch noch Hoffnung in die Menschheit?
Horror Vacui, heißt auf deutsch „die Angst vor der Leere“. Die Kitshickers haben zu ihrem 15-jährigen Bandbestehen auf jeden Fall ein komplettes, vielschichtiges Konzeptalbum geliefert, das allerdings thematisch fast keine Atempause erlaubt. Die sozialkritische Einstellung der Musiker ist natürlich zu begrüßen, vor allem weil dieses Phänomen ein seltenes ist in der luxemburgischen Musikszene. Muss man jedoch noch einmal ein Audio-sample über Prozak, Kapitalismus und Ozonlöcher hören, wenn einige dieser Samples bereits in viralen Videos etliche Runden gemacht haben? Nach den fast 100 Minuten bestehen keine Zweifel, dass man gerade ein anspruchsvolles Werk von sehr talentierten Musikern gehört hat. Leider wird man auch das Gefühl nicht los, eine Moralpredigt erteilt bekommen zu haben.
Doch Kitshickers hatten nie die Absicht, unterhaltsame Feierabendmusik zu schreiben. Die Band hat ihr eigenes Universum aufgebaut, das mit einem Durchlauf auf keinen Fall vollständig zu erkunden ist. Sie fordert Konzentration und Geduld von ihren Zuhörern, was sie im Titel [] durch die Stimme von Jiddu Krishnamurt, einem indischen Philosophen, ausdrücklich erklären. The quality of listening is attention, gibt dieser zu verstehen.
Die vier erfahrenen Musiker beherrschen ihr Handwerk, wechseln makellos von Noise auf Metal, um dann wieder ruhigere Töne anzuschlagen. Gastmusiker wie Jazzpianist Jérôme Klein und Didjeridoospieler Brave sorgen für eine Diversität, die selten zusammen auf einer Platte zu hören ist (das Cellosolo von Lisa Berg auf /dev/null darf man sich auf keinen Fall entgehen lassen). Horror Vacui wird Metalfans und Indie-Rockern, die Geduld, und ein offenes Ohr für die aktuellen Probleme der Menschheit haben, jedenfalls gefallen.