Mittwoch, 15. September: Es ist Schoulrentrée, und wir begleiten unseren Jüngsten zu seinem ersten Schultag in einer Primärschule in Luxemburg-Stadt*. Schön werde es, glauben wir. Auch, weil in einer Schule auf dem Kirchberg Lehrerschaft und Elternvereinigung die ganze Presse zum ersten Schultag eingeladen haben und einen „cadre familial et chaleureux“ versprechen; sogar ein Frühstück soll gereicht werden.
Unsere Schule liegt nicht auf dem Kirchberg. Als wir uns ihr nähern, erkennen wir schon von weitem eine Menschentraube, die sich über die hohe Treppe zum Schuleingang ergossen hat. So soll es sein: Zur Schule darf man nicht zu spät kommen. Deshalb sind viele Eltern mit ihren Kindern schon zehn Minuten vor neun Uhr zur Stelle. Aber wie sich zeigen wird, haben die so früh Gekommenen sich damit keinen Gefallen getan. Hinter der verschlossenen Schultür geht der Concierge auf und ab, doch erst um 9.01 Uhr sperrt er die Türe auf. Supermarkt-Kunden nicht unähnlich, dringen die Wartenden ins Schulgebäude vor.
Der Vergleich mit dem Supermarkt hinkt natürlich. Zum Beispiel, weil in Supermärkten Hinweistafeln zu entnehmen ist, in welchem Regal welche Ware liegt. Hier dagegen klärt kein Informationssystem darüber auf, in welchem Klassenraum auf welcher Etage welche Lehrkraft der Ankunft ihrer Schüler harrt. Rat weiß allein der Concierge: Ganz allein steht er in dem breiten Flur, von allen Seiten her von Eltern bedrängt, die in verschiedenen Sprachen auf ihn einfragen und mit den gelben Einschreibzetteln der Gemeinde wedeln. Die Gelassenheit, mit der der Concierge Auskunft gibt, nötigt Respekt ab, und man fühlt sich ihm unwillkürlich menschlich nahe. So dass die Situation nicht frei von Wärme ist; wenngleich der Empfang nicht familiär genannt werden kann und die Szenerie eher an ein Entwicklungsland erinnert denn an die Volkswirtschaft mit dem höchsten Pro-Kopf-BIP der Europäischen Union. Von den an einer Tafel an der Wand angebrachten Fotos lachen die Gesichter der Lehrkräfte aus dem Schulkomitee, die die Selbstverwaltung dieser Einrichtung gewährleisten.
Wand- oder Tischschmuck aus Anlass des Tages finden die Schüler und ihre Eltern nicht vor, als sie den für sie bestimmten Klassenraum erreichen. Auch die Erstklässler nicht, die, wie Kinder so sind, mitunter dazu neigen, in ihrer Fantasie den Beginn der Schulzeit romantisch zu verklären. Stattdessen heißt es, anzupacken und die Stühle von den Schultischen zu heben. Nur Übelwollende würden dem Lehrkörper vorhalten, es in der schon verstrichenen Stunde seiner Arbeitszeit versäumt zu haben, durch das Herabräumen der Stühle eine familiäre Atmosphäre herzustellen. Realpolitisch bietet folgende Interpretation sich an: Einen Stuhl vom Tisch zu nehmen, ist nicht nur von Sechsjährigen nicht zu viel verlangt, sondern in hochkompetitiven Zeiten wie diesen als Hinweis auf den Wettbewerbsdruck, der die Kinder in dem ihnen verbleibenden aktiven Leben voraussichtlich erwartet, nachgerade dezent gewählt. Erneut will man sich den Verantwortlichen dieser Schule nah fühlen.
Und schließlich wird die Atmosphäre doch noch familiär: Soeben hat die für unseren Sohn zuständige Lehrkraft ihre Erstklässler empfangen. Die Stühle sind von den Tischen und mit Schülern besetzt, welche erwartungsvoll der Lehrperson entgegenblicken. Diese begrüßt die Kinder sehr herzlich und verspricht, dass es viel Schönes zu lernen gebe. Doch ehe das Schöne seinen Lauf nehmen kann, wollen die Stundenpläne ausgeteilt und erklärt, das Zusammenspiel von Schule und Schul-Foyer erörtert, die Schreibmaterialien der Schüler inspiziert, die Funktion des Elternhefts dargelegt werden und auf die erste Elternversammlung hingewiesen sein. Nächsten Monat ist ein Tag der offenen Tür geplant, an dem die Schule sich vorstellt und das Lehrerkomitee das Geheimnis der Kompetenzbilanzen lüftet, die seit der Grundschulreform gelten. Dass dies nicht vor dem Schulanfang hat stattfinden können, braucht niemand zu sagen, denn Ferien sind Ferien.
Den Ausführungen über Organisatorisches eine knappe Stunde lang folgen zu wollen, gibt ein Kind nach dem anderen auf. Aus einst erwartungsfreudigen Gesichtern wird gegähnt, obwohl es noch nicht mal zehn Uhr ist. Mehrere der Erstklässler verschränken ihre Arme auf der Schulbank und betten den Kopf darauf. Die Lehrkraft sieht darüber hinweg, und irgendwie fühlt man sich fast wie daheim.