Auf der Suche nach Wahrheit lasse ich mir jeden Morgen kurz nach neun von den Luxemburger Tageszeitungen den Zustand der Welt oder zumindest des Großherzogtums erklären. Meist erzählen sie mir mit der drögen Akribie von Gendarmerieberichten von immer denselben Männern und einigen Frauen, die am Vortag hinter Tischen saßen und die Abgesandten ihrer Redaktionen aufklärten, illustriert von den immer gleichen, steifen Gruppenfotos besagter Pressekonferenzen.
Nur im Ausland scheinen nicht nur die Moderne, Sinn, Fortschritt, Demokratie und Humanismus auseinanderzufallen, sondern auch Leserschwund, Konzentrationstendenzen und elektronische Medien die Tagespresse umzumähen. Hierzulande hat sich der Markt für Tageszeitungen ein halbes Jahrhundert lang nicht bewegt, ihre Zahl entspricht derjenigen der politischen Parteien nach der Befreiung. Seit 1948 verschwand keine Tageszeitung und es gab nur einen einzigen, erfolglosen Versuch, eine neue zu gründen: das ab dem 2. Februar 1981 zwei Jahre lang täglich erschienene DIN A4-Blatt haut des ehemaligen Journal-Redakteurs Jean Nicolas.
Den überfüllten kleinen Markt aufmischen konnten nur einige Lokalausgaben französischer und belgischer Blätter. Doch die Meuse hat dem Luxemburger Markt bereits lange den Rücken gekehrt, der Républicain Lorrain stellte seine deutschsprachige Ausgabe France-Journal schon ein, und seine französische Lokalausgabe krebst dahin.
Während der Luxemburger Zeitungskonsum pro Kopf zu den höchsten in Europa zählt, scheinen im kryonkonservierten Reich der Luxemburger Tageszeitungen die Marktgesetze weitgehend außer Kraft gesetzt zu sein. Schließlich sind es Parteiblätter, und die Parteien leisteten sich schon immer Zeitungen, die mehr politisch als ökonomisch sinnvoll sind. Als der Verkauf unter dem Gestehungspreis für einzelne zu teuer wurde, begann der Staat draufzulegen 1976, als das Wort, das mehr Werbung kassiert als seine ganze Konkurrenz zusammen, erstmals seit dem Krieg Oppositionszeitung war. Auch der mehr als 90-prozentige Anteil des oft von politischen Loyalitäten bestimmten Abonnementverkaufs verhindert, dass die Blätter täglich miteinander im Zeitungsladen um Käufer und um Nachrichten konkurrieren müssen.
So bleibt nicht nur die Zahl der Tageszeitungen unverändert. Auch die Marktanteile schwanken kaum. In den beinahe zwei Jahrzehnten, während denen ILReS Leserumfragen macht, hat weder eine einheimische Tageszeitung nennenswert an Lesern gewonnen, noch verloren. Noch weniger ist es einer gelungen, einer Konkurrentin den Rang in der Lesergunst abzulaufen. Die Rangfolge entspricht derjenigen der Parteien, die von den jeweiligen Zeitungen unterstützt werden. Auch wenn beispielsweise weit mehr Leute Wort lesen als CSV wählen oder weit mehr Leute DP wählen als das Journal lesen.
Die Marktanteile blieben auch unverändert, weil die Kleinen wie die Großen gleichermaßen Anstrengungen unternahmen, um ihre redaktionelle Vielfalt zu vergößern und äußere Erscheinung zu modernisieren. Noch in den Siebzigerjahren, bis zur Ausrufung des Luxemburger Modells und dem Ende des Bleisatzes, waren es wadenbeißerische Parteiblätter, die ohne Rücksicht auf die Leser plumpe Beschimpfungen und Belehrungen für Polemik hielten und in ihren wenigen, unansehnlichen Seiten alles wegließen, was nicht in ihr Weltbild passte. Aber schlechter als ausländische Lokalblätter sind sie nicht.
Doch selbst 130 Millionen Franken Subventionen für die Tages- und Wochenpresse im Namen des Pressepluralismus können nicht verhindern, dass die Inhalte immer ähnlicher werden. Das Luxemburger Modell der Sozialpartnerschaft und das Ende des Kalten Kriegs haben die ideologischen Unterschiede verwischt. Weil in der Postmoderne anything goes und ihre Kinder auch alle ohne Trauschein zusammen leben, ignorierten die CSV-Delegierten nach den Koalitionsverhandlungen glatt den Aufruf des Wort gegen die Zulassung der Abtreibungspille RU 486. Und die Auslands- und Kulturseiten werden aus Kostengründen ohnehin zum großen Teil mit denselben Agenturmeldungen und Kommuniqués tapeziert.
Immer eine Mode zu spät, helfen nicht nur die Tageszeitungen, das Projekt Demokratie der Vergessenheit anheimfallen zu lassen und für das kommende Jahrhundert einen rechten Populismus aufzubauen, der mehr oder weniger autoritär Politik durch Verteidigung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit, internationale Beziehungen durch Menschenrechte und gesellschaftliche Auseinandersetzungen durch Umweltschutz ersetzt.
Auch der chronische Mangel an qualifiziertem Personal fördert die Oberflächlichkeit. Insbesondere bei den kleinen Blättern verhinderte bisher vor allem das Pressehilfegesetz, das fünf Vollzeitarbeitsverträge zur Bedingung macht, dass die Arbeitsbedingungen der Redakteure ebenso dereguliert werden wie die der Fotografen oder bei Radio und Fernsehen, wo befristete und Freelance-Arbeitsverträge inzwischen zur Regel geworden sind. Prekäre Arbeitsbedingungen fördern aber weder die aufwändige Recherche noch den persönlichen Wagemut, welche sowieso nicht von den Werbekunden geschätzt werden. Wie bei Radio und Fernsehen gehen die Investitionen eher in etwas Handfestes wie Technik als in etwas Unfassbares wie die kollektive Fähigkeit einer Redaktion, die Gesellschaft zu verstehen.
Für die Parteien ist das alles nicht mehr dramatisch. Denn für die Politiker haben die Tageszeitungen sowieso an Bedeutung verloren, seit die tägliche Fernsehstunde zum wichtigsten Medium im Land geworden ist. Deshalb versuchen die von ihren Druckereien mitfinanzierten Blätter, ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit zu festigen. Aber eine Expansion gelang bisher nur in den Wochenzeitungsmarkt oder Buchhandel, die Erfolge blieben immer nur auf den Verkauf bedruckten Papiers beschränkt. Der modische Wettlauf in angeblich "neue Medien" von Videotext über Radio bis zu Internetseiten verlief enttäuschend.
Sollten die Ressourcen zur Verteidigung der Marktanteile wieder an ihre Grenzen stoßen, ist es durchaus vorstellbar, dass der eine oder andere Verlag sich unter die Kontrolle einer ausländischen Mediengruppe begeben muss. Dann könnte der Luxemburger Tageszeitungsmarkt in den kommenden Jahren doch noch ökonomisch wie politisch aufgemischt werden.