„Hören Sie auf mich zu beleidigen“, so konterte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Attacken, denen er sich am Montag im Europäischen Parlament ausgesetzt sah. Das Parlament diskutierte den Misstrauensantrag der Fraktion „Europa der Freiheit und direkten Demokratie“, eingebracht wegen LuxLeaks. Von ganz links und ganz rechts warf man Juncker noch einmal vor, den multinationalen Konzernen Milliarden in die Taschen geschoben zu haben. Er sei beschmutzt, hieß es. Der Antrag war von vornherein eine Totgeburt. Juncker wurde von den Christdemokraten bis zu den Grünen gestützt. Bei der Abstimmung im Europaparlament stimmten nur 101 der 751 Abgeordneten für den Vorstoß von EU-Skeptikern und Populisten.
Dass überhaupt ein Misstrauensantrag gestellt wurde, sollte den Luxemburger nicht grämen. Er ist das Mindeste, was sich ein Parlament angesichts der ungerechten Steuerpraxis fast aller EU-Mitgliedstaaten leisten muss. Juncker ist ein zu schöner Sündenbock, als dass man ihn ungeschoren laufen lassen könnte. Bedenkenswert ist da schon eher die Begründung, warum der Misstrauensantrag von den Christdemokraten über Liberale und Grüne bis hin zu den Sozialisten abgelehnt wird: Man könne sich die Bestallung einer neuen Kommission schlichtweg nicht leisten, es komme vielmehr darauf an, dass die Kommission endlich kraftvoll mit der Arbeit beginne.
Die Beteuerung Junckers, er werde sich für eine Steuerharmonisierung einsetzen, ist wohlfeil. Auf sein Wollen kommt es in dieser Angelegenheit nicht an, die Staaten haben in Sachen Steuern ein Vetorecht, an das sie sich klammern, wie der Ertrinkende an einen Strohhalm. Sein Gesicht hat Juncker in der LuxLeaks-Affäre dennoch verloren. Der Papst nutzte am Dienstag in seiner Predigt vor dem EU-Parlament dieses Bild, bezog es aber auf ganz Europa. Der alte Kontinent müsse dringend sein Gesicht wieder entdecken, sagte er, Europa hat es also auch verloren, was Juncker trösten mag. Franziskus beschwor die Zuhörenden regelrecht, dass die Stunde gekommen sei, ein Europa aufzubauen, das sich um die Heiligkeit des Menschen und nicht um die Wirtschaft drehe, und rief unter anderem dazu auf, den Himmel und die eigenen Ideale wiederzuentdecken.
Jean-Claude Juncker hat am Mittwoch auf seine Weise versucht, dem gerecht zu werden. Er stellte im EU-Parlament die am Tag zuvor von der Kommission offiziell in den Gesetzgebungsprozess eingespeiste „Investitionsoffensive für Europa“ vor. Als Politiker weiß er, dass am Ende die Wirtschaftslage darüber entscheidet, ob man den Himmel auf die Erde holen kann. Die sieben mageren Krisenjahre sollen endlich zu Ende gehen. Damit es wieder fette Jahre werden, will Juncker vorhandene Gelder „hebeln“, um sie effektiver einzusetzen. Neben dem Geldhebel setzt er noch einen weiteren Hebel an. Mit Hilfe von Parlament und Öffentlichkeit will er die Mitgliedstaaten so unter Druck setzen, dass sie endlich ein paar dringende strukturelle Reformen auf der europäischen Ebene umsetzen. Kernstück dieser Reformen ist ein gemeinsamer Markt für den Digital- und Energiesektor sowie die öffentliche Beschaffung. Das Ganze soll bis zum Sommer 2015 in Gesetze gegossen sein, wahrlich eine Herkulesaufgabe. Doch ob Juncker in ein paar Jahren als Herkules gefeiert oder als Don Quichote belächelt wird, liegt tragischerweise nicht in seiner Hand.
Juncker will einen neuen Aufbruch für Europa. Nach Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen sei jetzt die Stunde der Investitionen gekommen, sagte er und lief damit im Parlament offene Türen ein. Die Kommission will mit Geldern aus den Strukturfonds und Einlagen der Europäischen Investmentbank (EIB) einen Europäischen Investitionsfonds auflegen. Aus 21 Milliarden Euro sollen so garantierte Kredite über 315 Milliarden Euro werden, die letztlich die EIB vergibt. Der Clou dabei ist nicht nur die Hebelwirkung, sondern auch die gemeinsame Projektprüfung und -beratung durch Kommission und EIB. Werner Hoyer, Präsident der EIB, betonte, dass gerade der Beratung eine gar nicht zu überschätzende Bedeutung zukäme. Er sprach davon, dass es bereits jetzt über eintausend sinnvolle Projekte gebe, dass die Investoren aber häufig größere Klarheit über die Rahmenbedingungen einforderten, bevor sie investieren wollten. Auch deshalb seien die Strukturreformen so wichtig.
Jean-Claude Juncker forderte alle Mitgliedstaaten auf, sich mit eigenem Geld zu beteiligen und damit das Hebelvolumen des Fonds weiter zu vergrößern. Einlagen in den Fonds sollten nicht in die Schuldenberechnung des Stabilitätspaktes eingehen. Er wies aber auch darauf hin, dass das der Europäische Rat im Dezember erst noch selbst beschließen müsse.
Der größte Anteil der Gelder soll nach dem Willen der Kommission in die Länder fließen, die unter der Krise am meisten gelitten haben. Juncker forderte die Staaten explizit zu Solidarität auf und dazu, das Denken in nationalen Kategorien aufzugeben. Was einem Staat zugutekomme, komme letztlich allen zugute. Hoffentlich wird der Ruf auch in seinem Heimatland Luxemburg gehört. Man sieht schon, dass die Kommission mehr als ein Wunder benötigt, damit die EU ihr menschliches Antlitz zurückgewinnt.