Tanztheater

Existenzkampf

d'Lëtzebuerger Land vom 02.11.2018

Neben Akram Khan zählt er zu den Großen der Londoner Tanzszene. Ist die Rede von Hofesh Schechter, so überschlägt sich das internationale Tanz-Feuilleton in Lob: „Hardrocker unter den Choreografen“, „Chronist der Menschendämmerung“, „ein Star in der internationalen Tanzszene“. Fünf Jahre nachdem der israelische Choreograf im Grand Théâtre Sun zeigte, waren er und sein Ensemble nun eine Woche lang in Luxemburg und präsentierten während seiner Künstlerresidenz neben Political Mother, dem Stück, das den Durchbruch in seiner Karriere markierte, eine Show, in der er Nachwuchstänzern eine Bühne gab und schließlich zum krönenden Abschluss ein Grand Finale. Vormals Tänzer der Batsheva Dance Company, zog Schechter 2002 nach London und gründete dort 2008 sein eigenes Tanz-Ensemble, die Hofesh Schechter Company. Heute ist die britische Metropole Schechters Zuhause, „wie eine Stadt voller verlorener Seelen. Ich bin stolz, eine davon zu sein“, sagte er in einem Woxx-Interview.

Moderner Tanz ist bei ihm politisch – eine Form von Underground. Seine Tanz-Shows gleichen Rockkonzerten. Zornig, wütend, kraftvoll, tänzerisch präzise und dabei streckenweise so laut, dass am Eingang Oropax verteilt wird und die Bühne bebt. Hängende Köpfe wie Marionetten, gebeugte Rücken, trippelnde Schritte, ein wütendes Stampfen und Abgleiten in den Rausch bis hin zur schieren Ekstase, gefolgt von leisen, gleitenden Schritten durch Nebelschwaden und schepperndem Getöse: Das ist Schechters Tanzsprache.

Political Mother, das zum Auftakt seiner Residenz im Grand Théâtre zu sehen war, ist eine Parabel auf politische Indoktrination und eine tänzerische Reflexion über Macht und Masse(n). Zehn Tänzer und sieben Musiker dröhnen einen über 70 Minuten zu – eine Show wie auf einer harten Droge, ein Höllentrip. Martialisch ersticht sich ein Samurai, während die Musiker im Hintergrund rocken. Bald tritt ein Diktator auf, der durch eine Maske verzerrt röhrt. Worte scheinen unwichtig, die Hate-Speech und Agitation ist auch so unverkennbar. Political Mother lebt von Brüchen. Rammstein trifft auf Klezmer-Klänge; Harmonien erweisen sich als trügerisch, kollektive Formationen als magisch bedrohlich. So recken die Tänzer ihre Arme in die Luft und werden von einem Schimpansen begutachtet, lassen sich die Menschenmassen von einem Führer leiten und wie schwingend zum Mitmachen verführen. Die emotionale Sogwirkung der individuellen Unterordnung wird der Abwesenheit oder dem Nichtgelingen von Zweisamkeit gegenübergestellt. Kurz verweilt ein Paar eng umschlungen, doch Wärme und Schutz sind nur flüchtige Situationen. Die Körper der Tänzer recken sich gen Himmel, um rasch wieder zusammenzufallen – wie vom Boden angezogen. Schechters Logik: Auf einen Tanzschritt nach vorne folgen zwei zurück. Am Ende von Political Mother steht eine unverkennbare Nachricht: „Where there is pressure, there is folkdance.“ Tanz als Ausbruch und einzige Ausflucht.

Im Grand Finale scheint er den nahenden Untergang, den er in Political Mother einläutet, verspielt fortzusetzen. Jedoch ohne Diktator, vielmehr mit Wänden, denen letztlich nicht zu entkommen ist. Zehn Tänzer und sechs Musiker als Streich-Ensemble bilden einen für Schechter fast kitschigen Auftakt. Die dunklen, hochgezogene Wände fungieren als Kulisse, die die Choreografie vorzugeben scheint: Wände, die sich zusammenschieben, mit denen die Tänzer vorübergehend tanzen, sich an sie anlehnen oder daran abprallen. Sein Ensemble durchläuft archaische Riten, Techno-Gemeinschaften und Kollektive, in denen es flüchtigen Halt findet, um am Ende doch einzeln zu Boden zu gehen: ein Spiel mit Tanzgenres, Volkstänzen und Musikstilen und eine finale Party, die nicht gut endet. Die Tänzer tragen mal zum verzerrten K&K-Walzer, zur Polka oder zu orientalischen Klängen herabhängende, erschöpfte Körper über die Bühne. Marionettenhaft werden die Toten zu Grabe getragen, salutieren Überlebende karikaturesk. Still wird es am Ende, noch immer ist es neblig. So schafft Schechter auch in seinem Grand Finale eine gespenstische Atmosphäre, in der sich die Figuren zu elektronischen Klängen in Ekstase tanzen, um irgendwann an den Mauern der Welt zusammenzubrechen. Wenn Seifenblasen über die Bühne fliegen, werden sie zerplatzen. Die Welt im freien (Zer-)fall!

Political Mother (am 23. Oktober im Grand Théâtre) & Grand Finale (am 26. und 27. Oktober); Choreografie & Musik: Hofesh Shechter. Keine weiteren Vorstellungen.

Anina Valle Thiele
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