d’Land: In Ihrem Vortrag haben Sie den Untergang der Nationalstaaten prophezeit. Woher nehmen Sie diese Weitsicht?
Robert Menasse: Man muss kein Hellseher sein, um zu begreifen, dass unser Weltbild umgestürzt werden wird. Die Welt der Nationalstaaten geht zu Ende. Das ist politisch eine Wende, die vergleichbar ist mit dem Übergang vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild. Papst Urban VIII., der Galileo verhaften ließ und zum Widerruf zwang, sagte, man könne nicht mit einem Fernrohr eine Religion aus den Angeln heben. Urban VIII. war ein hochgebildeter Mann, aber heute weiß auch der Dümmste: Galileo hatte recht. Und wie ist das Weltbild heute? Es kann sich kaum einer eine Welt oder zunächst einmal Europa ohne Nationalstaaten vorstellen. Aber mit Galileos Fernrohr sieht man die Realität vergrößert – und da sieht man, alle Phänomene sind transnational: die Finanzströme, die Nahrungskette, die ökologischen Probleme, der Informationsfluss und die Bedrohung der Bürgerrechte durch das Internet. Nur die Politik beharrt auf nationaler Souveränität. Wir haben in der EU einen gemeinsamen Markt, eine gemeinsame Währung, die Globalisierung zertrümmert alle nationalen Grenzen, aber wir haben noch keine nachnationale Demokratie. Das ist ein unproduktiver Widerspruch, und alles, was wir heute Krise nennen, ist Folge dieses Widerspruchs. Man kann trotzig auf nationaler Souveränität bestehen, aber keine Nation wird auch nur eines der transnationalen Phänomene innerhalb ihrer Grenzen regeln oder an den Grenzen abhalten können. Also ist klar: Die Nationen werden sterben.
In der EU erleben wir aber ganz gegenläufige Tendenzen. Ein „gemeinsamer Markt“ ist eine abstrakte Größe, die Menschen im Alltagsleben wenig motiviert. Was hält die EU abseits von Wirtschaftsinteressen heute zusammen, wenn es noch nicht einmal eine europäische (Tages-)Zeitung gibt?
Erstens genau das: Wirtschaftsinteressen. Niemand, weder Shareholder noch Arbeiter, hat Interesse an rauchenden Trümmern, durch die Menschen ohne Kaufkraft kriechen. Zweitens, und wesentlich: die historische Vernunft – die sogar stärker ist, als alle gegenwärtigen ökonomischen Interessen. Denn die EU ist das erste politische Organisationsmodell in der Geschichte, das nicht in erster Linie ökonomischen Interessen entspricht, sondern dem Anspruch der Menschenrechte. Zuvor waren Menschenrechte nicht universell, jeder beanspruchte sie für sich mit dem Argument, dass seine Nation sie sichern müsse, gegen andere. Das war der Nationalismus als Fiktion von Solidargemeinschaft. Er hatte seine Zeit – und wir kennen die Konsequenzen: Millionen Tote, ein Dreißigjähriger Krieg, rauchende Trümmer, die größten Verbrechen gegen die Menschheit, bis hin zu Auschwitz. Das europäische Einigungsprojekt aber ist universal, es kann mit jeder denkbaren Wirtschaftsform funktionieren. Wir brauchen „europäi-
sche Zeitungen“ so wenig wie nationale Zeitungen – wir brauchen Europäer in den Zeitungen.
Ihre Vision wirkt aktuell sehr utopisch. In der Realität nimmt doch in Europa der Nationalismus zu, sind Rechtspopulisten im Auftrieb.
Wir feiern in Europa jetzt 60 Jahre nachnationale Entwicklung. Das ist ein reales historisches Faktum, an einem konkreten Ort. Es ist aber ein unvollendetes Projekt. Es ist steckengeblieben in diesem Widerspruch: Die supranationalen europäi-
schen Institutionen können Probleme noch nicht lösen, die nationalen Regierungen können es nicht mehr. Die nationalen Regierungschefs verweigern Souveränitätstransfer an die Gemeinschaftsinstitutionen. Anschließend sagen sie, dass Europa nicht funktioniere und wir deshalb wir nationale Lösungen bräuchten. Die funktionieren natürlich auch nicht, es kommt zum nächsten Krisengipfel in Brüssel, dort gibt es keine Einigkeit, also verkünden sie erst recht die Notwendigkeit nationaler Lösungen, die natürlich wieder nicht funktionieren ... Die Wähler sagen: Diese Vertreter unserer Nation sind nicht konsequent genug, wir brauchen konsequentere Nationalisten. Diese scheitern natürlich auch, also wollen die Menschen noch radikalere Nationalisten als Vertreter ihrer „Interessen“. Das ist eine Spirale, die im Faschismus endet. Die dringlichste politische Aufgabe muss darin bestehen, diese Dynamik zu stoppen.
Wie wollen Sie diese Spirale durchbrechen?
Voltaire hat gesagt: Lügen können politisch hilfreich sein. Aber wenn sie nicht mehr helfen, dann gibt es eine verblüffende Lösung: die Wahrheit! Wissen Sie, Wähler können ungebildet sein, verführt, in vielerlei Hinsicht manipulierbar. Aber in einer Hinsicht sind sie nicht blöd: Sie merken – und zwar in Massen –, ob jemand lügt, oder ob sie einem Politiker vertrauen können.
Das sehe ich anders: Ob Marine Le Pen, Strache in Österreich oder gar Trump in den USA – sie sind doch erfolgreich, obwohl sie gewiss nicht immer bei der Wahrheit bleiben.
Lügen setzt eine bewusste Entscheidung voraus: Ich weiß es anders, aber ich lüge! Marine Le Pen und alle anderen Rechtspopulisten lügen nicht – aus dem einfachen Grund, dass sie wirklich glauben, was sie sagen! Ein nationalistischer Politiker würde nie, absolut nie, wenn sich der Zeitgeist dreht, plötzlich das Gegenteil sagen, auch wenn er sich davon mehr Wählerstimmen versprechen könnte. Im Gegenteil, er würde immer, und wenn es sein muss trotzig, auf seinen nationalistischen Parolen beharren. Aber wenn Christdemokraten, die immer pro EU waren, oder wenn Sozialdemokraten, die immer internationalistisch waren – wer sollte sich denn vereinigen, die Proletarier aller Länder oder die Proletarier der Nation? –, wenn die also plötzlich nationalistische Politik machen, um den Natio-
nalisten „den Wind aus den Segeln zu nehmen“, dann glaubt ihnen zu Recht kein Mensch. Solche Politiker verlieren an Zuspruch, selbst wenn sie am Ende so wendig sind, sich um 360 Grad zu drehen. Es ist in der politischen Auseinandersetzung heute völlig unerheblich geworden, ob vernünftig ist, was einer sagt, wichtig ist die Glaubwürdigkeit auf der Basis einfacher Nachvollziehbarkeit. Das heißt: Idio-
ten wählen Idioten, aber sie wählen keinen mehr, der so idiotisch ist, dass er glaubt, er kann so tun, als wäre er ein repräsentativer Idiot.
Wie sie selbst sagen, ist doch aber der Nationalismus keineswegs alleiniges Markenzeichen von Rechtspopulisten. Selbst wenn sie diese stoppen können, bleibt die nationalistische Ideologie doch wirksam?
Das Problem mit dem Nationalismus ist, dass er eine Falle ist, in die auch die Linken in letzter Zeit verstärkt tappen. Sie merken nicht, dass sie so zu ideologischen Zuarbeitern der Rechtspopulisten werden. Die österreichischen Sozialdemokraten etwa sagen, wir müssen den österreichischen Arbeitsmarkt verteidigen, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Das heißt, wir müssen verhindern, dass ungarische oder polnische Arbeiter auf unseren Arbeitsmarkt kommen. Das widerspricht aber der europäischen Freizügigkeit und es ist europapolitisch ein Skandal. Das Perfide daran ist, dass den Wählern vermittelt wird, ein österreichischer Maurer habe mehr gemeinsam mit der Gattin eines österreichischen Konzernchefs als mit einem griechischen oder einem portugiesischen Maurer. Und: Es wird immer so getan, als sei der Nationalismus ein Problem, das von rechtsaußen kommt. Er kommt aber aus der Mitte, von den Christ- und Sozialdemokraten, die in den europäischen Ländern regieren, weil sie national gewählt werden wollen. Die Rechtspopulisten sind nur deren Lautsprecher.
Woher nehmen Sie Ihren Optimismus? Liegt es daran, dass in Österreich vor nicht allzu langer Zeit das Übel eines FPÖ-Präsidenten Norbert Hofer knapp verhindert wurde?
So optimistisch bin ich auch wieder nicht. Dass in Österreich verhindert wurde, dass ein Nationalist, der mit faschistischer Symbolik spielt, Präsident wurde, würde mich erst dann beruhigen, wenn ich sehen könnte, dass die anderen Parteien eine Lehre daraus gezogen haben. Zumindest diese: 30 Prozent der österreichischen Wähler wählen diese unter Faschismusverdacht stehende Partei. Das heißt,
70 Prozent wählen sie nicht! Diese Erkenntnis sollte sich endlich unter den politischen Eliten durchsetzen: Ich muss unter diesen 70 Prozent eine Mehrheit gewinnen! Aber sie versuchen die 30 Prozent zu befriedigen, die FPÖ gewählt haben. Sie werden so nie mehr eine aufgeklärte Mehrheit bekommen.
Sie hatten Jean-Claude Juncker noch vor seiner EU-Kommissionspräsidentschaft als „Hoffnungsträger“ bezeichnet, während Sie José Manuel Barroso vorwarfen, er habe die EU mit an die Wand gefahren. Wie würde Ihre Bilanz von der Amtszeit Junckers ausfallen?
Jean-Claude Juncker ist zweifellos ein Europäer. Ob er noch die Kraft hat, darauf zu bestehen, einer zu sein – das weiß ich nicht. Eine Bilanz über seine Amtszeit werden wir erst nach den Brexit-Verhandlungen ziehen können. Dann werden wir wissen: Hat er Europa verteidigt, die Freiheiten und Werte der europäischen Gemeinschaft, oder hat er kurzsichtigen wirtschaftlichen Interessen nachgegeben? Im zweiten Fall wird Juncker der Sargtischler der EU gewesen sein. Es kann keine Kompromisse mit der „ruling nation of the commonwealth“ geben. Das Vereinigte Königreich hat nicht einmal die europäische Menschrechts-Charta unterzeichnet, weil es wegen Kinder- und Sklavenarbeit im Commonwealth keine Probleme mit dem Europäischen Gerichtshof bekommen wollte. Nein, nur Kompromisslosigkeit kann bewirken, dass Großbritannien in zehn oder fünfzehn Jahren wieder einen Beitrittsantrag stellen wird, und diesmal ohne Anspruch auf Ausnahmeregelungen – weil begriffen wurde, was es heißt, draußen zu sein. Diese europäische Perspektive hängt heute nicht zuletzt von Juncker ab.
Wenn sie durch Galileos Fernrohr schauen: Glauben Sie an die rosige Zukunft, die Sie sehen?
Der Nationalismus wird scheitern, die Nationen werden untergehen. Es ist eine logische Konsequenz der Entwicklung. Und erst danach wird das größte Desiderat der französischen Revolution verwirklicht sein: der Gleichheitsgrundsatz. Die Souveränität der Bürger wird die Souveränität der Nationen ablösen. Es wird dann endlich egal sein, ob man in einem großen, ökonomisch starken, politisch einflussreichen Land auf die Welt kommt, oder in einem kleinen, deren Wähler keinen Einfluss haben. Es wird in Hinblick auf Lebenschancen egal sein, ob man „Deutscher“ ist oder „Malteser“. Man wird europäischer Bürger sein. Aber wann? Das Fernrohr ist keine Kristallkugel.
Robert Menasse
Geboren 1954 in WienRomancier und Essayiststudierte GermanistikPhilosophie sowie Politikwissenschaft in WienSalzburg und Messina. Zuletzt erschien von ihm
Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss (Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder Verlag 2015).