Der Erzbischof und sein Sprecher haben Recht. Es geht bei der Reform des Abtreibungsgesetzes ums Prinzip. Für die katholische Kirche ist es das Prinzip, ungeborenes Leben zu schützen. Um fast jeden Preis. Dabei beruft sich der Erzbischof in seinem eilig vor der Parlamentsabstimmung veröffentlichten Hirtenbrief ausgerechnet auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die das menschliche Leben unter Schutz stellt. In den Augen der Kirche ist damit in erster Linie das des Ungeborenen gemeint.
Dass das Leben der Schwangeren für die Kirche weniger wert ist, belegt der Fall, der jüngst vorm Europäischen Menschenrechtsgerichtshof verhandelt wurde. Eine 14-jährige Polin war von einem „Freund“ vergewaltigt worden und hatte, bevor sie einen Arzt fand, der die Schwangerschaft abbrach, einen regelrechten Spießrutenlauf hinter sich. Kurzzeitig landete sie per Familiengerichtsbeschluss sogar im Erziehungsheim. Dabei haben selbst im erzkatholischen Polen Vergewaltigungsopfer ein Recht auf Abtreibung. Im brasilianischen Recife haben Ärzte gegen den Widerstand des Erzbischofs Zwillinge bei einem neunjährigen Mädchen abgetrieben, das vergewaltigt worden war. Die Ärzte waren überzeugt, sie hätte eine Schwangerschaft nicht überlebt – und wurden als Strafe für ihre Hilfe von der Kirche exkommuniziert.
Beide Fälle zeigen: Die katholische Kirche hat eine sehr einseitige Sicht auf den Schutz und den Wert von Leben. Der Luxemburger Erzbischof drückt sich zwar geschickter aus als seine Glaubensbrüder in Brasilien, Polen und in den Vereinigten Staaten, die eine Vergewaltigung als „gottgegeben“ darstellen und von den betroffenen Frauen erwarten, dieses vergiftete „Geschenk“ anzunehmen. Jean-Claude Hollerich nennt Vergewaltigung schweres Unrecht, das hart bestraft gehöre. Aber seine Wortwahl vom „Leben als Wunder und Geschenk“ und die Penetranz, mit der notleidenden Frauen nahegelegt wird, eine ungewollte Schwangerschaft doch auszutragen, Ärzten und Abgeordneten ins Gewissen geredet wird, gehen in dieselbe Richtung.
Es geht beim Recht auf Abtreibung nicht allein um das Los von Opfern männlicher Gewalt. Es geht um ungewollte Schwangerschaft und um das Recht jeder Frau, über ihren Körper, ihre physische und psychische Gesundheit selbst zu entscheiden. Das hat die Menschenrechtskommission in ihrem Gutachten zur Reform auch so gesehen. Dass Selbstbestimmung und Gesundheit der Frau nicht oberstes Anliegen der männerdominierten Institution Kirche ist, erstaunt nicht. Dass ausgerechnet kirchliche Vertreter sich neuerdings auf die Menschenrechte berufen, und dabei das ebenfalls verbriefte Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung der bereits Lebenden einfach ignorieren, zeigt, wo die Kirche in der Frauenfrage auch im 21. Jahrhundert noch steht. Als wären Frauen unmündig, als würden Schwangere, die abtreiben, dies gedanken- und gewissenlos tun.
Bemerkenswert ist aber, dass auch die LSAP, jene Partei, die so gerne für sich reklamiert, auf der Seite der Frauen zu stehen und für eine Trennung von Kirche und Staat zu sein, im Grunde nicht viel anders denkt, wenn sie die zweite Pflichtberatung für einen vertretbaren Kompromiss hält. Ein Kompromiss auf Kosten der bevormundeten Frauen. Dabei ist jeder Arzt, ist jede Ärztin verpflichtet, Patientinnen über mögliche Risiken eines medizinischen Eingriffs umfassend aufzuklären, weshalb sich die Gesellschaft der Gynäkologen auch gegen eine zweite Pflichtberatung ausgesprochen hatte. Die LSAP ficht das nicht an, sie geht den Kuhhandel mit der CSV trotzdem ein. Und auch wenn Artikel für Artikel abgestimmt werden soll, ist davon auszugehen, dass die Sozialisten der Reform am 22. November mit absoluter Mehrheit zustimmen werden. Einen neuen Koalitionsstreit wie bei der Euthanasie will keiner riskieren. Es geht schließlich doch um ein Prinzip: das des Machterhalts.
Ines Kurschat
Kategorien: Frauen
Ausgabe: 12.10.2012