Dienstagmorgen im Radio 100,7: Vom Ausgang der Gemeindewahlen dürfe man nicht auf die große Politik schließen, erklärt die grüne Spitzenkandidatin Sam Tanson tapfer. Dass Déi Gréng dort ein Sechstel ihrer Gemeinderatsmandate verloren, habe in erster Linie lokale Gründe. Vielleicht hat sie recht. Ein ziemlicher Schock, der noch immer nachwirkt, waren die Resultate vom 11. Juni für die Grünen trotzdem. Die letzte Sonndesfro der Ilres, wenngleich sie immer mit Vorsicht zu genießen ist, sah mit einem Minus von drei Sitzen auch nicht gut aus. Was die Schwesterpartei in Deutschland macht, registrieren Déi Gréng ebenfalls mit Sorge. Das Attribut „Verbotspartei“ ist längst ins Großherzogtum importiert.
Samstag, 16. September: Hierschtmoart im Zentrum von Esch. Auf der Alzettestraße lockt eine Mischung aus Braderie und Flohmarkt die Leute an. Politische Parteien versuchen das mit ihren Ständen auch. KPL und déi Lénk sind da, Piraten und ADR, DP und Déi Gréng. Die grüne Süd-Spitzenkandidatin Joëlle Welfring hält Kugelschreiber und Faltblätter in der Hand. Sie lächelt freundlich, während der Menschenstrom an ihr vorüberzieht. Manchmal fragt sie: „Wëllt Dir e Bic?“ Kaum jemand will. Was wahrscheinlich auch daran liegt, dass Welfring den Eindruck macht, als wäre sie lieber gar nicht hier. Die Leute seien ja eigentlich gekommen, „um ihre Einkäufe zu machen“. Sie einfach anzusprechen, nicht gleich loszulassen und noch eine Portion grüner Programmatik loszuwerden, „das liegt mir nicht so“, vertraut sie dem Reporter an. Und: „Ich war 47 Jahre keine Politikerin. Das hier ist mein erster Wahlkampf, ich lerne noch.“
Ein Trost mag sein, dass am Stand der DP auch nicht gerade der Teufel los ist, obwohl Claude Meisch dort steht. Doch selbst falls die DP trottuarspolitesch an diesem Tag in Esch nicht stärker zünden sollte als die Grünen, haben Letztere im Südbezirk das größere Problem: 2018 waren sie dort die drittstärkste Partei, nach CSV und LSAP, vor der DP. Drei ihrer neun Kammersitze errangen die Grünen im Süden. Von den drei damals Bestgewählten aber stehen die beiden Ersten, Félix Braz und Roberto Traversini, nicht mehr zur Verfügung. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an das Spitzenkandidaten-Tandem Joëlle Welfring und Meris Sehovic. Muss die Spitzenfrau noch lernen, im Wahlkampf eine Rolle zu spielen, drohen die Erwartungen enttäuscht zu werden.
Dabei müsste Welfring als Umweltministerin eine der wichtigsten Protagonistinnen der grünen Politik sein – nicht nur im Süden. Müsste besonders gekonnt die Attacken parieren, die auf das Kerngeschäft der Grünen zielen, die Umweltpolitik. Dass die Attacken kommen würden, war abzusehen. Lange vorbei sind die Zeiten, als die CSV den Eindruck machte, ökologischer sein zu wollen als Déi Gréng. Als am 9. November 2019 ein außerordentlicher CSV-Kongress in Rodange bei nur einer Enthaltung ein Grundsatzdokument annahm, das Klimaneutralität als Staatsziel in der Verfassung verankert, die CO2-Emissionen „umgehend radikal verringert“ haben wollte. Zum Beispiel durch eine höhere Besteuerung „besonders emissionsstarke[r] Autos“. Doch der Herbst 2019 war auch jener Zeitraum, in dem die Grünen mit der Gaardenhaischen-Affär ihres Differdinger Bürgermeisters Roberto Traversini ein Polit-Skandal ereilte, der auch die damalige Umweltministerin Carole Dieschbourg erfasste. Gut ein Jahr später folgte die Superdreckskëscht-Affär. In ihrer Folge machte die CSV Politik gegen das grüne Konzept Null Offall Lëtzebuerg. Spätestens da hatte sie entschieden, die Schwächung der Regierungskoalition, um nach den Wahlen 2023 endlich selber wieder an die Macht zu gelangen, klappe am besten durch Schwächung der Grünen. Kein Wunder, dass die CSV im Sommer vergangenen Jahres die hohen Sprit- und Heizölpreise gegen die Umweltministerin und den Energieminister verwendete. „Herr Turmes, in Luxemburg frieren die Menschen!“, warnte Fraktionschef Gilles Roth in der Kammer. Dass der Abgeordnete Laurent Mosar bei über 30 Grad im Schatten auf Twitter fragte: „Darf man eigentlich noch sagen, dass der Sommer bis jetzt eigentlich ganz angenehm war?“, passte dazu natürlich nicht gerade, folgte aber der Erzählung der CSV von der „pragmatischen und ideologiefreien“ Klimapolitik „zesumme mat de Leit“, die nur mit ihr zu haben sei.
Besonders raffiniert inszenierte Kontroversen sind das gar nicht. Aber die Grünen setzten ihnen damals wenig entgegen und tun sich auch im Wahlkampf schwer damit. Ihnen fehlen „politische Tiere“. François Bausch ist noch da, doch er nimmt allmählich seinen Abschied. Joëlle Welfring hingegen mag sich am Montag auf der Bilanzpressekonferenz ihres Ministeriums nicht mal auf Nachfragen politisch äußern: Als sie bei der Renaturierung angelangt ist und die EU-Gesetzgebung erwähnt, die im Europaparlament so umkämpft war, sagt sie, in Luxemburg gebe es dazu „relativ viel Zustimmung“. Doch die beiden CSV-Abgeordneten in der Fraktion der Europäischen Volkspartei stimmten dagegen, wovon der Hesperinger député-maire Marc Lies von der CSV so hingerissen war, dass er auf Facebook tönte: „Fort mat dem grénge Krom!“ Was die Umweltministerin davon hält? – „Ich weiß nicht, ob ich das kommentieren soll...“, rudert sie und kommentiert es auch nicht. Fügt nur an, „ich höre auch von CSV-Bürgermeistern, dass ihre Gemeinden dank Renaturierung nun weniger Wassermassen zu bewältigen haben und dass das gute Projekte sind“.
Dass sie sich strategisch zurückhält, weil ihre Partei das so beschlossen hat, um sich eine maximale Koalitionsfähigkeit nach den Wahlen zu sichern, ist unwahrscheinlich. Zu fraglich ist geworden, wie stark die Position der Grünen noch ist; Strategiespiele auf Regierungsbeteiligung führen da nicht viel weiter als auf eine dritte Auflage der Koalition mit DP und LSAP als bester Chance, wenn sich das am 8. Oktober so ergibt, weil die Kernwählerschaft zu den Grünen hält. Joëlle Welfring mag keine politischen Kontroversen. Ihre Partei weiß, was sie an ihr hat: Die ehemalige Direktorin der Umweltverwaltung, die zuvor die Umweltforschung am Centre der recherche public Henri Tudor leitete, ist eine überaus kompetente Fachfrau. Eine begabte Ministeriums-Chefin ist sie ebenfalls, aber eben auch eine Technokratin. Jedenfalls noch.
Gut möglich, dass die CSV die Schwächen der Umweltministerin einkalkuliert hat, ehe sie begann, im Wahlkampf die „Umweltprozeduren“ im Allgemeinen und die zum Naturschutz im Besonderen anzugreifen und damit alle möglichen Übel zu verbinden, unter denen Luxemburg leide. Spitzenkandidat Luc Frieden führte es beim „Optakt“ der CSV-Kampagne vergangene Woche ein weiteres Mal vor: Betriebe blieben nur wettbewerbsfähig, wenn sie nicht „Tag und Nacht an Umweltauflagen“ denken müssten. Der Wohnungsbau komme nicht voran wegen „aller möglichen Impaktstudien“ im Bauperimeter. Sogar der Ausbau der Windkraft werde von „den vielen Regeln“ gebremst.
Neu ist sowas nicht. In Krisenzeiten werden regelmäßig Rufe nach Abbau von Verwaltungsvorschriften laut. In der Rezession von 2009 versprach der damalige CSV-Präsident François Biltgen einem Kongress seiner Partei, in Zukunft werde „der Bauperimeter Vorrang vor dem Biotop“ haben (d’Land, 23.7.2009). Seit Grüne das Umweltministerium leiten, wird ihnen bei Bedarf vorgehalten, Tiere „vor den Menschen“ zu stellen. Fledermäuse etwa, wie im Wahlkampf 2018 der damalige DP-Generalsekretär Claude Lamberty fand. Oder der CSV-Abgeordnete und frühere Landesplanungsminister Michel Wolter: Es könne nicht sein, „dass jedes einzelne Biotop uns daran hindert, dort zu bauen, wo es landesplanerischen Kriterien entspricht, aber eine Fledermaus herumfliegt oder irgendein Schmetterling gesehen wurde“.
Ginge es nach Luc Frieden, dürfte „die Umweltministerin im Perimeter nichts zu suchen“ haben, nachdem Bauland in einem kommunalen Flächennutzungsplan (PAG) als solches ausgewiesen ist. Das klingt im Wahlkampf griffig, kommt aber der Aufforderung zum Bruch von EU-Recht nahe: Die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie macht keinen Unterschied, ob ein Fledermausnest in einer Grünzone oder im Perimeter gefunden wurde. In der EU stehen sämtliche Fledermäuse unter Schutz. Doch den Naturschutz anzugreifen, der komplex ist, ist hierzulande einfacher, als brachliegendes Bauland über kommunale Baugebote seiner Nutzung zuzuführen oder über eine Besteuerung, die nicht erst in zehn Jahren wirkt.
Und ebenfalls einfacher, als an die Entscheidungsprozesse in den Gemeinden zu gehen: Wie die Architekten Sahar Azari und Stephanie Law in der neuen Veröffentlichung Face aux grand défis der Fondation Idea schreiben, werde die Bauaktivität kaum durch Naturschutzprozeduren gehemmt. Sondern eher innerhalb der Gemeinden. Einerseits durch den „processus incroyablement chronophage“, mit dem die Gemeinden ihre PAGs an die neuen Kommunalplanungsvorschriften anpassen. 18 seien noch immer nicht fertig damit, sechs hätten noch nicht mal begonnen. Oder die in jeder Gemeinde verschiedenen Bautenverordnungen: Es dauere außerordentlich lange, um die Interpretationen der Verordnungen zu verstehen, die in jeder Gemeinde varriieren können, „l’hauteur standard d’une pièce est différente d’une communale à l’autre; la façon dont le récul latéral d’une propriété est différente d’une commune à l’autre“. Dass sich nicht genug Wohnungen bauen lassen, liege auch an den im Allgemeinen noch immer zwei Parkplätzen, die pro Wohneinheit vorzusehen sind. Das senke die Rentabilität eines Projekts und mache dichteres Bauen schwerer.
Diese Bemerkungen sind auch deshalb interessant, weil sie den Schluss erlauben, die für Kommunalplanung und Gemeindedinge generell zuständige LSAP-Innenministerin Taina Bofferding hätte zur Ankurbelung des Wohnungsbaus mindestens ebenso viel beitragen können wie Henri Kox, der grüne Wohnungsbauminister. Doch an die Gemeindeautonomie zu rühren, erfordert Mut und am Ende einen großen politischen Konsens. Pech für die Grünen, dass Kox Probleme hat, seine Politik zu kommunizieren, und am 8. Oktober vermutlich mit ausbleibenden Wählerstimmen für alles wird bezahlen müssen, was im Wohnungsbau nicht läuft, und als Polizeiminister für laut CSV und DP mangelnde Law & Order. Auf dem Remicher Marktplatz am Montag Nachmittag ist Kox am grünen Stand ein ähnlich wenig gefragter Gesprächspartner für die Passant/innen wie Joëlle Welfring zwei Tage zuvor in Esch. Was auf das Problem verweist, das die Grünen im Ostbezirk haben, ähnlich wie im Süden: 2018 hatte ihnen Carole Dieschbourg das einzige Ost-Mandat gesichert, mit anderthalb Mal so vielen Stimmen wie der Zweitgewählte Kox, der jetzt Spitzenkandidat mit seiner Nichte Chantal Gary ist.
Es soll natürlich Behauptungen von „Verbotspartei“ entkräften, wenn Déi Gréng im Wahlkampf auf „Eise Bilan“ verweisen. Doch wenn das ihre Minister/innen als Arbeitstiere der Koalition erkennen lässt, dann kommt dabei auch die Partei zum Vorschein, die einfach auf eine dritte Runde mit DP und LSAP hofft, gerne mit Xavier Bettel als „Klima-Premier“. Im Wahlkampf selber zu polarisieren, trauen die Grünen sich nicht: Natürlich könnten sie einer CO2-Steuer von 200 Euro pro Tonnen-Äquivalent etwas abgewinnen, wie der Klimabiergerrot sie vorgeschlagen hat. Doch dafür einzutreten, sähe nach „Verbotspartei“ aus. Lieber versprechen sie mit Sam Tanson eine schöne Reise nach Zero Carbon, mit Beratung und mit Beihilfen vom Staat. Nach zehn Jahren an der Regierung sind sie aber auch derart in der Realpolitik angekommen, dass es ihnen schwerfällt, hochfliegende Öko-Pläne zu schmieden. Eher erzählen sie jetzt Piraten und CSV, dass sich so viele Windräder auf einmal, wie jene vom Himmel versprechen, nicht installieren lassen, weil sie aus Erfahrung wissen, dass das nicht so einfach ist.
Kämpferischer treten nun Sam Tanson und Claude Turmes auf. Bei der Rundtisch-Debatte mit den Spitzenkandidat/innen in der Handelskammer (am Donnerstag vergangener Woche) weist Tanson Luc Frieden zurecht: Der Naturschutz habe einen EU-Rahmen. „Wir können nicht machen, was wir wollen, das kann man nicht versprechen.“ Sie sagt, eine „enorme“ Zahl von Bürgermeistern schaue erst nach potenziellen Nimbys, ehe sie ein Wohnungsbauvorhaben gut finden. Beim Paperjam-Rundtisch diese Woche kommt sie darauf zurück: Bürgermeister, „auch CSV-Bürgermeister“, hätten vor den Gemeindewahlen aufgehört, Baugenehmigungen zu vergeben. Turmes wiederum nutzt am Dienstag die Bilanzpressekonferenz über seine beiden Ressorts Energie und Landesplanung für Ausflüge in den Wahlkampf. Lange genug in der Politik ist er immerhin, auch wenn er lieber mit Zahlen hantiert. Er rechnet vor, was für eine „Wüste“ bei der Nutzung erneuerbarer Energien CSV-geführte Regierungen angerichtet hätten, ist dabei so freundlich, die Rolle der Energieminister von der LSAP unerwähnt zu lassen. Dass die Innenministerin und er vor einer Woche ein reglèment-type für kommunale Bautenverordnungen vorgestellt haben, die nun besser die Isolation von Häusern und die Installation von Solarpanelen ermöglichen sollen, versieht er mit dem Hinweis, dass das in der Hauptstadt schwierig ist, liege an „blau-schwarzen Prozeduren“ und nicht an Umweltprozeduren.
Letzten Endes aber ist das ein später Mut der Verzweiflung, der eine Partei erfasst hat, die politisch nicht mehr erkennbar genug ist. Den Naturschutz würde auch ein CSV-Minister nicht killen. Die aktuell geltenden Regeln wurden wesentlich unter Marco Schank konzipiert, Carole Dieschbourg ließ sie umsetzen. Joëlle Welfring ließ sie flexibilisieren, soweit das EU-Recht dies erlaubt, und reichte vor zehn Tagen für eine weitere Flexibilisierung den Gesetzentwurf im Parlament ein; Gespräche mit der EU-Kommission machten das möglich. Müssten Déi Gréng nach dem 8. Oktober in die Opposition, würde jede Regierung gern übernehmen, was die fleißigen grünen Minister/innen alles ausgearbeitet haben.