Das Audit von Laplace Conseil über Arcelor-Mittal Rodingen-Schifflingen (AMRS), das dem Land vorliegt, ist ein heißes Eisen, das nicht jeder anfassen möchte. Vor allem nicht Arcelor-Mittal (AM), denn die Pariser Unternehmensberater geben dem Stahlkonzern in vielerlei Hinsicht Unrecht, was die Vorgehensweise und das Management der vergangenen Monate betrifft. Zur Erinnerung: Im März hatte der Konzern die unbefristete Stilllegung des Schifflinger Stahlwerks angekündigt und die Produktion in den zum Werk gehörenden Walzstraßen weitestgehend zurückgefahren. Vergangene Woche wurde beschlossen, auch die Drahtstraße STFS unbefristet zu schließen. Damals wie heute lautet das Argument des Konzerns: Wegen der Krise in Europa sei die Nachfrage nach den Produkten von AMRS, wenig speziellen Drähten und Baustahl, nach wie vor niedrig. Es gebe Überkapazitäten. Deswegen sei die Stilllegung unumgänglich.
Der OGBL seinerseits hatte eine Machbarkeitsstudie über den Weiterbetrieb von AMRS vorgelegt. Und bereits am 27. März lag der Bericht von Laplace Conseil vor, der Unternehmensberatungsfirma, die im Auftrag der Regierung überprüfte, wie realistisch das vom OGBL aufgezeichnete Szenario ist. Besprochen wurde es von den Mitgliedern der Stahl-Tripartite aber erst vergangenen Freitag, was Zweifel auf die Bereitwilligkeit von Regierung und AM wirft, sich ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Die Berater von Laplace Conseil geben AM zu allererst einmal Unrecht, was die Einschätzung der Konjunkturlage angeht. Zwar verneinen auch sie nicht, dass Europa in der Krise steckt. Allerdings raten sie davon ab, als Referenz für die Nachfrage- und Produktionsniveaus das Jahr 2007 zu nehmen, weil die damaligen Höchstwerte auf spekulativ angelegten, übermäßig hohen Lagerbeständen beruhe. Genau das aber macht die Konzernleitung regelmäßig; noch vergangenen Freitag wies AM-Manager Nico Reuter darauf hin, die aktuelle Nachfrage hinke 26 Prozent hinter der von 2007 her. In welchem Produktsegment oder geografischen Bereich führte er nicht aus. Dabei ist das nicht unerheblich. Die Machbarkeitsstudie des OGBL läuft darauf hinaus, in Schifflingen mit 350 bis 390 Vollzeitmitarbeitern 650 000 bis 800 000 Tonnen Stahl jährlich zu produzieren. Laplace glaubt, dass diese Tonnage, trotz der Vorbehalte von AM, Abnehmer finden könnte. Weil der Langstahlmarkt hauptsächlich ein lokaler Markt sei und der Verkaufsradius nicht über 500 Kilometer betragen sollte. Demnach würden die Produkte der Luxemburger Langstahlwerke vor allem nach Deutschland, Frankreich und in die beiden anderen Benelux-Länder exportiert, deren wirtschaftliche Lage laut Laplace nicht mit der in Südeuropa vergleichbar ist. Im Klartext soll das heißen, mit der Immobilienkrise in Spanien lässt sich keine Werkschließung in Schifflingen rechtfertigen. Weil der Konkurrent TSW aus Trier vergangenen Herbst Insolvenz anmelden musste, sei zudem das regionale Angebot um 550 000 Tonnen jährlich zurückgegangen. Unter diesen Umständen scheint es Laplace technisch möglich, die geplante Tonnage zu platzieren. „Il faudrait cependant regagner des parts de marchés perdues récemment par le groupe et rééquilibrer la production des autres unités d’Arcelor-Mittal, notamment à Duisbourg et Hambourg, ce qui implique un changement important de stratégie d’Arcelor-Mittal.“
Laplace Conseil gibt Arcelor-Mittal, wie auch den Gewerkschaften, Unrecht, was ihre Fixierung auf „Produkte mit hohem Mehrwert“ betrifft, die auch in Hochlohnländern wie Luxemburg rentabel hergestellt werden könnten. Der Markt für derartig spezifische Produkte sei zu klein, als dass die Mehrzahl der Hersteller ihre Produktion darauf ausrichten könnten, meinen die Unternehmensberater. Hinzu kommt laut Laplace, dass die Produktionskosten für Spezialstahl schnell ansteigen, weil das Verarbeitungsmaterial möglichst rein sein muss. Weshalb beispielsweise mit Roheisen oder Roheisenabfällen gearbeitet werden muss; Material, das viel teurer in der Beschaffung ist als Schrott, der neben Eisen auch noch andere Stoffe enthält. Dass der Konkurrent aus Trier Insolvenz anmelden musste, führt Laplace darauf zurück, dass man es dort nicht geschafft habe, den Rohstoffeinkauf auf die Qualitätsanforderungen für die fertigen Produkte einzustellen. Bevor man eine solche Umstellung in Schifflingen vorsehe, sollten also einerseits die Kundenbedürfnisse im Einzugsgebiet eingehend geprüft und andererseits sichergestellt werden, dass es im Zulieferungsgebiet ausreichend hochwertigen Schrott gibt, der zu hochwertigen Produkten weiterverarbeitet werden könnte.
Eine Prüfung der Kundenbedürfnisse setzt voraus, dass es Kundenbedürfnisse gibt, also eine Nachfrage. Die Unternehmensberater machen darauf aufmerksam, dass die pessimistischen Konjunktureinschätzungen von AM lange nicht von allen Vorhersageinstituten geteilt werden und sich die Analysen von AM manchmal selbst widersprechen. Zum Beispiel wenn der Konzern einerseits damit rechnet, dass die Stahlproduktion in den EU-15-Ländern zwischen 2011 und 2012 um fünf Millionen Tonnen ansteigen, andererseits aber der Verbrauch von fertigen Produkten in der gleichen Zeit um sieben Millionen Tonnen sinken wird. Die Berater sehen davon ab, genau zu bestimmen, wie viele der Schifflinger Aufträge tatsächlich auf andere Werke in Duisburg, Hamburg, Sosnowiec und Zumarraga umverteilt werden und welche Folgen die Produktionskonzentration auf wenige Werke hat – wie es in der Optimierungsstrategie von AM vorgesehen ist. Sie halten aber fest: „... ce qui semble indiscutable pour les observateurs du marché, ce sont les pertes de parts de marché enregistrées par le groupe Arcelor-Mittal qui se sont manifestées depuis le changement (annoncé début 2011) des priorités stratégiques du groupe en faveur des activités minières.“ Ein Marktanteilsverlust, der sich nach der Ankündigung der Optimisierungsstrategie im Herbst 2011 noch verstärkt habe. Zwischen 2006 – Zeitpunkt der Fusion von Mittal Steel und Arcelor – und 2010 sei der Marktanteil von AM quer durch alle Sparten in Europa von 29 auf 24 bis 25 Prozent gefallen. Laplace lässt wenig Zweifel daran aufkommen, warum AM im Segment der Schifflinger Produktpalette verliert: Die Kunden sind sauer. Das haben sie Laplace Conseil in Gesprächen zu Protokoll gegeben: „Les responsables interrogés (essentiellement des tréfileurs et des distributeurs) nous on dit être particulièrement mécontents et inquiets de la politique du groupe qu’ils perçoivent comme une concentration excessive de la production et une raréfaction de l’offre afin de tenter de maintenir des prix plus élévés.“ Deswegen kaufen sie verstärkt bei der Konkurrenz ein und nehmen dafür längere Transporte in Kauf. So kommen die Unternehmensberater zum Schluss, dass die Konkurrenten – Riva, Saarstahl, Feralpi, Beltrame, Duferco – vom freiwilligen Rückzug von AM profitiert haben.
Gerade noch diplomatisch sagt Laplace Conseil, das man sie zwar nicht beauftragt habe, zu bewerten, ob die Konzentrationsstrategie von AM stichhaltig sei. Aber: „Cependant nous notons que pour le cas spécifique du fil et du rond dans le Nord de l’Europe, la réaction très négative des clients que nous avons enrégistrée conduira à des affaissements des parts de marchés qui risquent d’annuler le bénéfice de cette concentration.“ So kommt Laplace Conseil zur wiederum sehr deutlichen Schlussfolgerung: „En synthèse nous estimons que les justifications de la fermeture par la faiblesse des marchés sont excessives et sans doute inutilement pessimistes et qu’une politique alternative pourrait permettre de regagner les parts de marchés dans les produits courants et remettre en question la décision de fermeture.“ Damit ARMS wieder erfolgreich produzieren und verkaufen könnte, brauche es eine Strategie, die darauf abzielt, diese Gelegenheit zu ergreifen, sowie ein abgestimmtes Vorgehen aller Tripartie-Partner.
Die Unternehmensberater haben die Lage in den verschiedenen Werken der AMRS-Gruppe detaillierter untersucht. Bei einer Produktpalette, wie sie AMRS produziere, betrage der Kostenfaktor Schrott 60 Prozent im Verkaufspreis, die direkten Arbeitskosten hingegen nur zwölf Prozent. Um insgesamt wettbewerbsfähig zu sein, komme es also vor allem darauf an, in der Einkaufspolitik wettbewerbsfähig zu sein. AMRS wurde bis zur Stilllegung über eine externe Einkaufszentrale mit Schrott versorgt. Ob das allerdings die effizienteste Lösung ist, scheint fraglich. In puncto Stromkosten sieht Laplace kaum Probleme: Schifflingen habe in Frankreich eingekauft, dem günstigsten Produzenten für stromintensive Industrieanlagen. Auch sonstige Materialien könne sich AMRS über den Konzern günstig besorgen. Dass die Arbeitskosten nicht weiter beleuchtet werden, liegt wahrscheinlich daran, dass die Arbeitskosten ein verhältnismäßig kleiner Kostenfaktor sind und die OGBL-Studie, auf der die Laplace-Arbeit basiert, nicht näher das Thema Lohnkosten eingegangen ist.
Denn die OGBL-Studie ist vor allem eine technische Studie, wie Jean-Claude Bernardini, zuständiger Gewerkschaftssekretär, erklärt. Sie basiert auf zwei Hauptelementen: einerseits dem Bau einer Schrotthalle, die eine bessere Lagerung und Füllung des Kessels zulässt – sprich, ein besseres Schrottmanagement. Dass AMRS einen angepassten Schrottpark braucht, bestätigen die Unternehmensberater, die den aktuellen Schrottpark als zu klein empfinden und darin das Hauptproblem des Schifflinger Stahlwerks sehen, dem sie ansonsten ein gutes Zeugnis ausstellen. Anderseits beruht der OGBL-Plan auf einer Produktionsreduzierung. Das Schifflinger Elektrostahlwerk verfügt aktuell über zwei Öfen und damit über eine Produktionskapazität von 1,3 Millionen Tonnen jährlich. Einzeln können die Öfen nicht beheizt werden, sondern immer nur zu zweit, wodurch Zusatzkosten entstehen, wenn nur bei halber Kraft produziert wird, so Bernardini. Deshalb der OGBL-Vorschlag: einen Kessel abmontieren und bei halber Kapazität die Kosten entsprechend senken. So könnten laut OGBL-Vorschlag mit einer Belegschaft von 350 bis 390 Mann zwischen 650 000 und 800 000 Tonnen produziert werden, wovon auf der Drahtstraße STFS 400 000 bis 500 000 Tonnen und im TLM bis zu 200 000 Tonnen weiterverarbeitet würden. Ein realistisches Mitarbeiter-Produktionsverhältnis, wie Laplace findet. Dass ein gewisser Teil der administrativen Kosten der Gruppe auf AMRS abgewälzt werde, belaste die Werke, hält Laplace fest, das von einer kleineren Mangement-Struktur, einem KMU angepasst, profitieren könnte.
Nicht wirklich günstig findet die Beratungsfirma dagegen die Pläne des OGBL, die Produktion auf der Mitteleisenstrecke TLM, die AM an die Firma Beltrame abgetreten hat, wiederaufzunehmen und stattdessen eher die Straße C in Rodingen zu schließen. Für die Straße A in Rodingen, die interessante Nischenprodukte, wie Straßenbahnschienen, produziert, empfiehlt Laplace, zu prüfen, von welchem Stahlwerk die Walzstraße am besten mit Halbzeug eingedeckt wird. Der Drahtstraße STFS bestätigt sie eine hochwertige Produktion und viele Möglichkeiten, die Produktpalette zu variieren. Doch unbedingt in Nischenprodukte einsteigen zu wollen, davon rät Laplace wegen der steigenden Komplexität und Kosten ab.
Für acht Millionen Euro würde ein neuer Schrottpark stehen, für 3,5 Millionen ein Ofen abgebaut. Investitionen, die aus Schifflingen ein so genanntes Miniwerk machen würden, das, wenn es gut gemanagt und auf die Bedürfnisse der Kunden sowie auf die Rohstoff-Bezugsmöglichkeiten eingestellt ist, überlebensfähig sein kann, so die Berater. Das würden Beispiele bei Konkurrenzunternehmen zeigen. „L’usine de Schifflange ne souffre d’aucun handicap structurel et possède de réels atouts, notamment son prix d’électricité et sa proximité au marché de l’Allemange.“ Falls sich Anteilseigner, Management, Ingenieure und Personal auf eine Funktionweise einigen könnten, wie sie der OGBL-Plan vorsieht, und die Einwände der Unternehmensberater berücksichtigten: „il ne fait auccun doute que Schifflange puisse redevenir rentable et que Rodange puisse continuer à se développer dans son marché de niches“. Aber dafür müsse man sich schnell entscheiden, „car les clients n’attendront pas“, schrieb Laplace Conseil im März. Fast acht Monate hat es gedauert, bis die Partner der Stahltripartite überhaupt darüber geredet haben. Arcelor-Mittal teilt vor allem die Konjunktur-Analyse von Laplace nicht. Zwar hielten die Unternehmensberater die frühere Einschätzung von Arcelor-Mittal für überzogen, erklärte Nico Reuter am Freitag für den Konzern, mittlerweile aber sei die Situation noch schlechter als in den früheren Schätzungen angenommen. Verkaufen will Arcelor-Mittal nicht. Zu den Ursachen macht der Manager keine Angaben. Nur so viel: Die Werke seien ja nicht definitiv, sondern auf unbestimmte Zeit stillgelegt, da könne man nicht nach einem Käufer suchen, sondern werde auf Grundlage der Konjunktur entscheiden, ob sie wieder angefahren würden. Nächster Termin, um zu klären, wie gut oder schlecht die Wirtschaftslage ist, ist im März 2013. Bis dahin, glaubt man den Unternehmensberatern, dürfte die Kundenbasis zerstört sein.
„Industrieller Genozid“
Mit einem Brief an die Wirtschaftsminister von Belgien, Frankreich und Luxemburg sind die Gewerkschaften OGBL, CGT und MWB FGTB in die Offensive gegangen, um sich gegen die Stilllegung von Hochöfen und Werken in Nordfrankreich und Lüttich zu wehren. Darin werfen sie Arcelor-Mittal vor, eine Raubtier-Strategie zu verfolgen. Der Konzern baue die Produktionsanlagen innerhalb Europas ab, um Anlagen außerhalb der EU aufzubauen, wo es billige Arbeitskräfte und wenig Umweltauflagen gibt. Außerdem konzentriere der Konzern sich zunehmend aufs Minengeschäft, um höhere Renditen und dadurch höhere Dividenden für die Aktionäre zu erzielen. Rückhaltlose Anschuldigungen? Wohl kaum. Der Konzern selbst hat 2011 angekündigt, sich verstärkt im Minengeschäft zu engagieren und die Investitionspolitik darauf ausgerichtet. So wurde 2011 vor allem in Minenprojekte in Liberia, Brasilien und Kanada investiert, Investitionen in Stahlwerke hingegen zurückgeschraubt, wie man in der Jahresbilanz nachlesen kann. Warum, zeigt ein weiterer Blick in die Bilanz: Der operative Gewinn aus dem Minengeschäft stieg von 1,6 Milliarden Dollar 2010 auf 2,5 Milliarden 2011. Die operative Gewinnmarge in der Minensparte betrug 2011 41 Prozent, im Langstahlgeschäft in Amerika und Europa hingegen nur sieben Prozent. Bei einer Pressekonferenz am Montag beschuldigte Yves Fabbri von der CGT AM des „industriellen Genozids“ in Europa. Die Gewerkschaften werfen die Frage auf, ob Europa diesen Rückbau der Produktionsanlagen durch den dominierenden Konzern hinnehmen kann. Dass diese Frage auch die Politik interessiert, sieht man daran, dass mittlerweile eine Arbeitsgruppe um den Europäischen Industriekommissar Antonio Tajani gebildet wurde, die sich mit den Auswirkungen der EU-Klimapolitik und der EU-Regulierung, aber auch der EU-externen Billigkonkurrenz auf die Stahlbranche beschäftigt. Bis zum Frühling 2013 soll die Gruppe Instrumente entwickeln, durch die beispielsweise Dumping-Produkte aus dem Markt gehalten werden können, erklärte Nico Cué vom MWB FGTB, Mitglied der Gruppe, am Montag. Ob zum Instrumentarium aber auch eine Regulierungsbehörde nach dem Vorbild der ehemaligen Ceca gehören wird, wie die Gewerkschaften fordern, ist mehr als ungewiss.