Besoffen sein auf der Bühne ist so ungefähr das Schwierigste, das ein Schauspieler zu spielen hat. Nicht selbst alkoholisiert zu sein, sondern Trunkenheit in nüchternem Zustand darzustellen. Hier verraten sich Dorftheaterschauspieler sofort als solche, indem sie zuviel des Guten tun, großspurig auftreten, stolz herumpoltern, und, auch das ist geläufig, den Schluckauf mimen. Nicht so Luc Feit. Er liegt da, in seiner Rolle des Boris, kopfunter auf der Bank eines Partyschiffes, mit seinem lächerlich hellgelben Polohemd, seiner weißen (!) Hose, der prahlerischen goldenen Uhr und der ekligen goldumrandeten Pilotensonnebrille und ist einfach stockbesoffen. Alles ist ihm zuviel, all diese Leute der Party, die Anforderungen seiner Freundin Carla, Gastgeberin des Abends, die zu ihrer Beförderung zur Oberärztin dieses Fest auf dem Schiff gibt, das am Berliner Landwehrkanal liegt. Boris ist „Tittenmagazinvorsteher“ beleidigt ihn Carlas alte Freundin Bérénice, „Chefredakteur eines Männermagazins“ verbessert sie Carla. „Ach“, antwortet Bérénice, „kleb’ ein sauberes Wort darauf, aber das macht die Sache auch nicht schick!“
Boris hat sich mit 25 schon die Samenleiter durchschneiden lassen, um die Natur zu bändigen, damit er skrupellos herumvögeln kann, ohne Gefahr zu laufen, sich unglücklicherweise zu reproduzieren. Zudem wählt er nur Frauen über 40 aus, deren Körper „nicht nach einem Kind schreit“, Karrierefrauen, die ihr eigenes Geld verdienen und nur nach der Arbeit Zeit haben, also nichts von ihm verlangen. „Dieser grenzenlose Hedonismus verdirbt den Charakter“, wird er später feststellen müssen. Boris ist eine Rolle, wie für Luc Feit geschrieben, er kann zynisch sein, rumblödeln, die junge Serviererin Mimi begrabschen, sein dummes Grinsen aufsetzen, wenn er Abscheulichkeiten wie „Mösensklaverei“ von sich gibt, das Huhn geben – kurz, er ist mal wieder grandios.
Dabei ist Boris nicht mal die Hauptrolle aus Rebekka Kricheldorfs (*1974) Stück Das Ding aus dem Meer, das 2009 in Kassel uraufgeführt wurde und das Laura Schroeder vergangene Woche am Kapuzinertheater inszenierte. Carla ist die Hauptfigur, gutaussehende Karriefrau um die 50, die Désirée Nosbusch unbeschreiblich weiblich, aber auch arrogant und unnahbar auf die Bühne bringt. Ihr halbwüchsiger Nerd-Sohn Ronny (Timo Wagner ist die Entdeckung des Stücks) hasst sie und ihre Freunde („ihr habt mich deportiert, ihr Nazis!“), er redet mit niemandem, außer um ein „die Wirklichkeit ist Schrott!“ aufs Deck zu kotzen.
Die Party hat ihren Höhepunkt schon längst überschritten, die meisten Leute sind weg, als Bérénice feststellt, dass das Boot abgedriftet ist und sie aufs Meer steuern. Bérénice, Carla, Ronny, Boris und Mimi müssen nun mit ein paar Tüten Chips, Dosenfutter und Wasser überleben. Kein Funkgerät, kein Mobiltelefon hat mehr Netz. Mit sich allein haben die fünf eigentlich schon genug zu tun, liefern sich bösartige Fehden, zerfleischen sich wahrlich – Bérénice und Carla gegen Boris, Boris und Bérénice gegen Carla, Ronny und Mimi gegen die Alten. Doch dann kommt noch ein Schrecken hinzu, ein „Ding“, „so groß wie ein kleines Haus“, rüttelt am Schiff und versetzt die Mannschaft in Angst und Schrecken. Nun wird abgerechnet, wenn sie schon verloren sind, dann wollen sie wenigstens alles gesagt haben. „Das Ding ist der Held und ihr seid Fischfutter“ sagt einer, „das Ding will mich erlösen von dir“ meint Boris. Jeder behauptet, es gesehen zu haben – jeder beschreibt es anders, mal mehr als Riesenkrake, mal eher wie ein Walfisch (die Mimikszene ist herrlich).
Rebekka Kricheldorf, die selbst zur luxemburgischen Premiere angereist war, war erstaunt, wie bitterböse Laura Schroeders Inszenierung ausgefallen ist. Schroeder, die viele eher vom Film kennen (Schatzritter, 2012), hat das Stück beim Berliner Stückemarkt entdeckt und es natürlich gleich gemocht, weil es filmische Qualitäten hat – die Auflösung der Wirklichkeit, das Abdriften in immer absurdere Gewässer kommen aus dem Horrorfilm. Sie erfindet vor allem Bilder, wunderschöne Bilder, wie diese idyllischen Nachtszenen vor blauem Himmel auf einem aufs Wesentliche reduzierten Boot mit Partygirlande (Bühne: Peggy Wurth). Darin lässt sie die Schauspieler nach Lust und Laune tummeln, was den einen besser gelingt – Luc Feit, die Rampensau, Désirée Nosbusch, die Diva – den anderen dann weniger. Sabine Vitua zum Beispiel haut als daueralkoholisierte Zynikerin, die das Schreiben vor 20 Jahren sein ließ, nachdem sie ihrem Publikum ins Antlitz hat sehen müssen, etwas zu sehr in die Kerbe des Mannsweibes, Anouk Wagener ist zu unsicher als romantische Serviererin Mimi.
Das Ding entpuppt sich schlussendlich als Projektionsfläche aller Träume und Ängste der Protagonisten. Wie das Monster vom Loch Ness oder der Yeti muss es nicht existieren, um die Gesellschaftsstruktur dieses kleinen, pathetischen Grüppchens zu zerfetzen. Wie sie am Ende einander zerfetzen. Und das Publikum lacht sich tot – auch weil jeder sich in irgendeiner dieser Trauergestalten, die am „Mangel des Mangels“ leiden (Theater heute) erkennt. Von Carlas triumphierendem „ich bin der einzige glückliche Mensch, den ich kenne, das macht mich depressiv“ über Boris’ „ich bin so erfolgreich, dass es mich anödet“ bis zu Carlas „ich hasse die Zivilisation“ waren es nur 75 Minuten. Sie ist dünn, unsere Zivilisationsschicht.