Die großen Fensterscheiben des Panoramarestaurants auf dem Findel geben den Blick frei auf die Flugzeuge, die im gleißenden Schein der Flutstrahler auf Passagiere warten, auf die Tankwagen, die durch die Dunkelheit kreuzen, die vermummten Techniker, die, weit entfernt, durch die Kälte eilen.
„Was steht besser für einen Neuanfang, für Abheben, als ein Flughafen?“, fragt Marc Wagener. Er sitzt ohne Jacke im rosa Hemd da, an der Krawatte ein Button „2030“. Tagsüber arbeitet Marc Wagener in der Abteilung Wettbewerbsfähigkeit und statistische Studien der Handelskammer. Doch am Dienstagabend trat er noch einmal als Generalkoordinator der „flotten Initiative“ 2030.lu – ambition pour le futur auf. Zusammen mit drei jungen Kollegen sitzt er auf steilen, nicht ganz bequemen Barhockern. Die vier spiegeln seiner Ansicht nach „die Vielfalt der Luxemburger Gesellschaft“ wider, zumindest von der Hautfarbe und dem Geschlecht her.
Im Publikum stehen dagegen emsige Mittelständler, Beamte des Wirtschaftsministeriums, Vertreter von Unternehmerorganisationen, einige vorwitzige Rentner, ein Gewerkschaftsfunktionär, die Inhaber der beiden Werbeagenturen, die seit Monaten für 2030 arbeiten. Eine junge Frau filmt mit einer schweren Profikamera das Geschehen, eine andere räumt eine mit „Presse“-Schildern reservierte Stuhlreihe mangels Interessenten wieder ab. Alle lächeln sich ständig freundlich zu.
Man sei zusammengekommen, um Bilanz zu ziehen, so Marc Wagener. Denn vor sieben Monaten habe „ein einzigartiger Prozess“ begonnen, um Ideen zur Lösung der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme im Land zu suchen. „Zwanzeg-drësseg“ sei eine „Plattform von Bürgern für Bürger gewesen, um Einfluss auf die politische Arena zu nahmen“. Nun werde dieser Prozess mit einem schönen Buch abgeschlossen, in dem 355 Ideen für die Zukunft des Landes gesammelt seien.
Weshalb gerade ein Monat nach den Wahlen der Augenblick gekommen sei, um Schluss zu machen und Bilanz zu ziehen, verrät Wagener nicht. Das Wort „Wahlen“ fällt überhaupt nicht, bis es am Ende der Veranstaltung aus dem Publikum kommt. Ein Mann sorgt sich, dass das schöne Buch zu spät herauskomme, da die Koalitionsverhandlungen nun so gut wie gelaufen seien. Auch Wagener bedauert und erklärt, dass im Frühjahr, bei der Gründung von 2030, geplant gewesen sei, das Buch ein halbes Jahr vor den Wahlen zu veröffentlichen. Doch die vorgezogenen Wahlen hätten der Initiative einen Strich durch die Rechnung gemacht. Trotzdem sei 2030 „ein formidables Werk“ geworden mit einer virtuellen Herangehensweise für Jugendliche, seinen institutionelleren Veranstaltungen und seinen 30 Experten in Workshops.
Prompt spielen zwei Techniker, die neben dem Tresen ein Mischpult installiert haben, ein pompöses Video ab. Ein großer Flachbildschirm zeigt einen gut gelaunten, aber um die Zukunft des Landes besorgten Schaupieler und Conférencier. Im Rhythmus der Muzak montierte Bilder erinnern an die Workshops zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, zur Landesplanung und zur Wirtschaft. Dazwischen Satzfetzen begeisterter Teilnehmer, Schwenks über die Großveranstaltungen in Luxemburg und Esch und schließlich Szenen aus der Wahlkampfveranstaltung mit vier Spitzenkandidaten in der Rockhal. Zu den Veranstaltungen hatten sich 1 450 Leute eingeschrieben, erfahren die Zuschauer, die Internetseite wurde 25 847 Mal besucht, 450 Leute hatten die Newsletter abonniert und auf Facebook erhielt die Initiative 1 376 „Like“.
Marc Wagener ist glücklich. Aber er will den Erfolg von 2030 gar nicht für sich beanspruchen. Es sei „eure Initiative“ gibt er zurück ins Publikum. „Eigentlich“ möchte er sich „auch bei meinem Chef bedanken“, der Handelskammer, die mit ihren finanziellen und personellen Mitteln „bloß diese Diskussionsgelegenheit zur Verfügung gestellt“ habe, ohne sie zu beeinflussen. In „völliger Transparenz und Offenheit“ seien die Diskussionen gelaufen.
Allerdings haben Transparenz und Offenheit ihre Grenzen. Wieviel die Handelskammer sich all die Großveranstaltungen, Workshops, Videos, Arbeitsstunden, Werbeagenturen und Meinungsumfragen kosten ließ, will er auf Nachfrage nicht sagen. Das habe aber „keine Millionen und Abermillionen“ gekostet, auch wenn es „natürlich nicht kostenneutral“ gewesen sei.
Nur „sexistische, homophobe und rassistische Kommentare“ seien zensiert worden, stellt Jérôme Merker klar. Er arbeitet mit Wagener in der Abteilung Wettbewerbsfähigkeit und statistische Studien der Handelskammer. Während im Hintergrund synthetische Gongtöne Durchsagen der Flughafenverwaltung ankündigen, unterstreicht er mit pointierten Handbewegungen, wie einmalig das Sprachrohr gewesen sei, das die Leute zur Verfügung gestellt bekamen, welch hochmoderne Technik für die interaktive Internetseite benutzt worden sei.
Nathalie Wiersma, Praktikantin in der Handelskammer, rechnet vor, dass nach den „glorreichen Nachkriegsdreißigern“ und den späteren „prächtigen Zwanzigern“ Krise herrsche, mit ausbleibendem Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, steigenden Immobilienpreisen, Verkehrsstaus und hoher CO2-Belastung. Wenn alle Menschen wie die Luxemburger lebten, „bräuchten wir sechs Planeten“, klagt sie. Im Jahr 2030 sei die Hälfte der Landesbewohner Ausländer und die Renten unbezahlbar. Die Lage sei nicht nachhaltig, also seien dringend Ideen für ein nachhaltiges und gerechtes Luxemburg gefordert.
355 solcher „Ideen, keine Lösungen“, so Michel-Edouard Ruben, der ebenfalls in der Wirtschaftsabteilung der Handelskammer arbeitet, sind nun in dem weiträumig verteilten Buch 355 idées pour l’avenir du Luxembourg. Le Luxembourg à l’horizon 2030: des défis, une ambition... et des solutions gesammelt. Es soll den krönnenden Abschluss von 2030 darstellen. Die während der Veranstaltungen und über Internet gesammelten Ideen seien nicht bewertet worden, es sei den Lesern überlassen, was sie damit anfingen. Manche Ideen seien sicher vernünftiger als andere, aber es sei nicht Sache von 2033, sich ein Urteil darüber zu bilden.
Wichtig aber sei, so Ruben, dass die Ideen zeigten, wie bewusst sich die Bevölkerung der Notwendigkeit von Veränderungen sei. Auch dass diese Veränderungen nicht unbedingt Leiden verursachten, aber die Leute doch vor einschneidende Entscheidungen stellen würden.
Bis sie vom Sturz der Regierung überrascht wurde, war es das Hauptanliegen von 2030, für politische Veränderungen zu werben und den als lethargisch angesehenen Politikern den Wunsch der Bevölkerung nach einem Wechsel entgegenzuhalten. Triumphierend hatte die Initiative im Juni die Ergebnisse einer von ihr in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage veröffentlicht, laut der 94,8 Prozent der Befragten Veränderungen und Reformen für notwendig hielten. Einen Monat später schien sie ihr Ziel erreicht zu haben, als die von liberalen und Unternehmerkreisen für das Haupthemmnis jeder Veränderung gehaltene Regierung Juncker-Asselborn stürzte. Als dann auch noch im Oktober eine Koalition der DP mit einem als Mann des liberalen Wechsels auftretenden LSAP-Wirtschaftsminister und den Grünen wurde machte, konnte 2030 „Auftrag erledigt“ melden. Auch wenn es schwer einzuschätzen ist, welchen Anteil 2030 am Regierungswechsel hat.
Das Missverständnis war also unvermeidlich. Das aus den letzten bedingungslosen Anhängern zusamengesetzte Publikum verstand am Dienstag nicht, weshalb die Initiative nun abrupt aufhören soll. „Nicht aufhören, weitermachen!“, verlangten die Zuhörer. Eine Frau im Habitus der adretten Geschäftsfrau meuterte am anderen Ende des Saals zwischen dem Getränketisch und den diskreten Zimmerpflanzen: „Sie haben etwas aufgebaut, etwas ausgelöst. Das können Sie nun nicht fallen lassen.“ Denn „wir sind 2030!“ Das habe Generalkoordinator Marc Wagener den Leuten mehrmals versichert. Aber der gab nicht nach.