Das Objekt der Begierde war eigentlich ein Poncho. Mit Island-Pulli-Muster. Ein Poncho, weil der Herbst Lust macht, sich in mehrere Lagen wärmender Wolle zu wickeln. Island-Muster, weil es wieder hochaktuell ist und die Mamma ein solch wunderbares Teil in den Siebzigern aus Island importiert hatte und unverantwortlicherweise in die Kleidersammlung gegeben hat. Nur weil 20 Jahre niemand ihren Island-Poncho angeschaut hat. Weshalb auch? Sogar die Naturburschen und -mädels von den Pfadfindern sind seit der Zeit von Island-Pullis auf Funktionskleidung umgestiegen.
Nicht ganz so lange, aber fast liegt das letzte Strickprojekt zurück. Ein Schal. Er war etwas steif geraten und erfüllte bei zweimaligem Umschlagen auch den Zweck einer Halskrause. Aber die Farben waren schön, und er war selbst gemacht. Darauf konnte man schon ein bisschen stolz sein, auch wenn er kratzte.
Stricken – oder Handarbeit generell – entspricht aus mehreren Ursachen dem Zeitgeist. Die geschaffenen Teile sind einzigartig und unterstreichen die eigene Individualität und Kreativität – ob sie gelungen sind, fällt bei der Hipster-Kluft gar nicht ins Gewicht. Stricken ist zudem eine Aktivität aus einer anderen Zeit ist. Wer erinnert sich nicht an eine Oma oder Tante, die, vom rhythmischen „Klick, Klick“ begleitet, ohne größere Anstrengung, als Nebenbeschäftigung, beispielsweise in der Gesprächsrunde, vor dem Fernseher oder gar beim Lesen Reihe um Reihe komplizierte Pullover oder Westen entstehen ließ.
Stricken weckt, ebenso wie Island-Pullis, nostalgische Erinnerungen an die Zeit vor der Konsumgesellschaft, die mit der Wirtschaftskrise in Frage gestellt ist. An die Zeit, als man weniger im Kleider- und Kühlschrank hatte und dennoch alles besser war, während heute der Finanzminister predigt, dass weniger mehr ist, und alles irgendwie schlecht ist. Handarbeiten entsprechen dem Geist der Zeit, in dem Konsumverweigerung eher Konjunktur hat als Konsum – sei es aus Notwendigkeit oder aus Prinzip. Dass auch damals von der Oma gestrickte Unterhosen ein Folterinstrument waren, das man ebenso wenig tragen wollte wie die von der Tante gestrickten Mützen, blendet, wer plant, sich den gewünschten Poncho selbst zu stricken, gerne aus.
Während in den vergangenen Jahren Läden, die das für Handarbeiten notwendige Material führten, immer weniger wurden, liegen sie mittlerweile wieder dermaßen im Trend, dass man nun Wolle, Strick- und Häkelnadeln sogar wieder in der hauptstädtischen Avenue de la Gare kaufen kann. Während vor 30 Jahren im Sinne der Gleichberechtigung dafür gekämpft wurde, dass die Mädchen in der Grundschule mit den Jungs Fußball spielen durften, statt im Handarbeitsunterricht häkeln zu müssen, gibt es mittlerweile auch in Luxemburg trendige Strickklubs und privaten Nähunterricht für Kinder, für den die Eltern ordentlich Bares ausgeben.
Im Internet gibt es (anscheinend) Anleitungen zum Bau von Detonationskörpern. Aber auch Strickmuster für Ponchos: mit Island-Muster (!), dekorativen Löchern, Wellen, Krausrippen. Was im Endeffekt gefährlicher ist, steht noch nicht fest. Dass Strickmuster verständlicher sind als Anleitungen zum Bombenbau, ist ausgeschlossen. Es sei denn, man verfügt über eine Enigma zum Dechiffrieren des besonderen Codes von Strickmustern: „1. = Rand-M,* 1M mit 1 Umschlag links abheben, 1 M rechts, ab * stets wiederholen.“ Mit der Enigma würde sich wahrscheinlich auch herausfinden lassen, dass eine „Krauserippe“ immer rechts stricken heißt und die Kasten-Diagramme mit den Klammern, diagonalen und horizontalen Strichen auf Deutsch übersetzen lassen.
Wer nach 15 Jahren Strickabstinenz den Neueinstieg versucht, sollte es also vielleicht doch lieber erst einmal mit einem Schal versuchen. Ist doch auch schön. Und schön einfach. Immer das Gleiche, immer gerade aus. Dabei sollten Wiedereinsteiger mit leichten Motorik-Schwierigkeiten sich im Laden nicht von dem hauchzarten Angora-Seidenmix verführen lassen. Oder es bitter bereuen. Nämlich wenn sie beim Anschlag-Versuch, also beim Versuch, die erste Maschenreihe aufzufädeln, folgenschweren Unfällen, wie versehentlichem Erstechen mit der Nadel oder Strangulation mit der Wolle, nur knapp entgehen können.
Ist der Anschlag geschafft, stellt sich heraus, dass Stricken als Nebenbeschäftigung, zumindest im Anfangsstadium, völlig ungeeignet ist. Ein verstohlener Blick auf die Mattscheibe – zack ist die Masche weggeflutscht. Der folgende Bergungsversuch mit der Sticknadel gleicht einem chirurgischen Eingriff, ist aber vergebens. Die Masche ist weg, der Schal tot.
In solchen Situationen hilft: auftrennen und noch einmal von vorn anfangen. Oder die Einsicht, dass unter diesen Umständen der Schal vor Frühlingsanfang nicht fertig sein wird und man nächstes Mal statt teurer Wolle doch lieber gleich den fertigen Schal oder Poncho kaufen sollte.
Carlo Sauber
Catégories: Stil
Édition: 19.10.2012