Weniger Smombie, mehr analog: Wie die Sekundarschulen die Nutzung des Smartphones einschränken

Nomophobie

Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 23.05.2025

Im Kolléisch ist es an diesem Montagnachmittag still auf den Gängen. Dann läutet die Pausenglocke, die Schüler/innen strömen hinaus, greifen in ihre Hosentaschen, um ihr Smartphone heraus zu kramen und zu schauen, was sie während der Schulstunde verpasst haben. Claude Heiser, blaue Krawatte und runde Brille, empfängt in seinem Besprechungsraum. Der Direktor der prestigeträchtigen Sekundarschule hat die letzten Monate gemeinsam mit der Schulgemeinschaft an einer Strategie für die private Handynutzung gearbeitet.

Der liberale Bildungs- und Jugendminister Claude Meisch hatte zur Rentrée 2025 im Rahmen seiner Screen-Life-Balance-Kampagne allen Lyzeen aufgetragen, bis Pfingsten ein neues Konzept vorzulegen. Es ist als eine Art nationale Handbremse zu verstehen. Am Montag stellte Meisch die Resultate der Presse vor: Sechs Schulen von 38 bleiben bei der Mindestanforderung, das Handy während den Kursen aus der Sichtweite zu haben – vor allem Schulen ohne cycle inférieur, zum Beispiel die École de Commerce et de la Gestion, die Hotelsschoul oder das LTPES. Fünf Sekundarschulen (Lycée Bel-Val, Schengen Lyzeum, Ermesinde, École Internationale Gaston Thorn, École internationale Anne Beffort) haben ein komplettes Verbot eingeführt, die Schülerschaft gibt ihr Smartphone morgens ab und bekommt es nach Schulende wieder. 27 Lyzeen machen etwas dazwischen, erklären mitunter auch Zonen wie die Kantine oder Bibliothek als handyfrei. Meisch plädiert für eine digitale Maturität, die ab 15 Jahren einsetze – bis dahin bleibt das Wifi-Netz eduroam ihnen unzugänglich. Der Zugang zum I-Pad wird ab der Rentrée insbesondere in den unteren Klassen angepasst, ein eigenes I-Pad bekommen die Jüngeren nicht mehr. Es ist de facto ein Rollback der One-on-One-Initiative, die den Schüler/innen jahrelang Tablets ohne richtiges Konzept zur Verfügung stellte. Content-Filter und Altersbeschränkungen sollen gefährliche Inhalte sperren.

„Wir machen einen großen Unterschied zwischen den Alterskategorien“, sagt Claude Heiser. Die Schüler/innen zwischen zwölf und 15 dürfen das Handy lediglich in den größeren Pausen, das heißt um 10 Uhr und in der Mittagspause nutzen. Auch während der Surveillance soll das Handy verboten bleiben. Dazu soll der gesamte Nordflügel des Gebäudes, der die Schüler von Septième bis Quatrième beheimatet zur handyfreien Zone erklärt werden. Ziel ist es, die sogenannten Smombies zu vermeiden. Also jene Zwölfjährige, die bereits vor 8 Uhr morgens Dutzende Videos gebinged haben und auf ihr Handy starrend in den Gängen rumliegen, statt sich in ihrem ersten Jahr am Gymnasium mit den anderen auszutauschen und in die Schulgemeinschaft zu integrieren. „Wir brauchen ein Detox. Ein harter Entzug ist jedoch zuviel“, meint Claude Heiser.

Es stelle sich die Frage der Machbarkeit. Ein strikteres Handyverbot sei aufgrund der Infrastruktur und der Wanderklassen nicht vorstellbar. Wo sollen die Schüler/innen ihr Handy einschließen? Bereits vor zwei Jahren entschied man sich für Handyhotels. Da die Vorgabe des Ministeriums nun weiter geht, müssen Lösungen wie etwa Stofftücher oder ähnliches gefunden werden, die das Handy für die Schülerschaft im Klassensaal unsichtbar machen. Im Kolléisch haben mehr als 70 Prozent des Lehrpersonals eine „In-Between“-Strategie befürwortet. Der Direktor fügt hinzu, dass die Regeln auch verschärft werden können, je nachdem, wie es läuft.

Claude Heiser merkt an, die Schüler/innen würden, würde man sich für ein komplettes Verbot entscheiden, ihre Bildschirmzeit exzessiv zuhause nachholen. Das könnte eine Reaktion sein. Allerdings könnte weniger Nutzung in der Schule auch zu neuen Gewohnheiten führen, die sich in der Freizeit fortsetzen. Hat man sich den Überkonsum und die Abhängigkeit erstmal abgewöhnt, kann die Mäßigung zur Normalität werden.

Dabei hatte Minister Claude Meisch den Schulen überlassen, auf welche Härtestufe sie umstellen wollen. Diese Autonomie hat das Ministerium in den letzten zwölf Jahren bewusst gefördert und ihre Notwendigkeit mit der Heterogenität der Schüler begründet. Tatsächlich haben die Profile, die die Schulen in dieser Art bereits in den 80er- und 90er- Jahren hatten, sich geschärft. Die Schulen treten verstärkt mit ihrem Angebot nach außen, Schüler/innen besuchen sie zum Teil schon im Cycle 4.1 bei Tagen der Offenen Tür, um ihre „perfekte“ Sekundarschule zu finden. Die unterschiedliche Handhabung der Handynutzung wird ein weiteres Merkmal sein, das sich die Jugendlichen anschauen und ihren Eltern als Argument für ihre Wahl anführen. Dabei dürften die wenigsten die strengsten Einschränkungen bevorzugen.

Der Direktor des Lycée Michel-Rodange, Jean-Claude Hemmer, hat einen Steinwurf entfernt vom Kolléisch eine strengere Linie gewählt. Er wird die Handynutzung im Gebäude verbieten – erlaubt wird sie nur für kurze Schulzwecke, etwa um eine Änderung im Stundenplan zu bestätigen. Private Handynutzung muss außerhalb des Gebäudes stattfinden. Wenn die Jugendlichen dann bei Minusgraden draußen auf ihrem Handy Videos schauen oder auf Social Media hängen, „werden sich die Werte vielleicht auch verschieben, und der Komfort bevorzugt werden“, sagt Jean-Claude Hemmer im Gespräch mit dem Land. Ab der Rentrée wird das Projekt Silence On lit! Im LMRL beginnen, das zehn Minuten ruhige Lesezeit auf Papier – nicht Pflichlektüre wie Faust oder Rhinocéros sondern private – in den Alltag integriert.

Mit dem Schülerkomitee war die Smartphone-Strategie besprochen, mit den Schüler/innen nicht. Beliebt macht Jean-Claude Hemmer sich damit kaum. Taktisch versiert wählte er einen Freitagabend, um ihnen die Botschaft zu überbringen. Sie sind nicht begeistert: 217 Daumen runter gibt es dafür, 29 hoch.

Erwachsene wissen, dass es nach der Nutzung des Smartphones einige Minuten dauern kann, um sich wieder völlig zu konzentrieren. Insofern kann es für die Jugendlichen ablenkend sein, ständig zwischen handyfrei und online hin und her zu wechseln. Die meisten Schulen mussten sich trotzdem die Frage der Eigenverantwortung stellen: Wer soll auf mehr als tausend Handys aufpassen? Die Antwort lautete oft: Niemand – und deshalb bleibt es beim Schüler. „Die meisten haben I-Phones. Das sind dann insgesamt Telefone im Wert von Hunderttausenden Euro“, erklärt Jean-Claude Hemmer. Einige Schulen wie das LGL investieren in magnetische Taschen, die sich nur nach der Schule entriegeln lassen. Das Lycée Vauban hat dieses Modell bereits für alle Schüler der Sixième bis Seconde eingeführt.

Dabei ist eine gewisse Abhängigkeit vom Handy fast überall in den Schulalltag eingebaut. Jugendliche nutzen die Stundenplan-App Untis, die Änderungen und andere Informationen bündelt. Obwohl sie auch aushängen, nutzen die Schüler/innen vorrangig das Handy. Hat man das Smartphone erst mal in der Hand, ist der Klick zu den anderen Apps ein leichter. Es ist ziemlich viel von einem 13-Jährigen verlangt, den Dopamin-Rush selbst zu unterdrücken.

Ein Bericht von Beesecure zeigte vergangenes Jahr erneut, was die Kinder und Jugendlichen auf ihren Handys und anderen digitalen Geräten treiben. Youtube ist in jeder Kategorie ein Hit. Doch während die Kleineren (acht bis zwölf) vor allem auf YouTube spielen, nutzen die Zwölf- bis 16-Jährigen vermehrt WhatsApp und Snapchat sowie Musik-Streaming. Satte 248 Minuten Bildschirmzeit verzeichnen die Jugendlichen zwischen zwölf und 16 an einem Wochentag, also mehr als vier Stunden. (Mehrere Gesundheitsorganisationen empfehlen ein Maximum an zwei Stunden täglich.) Das Lehrpersonal ist mit 222 Minuten knapp dahinter, Eltern 167 Minuten. Das Detox betrifft alle. Die Zahlen decken sich mit dem Ausland. In den Vereinigten Staaten etwa wurden im Rahmen einer Erhebung der NGO Common Sense Media viereinhalb Stunden Screentime täglich bei den Schüler/innen zwischen elf und 17 festgestellt. Das war 2023, wahrscheinlich ist die Bildschirmzeit eher gestiegen.

Die gleiche Studie ergab, dass Jugendliche durchschnittlich mehr als 237 Benachrichtigungen pro Tag bekommen, ein Viertel davon ging in den Schulstunden ein. Dabei würden manche Jugendliche sich jedoch bewusst, dass diese Flut sie ablenke und stellen die meisten ab, erklären die Befragten. Paolo Ippolito, Französischlehrer am Kolléisch, bestätigt dies. In einer Septième-Klasse forderte er seine Schüler/innen auf, die Handys in der Klasse anzuschalten. Sie vibrierten permanent. Oft waren es Eltern, die ihren Kindern während den Schulzeiten schrieben. Sie sind es schlichtweg nicht mehr gewohnt, mehrere Stunden nichts von ihrem Kind zu hören.

Die jüngste Pisa-Studie aus dem Jahr 2022 zeigte, dass die Jugendlichen, die ihre Benachrichtigungen abschalteten, um 19 Punkte besser abschnitten als die anderen. Die Leistungen verschlechtern sich, desto mehr die Schüler zum Zeitvertreib am Handy sind. Der genaue kausale Zusammenhang ist trotzdem etwas unklar – möglicherweise liegen der hohen Bildschirmzeit und schlechten Leistung auch Konzentrationsschwierigkeiten zugrunde.

Eine völlig andere Schülerschaft als das Geesseknäppchen besucht das LTL in Esch/Alzette. Die Direktorin Cynthia Recht hat sich für ein mittelstrenges Modell für alle entschieden. Mit knapp 1 700 Schüler/innen, die zum Teil aus sozial schwachen Familien kommen, sei es nicht möglich gewesen, nach Alter aufzuteilen. In der Cinquième säßen auch mal 17-Jährige : „Es ist schwierig, den anderen dann zu erklären, weshalb diese Person darf und die anderen nicht.“ Das Handy ist auch während der Surveillance im Flugmodus. Die Schule hat Kartenspiele, Schach und andere Gesellschaftsspiele angeschafft um diese Zeit zu überbrücken. Es kommt gut an, berichtet Cynthia Recht. Wie im Kolléisch muss das Handy in den Fünf-Minuten-Pausen im Rucksack bleiben, um 10 Uhr und in der Mittagspause dürfen die Schüler ran. Dabei sei das Handy in der Kantine kein Problem. Zusätzlich wird ein handfreier Mittwoch im Jugendtreff, einem außerschulischen Treffpunkt, eingeführt und ab September ein komplett handyfreier Tag pro Semester.

Mit der Nomophobie, der No-Mobile-Phobia, werden jedenfalls nach Pfingsten alle den Umgang lernen müssen: die Angst, die einsetzt, wenn das Handy nicht griffbereit ist. Das Observatoire national de la qualité scolaire wird das Projekt evaluieren, auch im Hinblick des Wohlbefindens.

Und was passiert, wenn jemand sich nicht dran hält? Jean-Claude Hemmer etwa erklärt seinen Schüler/innen, dass das Smartphone bis zum Schulschluss am gleichen Tag beschlagnahmt wird. Passiert das öfter, liegt es irgendwann beim Direktor. Ein anderes Ergebnis der Pisa-Studie war übrigens, dass 34 Prozent trotz Verbot täglich oder mehrmals täglich zum Handy greifen – weniger, als wenn es gar keine Einschränkungen gibt. Nur etwa jeder Zehnte lässt das Handy ohne Einschränkung von außen den ganzen Tag in seinem Rucksack.

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Sarah Pepin
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