Per Gesetz will der Sozialminister dafür sorgen, dass die Caisse médico bleiben kann, was sie ist. Damit gibt er den Privatversicherern Gelegenheit, von Wettbewerbsverzerrung zu reden

Pandoras Büchse

d'Lëtzebuerger Land du 02.02.2018

Es ist eine vertrackte und komplizierte Angelegenheit, aber sie betrifft zwei Drittel der Bevölkerung. So viele sind laut Sozialministerium zusatzversichert bei der „Caisse médico“, wie der Volksmund die Caisse médico-complémentaire mutualiste (CMCM) nennt. Entweder gehören die vielen Leute nur für sich selbst der Zusatzkrankenversicherung an, oder sie haben ihre Familie mitgebracht. Denn wer bei ihr Mitglied wird und eine Familie hat, bringt die automatisch mit und die Leistungen der CMCM gelten für sie dann auch, ohne dass es höhere Beiträge kostet. Das ist ein Merkmal, das die CMCM von privaten Krankenversicherern unterscheidet und sie für zwei Drittel der Bevölkerung zuständig sein lässt.

Seit zwei Wochen gibt es Aufregung um die CMCM. Eigentlich nicht nur um sie, sondern um alle 51 Mutualitätsvereine, doch die CMCM ist der gewichtigste. Sozialminister Romain Schneider (LSAP) will das Gesetz über die Mutualitätsvereine „modernisieren“, wie im Motivenbericht zum Gesetzentwurf steht. Nicht nur ist das Gesetz schon 57 Jahre alt, sondern sei „weitgehend inspiriert von einem Text, der von 1891 datiert“. Das klingt nach Handlungsbedarf.

Tatsächlich aber geht es dabei vor allem um die Caisse médico und was sie tut. 60 Millionen Euro nahm sie im vergangenen Jahr an Beiträgen von ihren rund 265 000 eingeschriebenen Mitgliedern ein, teilte ihr Generaldirektor Fabio Secci vergangene Woche mit. Da empfing er am CMCM-Sitz im Bahnhofsviertel der Hauptstadt Pressevertreter und beklagte sich über das Gutachten, das der Staatsrat eine Woche zuvor zu dem Gesetzentwurf herausgegeben hatte. „Der Staatsrat hat sich stark an der Handelskammer orientiert, und deren Gutachten haben die Privatversicherer geschrieben“, zürnte Secci. Lasse sich davon der parlamentarische Ausschuss für Arbeit und So-
zialversicherung, der sich demnächst mit dem Gesetzentwurf befassen wird, zu sehr beeindrucken, dann „besteht die Gefahr, dass nichts modernisiert, sondern zerstört wird, was lange gut funktioniert hat“. Nämlich die Caisse médico.

Handelskammer und Staatsrat meinen, so einfach könne die CMCM nicht länger von den Regeln der Solvency-II-Richtlinie der EU befreit bleiben. Die unterwirft die europäische Versicherungsbranche verschärften Anforderungen, solvent zu sein. Dazu müssen die Versicherer zum Beispiel umfangreichere Rückstellungen vornehmen als früher. Auch in Luxemburg wurde Solvency II durch ein neues Versicherungsmarkt-Gesetz umgesetzt. In dem Gesetz steht wie in der Richtlinie auch, für wen die neuen Regeln nicht gelten. Zum Beispiel für „die Geschäfte der für Versorgungs- und Unterstützungszwecke geschaffenen Institutionen, deren Leistungen sich nach den verfügbaren Mitteln richten, während die Höhe der Mitgliedsbeiträge pauschal festgesetzt wird“.

Wie Fabio Secci und der Dachverband der Luxemburger Mutualitätsvereine das sieht, ist damit auch die CMCM gemeint: Ist nicht genug Geld in der Kasse, muss eine Generalversammlung entweder die Leistungen kürzen oder die Beiträge erhöhen – die Leistungen richten sich also nach den verfügbaren Mitteln. Die Beiträge wiederum sind für alle Mitglieder gleich und lediglich in drei Altersgruppen gestaffelt. Was nicht zu vergleichen ist mit den Prämien, die Privatversicherer kassieren, denn die hängen vom individuellen Risiko des Kunden ab, das in einer „Gesundheitsprüfung“ ermittelt wird – also sind die CMCM-Beiträge pauschal.

Allerdings nimmt schon seit Jahren zwischen der CMCM und den Privatversicherern der Konkurrenzkampf zu, und das ist für den Sozialminister der Hauptgrund, das Mutualitäten-Gesetz zu reformieren. 60 Millionen Euro aus Beiträgen für Zusatz-Krankenversicherungen, „das ist enorm“, findet Marc Hengen, geschäftsführender Verwaltungsrat des Versichererverbands Aca. 2016, so weit reicht die Aca-Statistik zurück, nahmen die sieben Privatversicherer, die Kranken-Zusatzversicherungen anbieten, zusammengenommen 80 Millionen Euro an Prämien ein. Die 60 Millionen Euro Beiträge der CMCM sind fast so viel wie das Geschäft von Marktführerin DKV Luxemburg (39,5 Millionen) plus dem der zweitplatzierten Foyer Santé (22 Millionen Euro).

Dass die Versicherer der Caisse médico ihren Markt neiden, leuchtet ein. Doch es ist nicht so sicher, ob sie auf demselben Markt agieren wie jene. Die 1956 von den Mutualitätsvereinen gegründete gemeinsame Caisse chirurgicale mutualiste – später Caisse médico-chirurgicale mutualiste und heute Caisse médico-complémentaire mutualiste – beschränkte sich lange darauf, ihren Mitgliedern vor allem Kosten für Komforts zu erstatten. Etwa für ein Einzelzimmer im Spital sowie den 66-Prozent-Zuschlag auf Arztleistungen, die dann als „Erste Klasse“ gelten. Daneben unterhält die CMCM Konventionen mit Kliniken im Ausland und trägt Kosten, die ihren Mitgliedern dort als „Privatpatient“ entstehen. Private Kranken-Zusatzversicherungen bieten mehr. Das kann bis hin zur freien Krankenhaus- und Arztwahl in ganz Europa reichen, hat aber seinen Preis.

Dass in Luxemburg eine Mutualität in einem Jahr fast so viel an Beiträgen einnimmt wie die beiden führenden privaten Krankenversicherer an Prämien, hat aber auch damit zu tun, dass hierzulande beinahe jeder pflichtversichert ist bei der CNS. Und damit, dass diese vor allem wegen der noch immer vielen relativ jungen Grenzpendler unter ihren Versicherten 95 Prozent der im Land anfallenden Gesundheitskosten rückerstatten kann. Nur für Brillen und Zahnersatz zahlt der Patient viel zu; für Zahnersatz so viel, dass in dem Bereich Zwei-Klassen-Medizin herrscht. Wäre das anders, gäbe es für die Caisse médico wie für die Privatversicherer in Luxemburg wenig zu tun. Die 80 Millionen Euro Prämien Letzterer sind ein Klacks verglichen mit den zwei Milliarden, die die CNS pro Jahr umsetzt.

Die andere Besonderheit Luxemburgs besteht allerdings darin, dass nicht nur fast jeder hier Berufstätige pflichtversichert ist bei der CNS, sondern jeder hier anerkannte Gesundheitsdienstleister – vom Arzt über die Apotheken bis hin zu den Spitälern – mit ihr zwangskonventioniert und nur in Rechnung stellen darf, was in Verordnungen steht. Damit vor allem Spitäler und Ärzte ein wenig Privatmedizin betreiben können, ohne das man das so nennen muss, dürfen Erstere Zuschläge für Einbettzimmer frei kalkulieren, Letzteren wird der Erste-Klasse-Aufschlag im Spital gestattet. Weil die CMCM ihren Mitgliedern traditionell solche Zuschläge zurückbezahlt, ist sie nicht nur eine Zusatzversicherung auf Gegenseitigkeit, sondern macht diese gewisse Privatmedizin à la luxembourgeoise für weite Teile der Bevölkerung erschwinglich.

Jede Änderung an den Regeln für die CMCM wird damit sehr politisch, zumal in einem Wahljahr. Romain Schneiders Gesetzentwurf enthält unter anderem eine Liste, die einschränkt, was die Mutualitäten – darunter die CMCM – ihren Mitgliedern in Zukunft anbieten könnten. Damit will der Minister vor allem verhindern, dass die Privatversicherer der CMCM unlauteren Wettbewerb vorwerfen.

Doch zunächst scheint er die Büchse der Pandora geöffnet zu haben. Wenngleich zwischen den Zeilen ihrer Stellungnahmen versteckt, weisen Handelskammer und Staatsrat darauf hin, dass man 60 Millionen Euro Beitragseinnahmen der Caisse médico deshalb viel nennen kann, weil sie zwölf Mal so viel sind wie die Fünf-Millionen-Euro-Schwelle, bis zu der ein Versicherer von den Solvency-II-Regeln befreit ist, weil er „klein“ ist. Und so wie der Gesetzentwurf im Moment geschrieben ist, meint der Staatsrat, müsste künftig der Sozialminister Jahr für Jahr überprüfen, ob die CMCM die in Euro ausgedrückten Kriterien, wie ein Privatversicherer behandelt zu werden oder nicht, erfüllt. Und der Staatsrat erklärt, das Gesetz müsse klarer machen, was die Caisse médico von einem Versicherer unterscheide.

CMCM-Generaldirektor Secci alarmieren solche Sätze: Definiere man per Gesetz, was die CMCM anbieten darf und was nicht, käme das „der Totenglocke“ für sie gleich. Der Sozialminister dagegen nannte am Montag auf einer Pressekonferenz das Staatsratsgutachten „positiv, weil es uns sagt, wir müssen klarer zwischen Mutualität und Versicherern trennen“. Und Romain Schneider erklärte, ihn störe es nicht, Jahr für Jahr zu kontrollieren, ob die Caisse médico unter Solvency II falle. „Das mache ich heute auch schon.“

Das sind Aussagen, die es in sich haben. Tatsache ist, dass der Konkurrenzkampf zwischen CMCM und Privatversicherern 2010 ein erstes Mal richtig aufkam: Dass die Mutualität ein Leistungspaket einführte, das auch große Teile der Kosten für Zahnersatz übernimmt, nahmen die Privaten ihr übel. Ein weiteres Mal verschärfte die Lage sich, als der frühere UBS-Banker Secci Anfang 2015 den CMCM-Chefposten übernahm und mit den Worten „Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei“ nicht nur eine Werbekampagne für die CMCM startete, sondern in Presseinterviews erklärte, wie „wettbewerbsfähig“ sie gegenüber Privatversicherern sei und die schon mal „Profiteure“ nannte. Im selben Jahr überzeugte er die CMCM-Generalversammlung, die Mitgliedschaft in der Mutualität nicht länger ausschließlich von der in einer Sterbekasse abhängig zu machen, und nach einer weiteren Änderung ihrer Statuten begann die CMCM auch Gruppenverträge anzubieten, durch die ein Betrieb seine Mitarbeiter bei ihr einschreiben kann. Innovationen dieser Art lassen Aca-Direktor Hengen fragen, „ob die CMCM damit wirklich noch wie eine Mutualität handelt“.

Vermutlich aber hat sie kaum eine andere Wahl. Was ihr Chef an Maßnahmen ergriffen hat, soll die CMCM vor allem für Jüngere attraktiver machen. Die Zeiten, da sie eine Institution war wie der Automobilclub oder die Air Rescue und junge Menschen beim Eintritt in die Berufstätigkeit in eine Sterbekasse gingen und danach in die CMCM, sind vorbei. Zwischen 2006 und 2016 verlor sie 20 000 Mitglieder. Der Markt der Privatversicherer dagegen verdoppelte sich zwischen 2011 und 2016, „und er wächst weiter dynamisch“, stellt Marc Hengen zufrieden fest.

Weil die CMCM einzuschränken, heißen könnte, dass sie ihre besondere Rolle verliert, könnte damit das ganze System aus viel öffentlicher und nur wenig privater Gesundheitsversorgung ins Wanken geraten. Wem diese Aussicht nicht gefällt, könnte die Idee gut finden, der Sozialminister übernähme die „Kontrolle“ der CMCM. Jedoch könnte es einem Minister, der kein Sozialdemokrat ist, dann leicht fallen, die Zuständigkeiten zwischen CNS und CMCM neu aufzuteilen; vor allem, wenn es der CNS schlechter ginge. Dann könnte die CMCM für mehr als zwei Drittel der Bevölkerung zuständig werden. Was aber der Implikationen so viele sind, dass die Gesetzesänderung in dieser Lesgilaturperiode vielleicht gar nicht mehr zur Abstimmung gelangt.

Peter Feist
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