Finger weg von unserer Schule! Nach Medienberichten über Disziplinprobleme und Gewalt bei Eis Schoul wollen es die Eltern nicht länger hinnehmen, dass Journalisten und Politiker über ihre geliebte Schule polemisieren: „Nous ne pouvons pas accepter de voir relayer dans la presse et en débat les seuls aspects négatifs visant à discréditer à tout prix ce merveilleux projet.“
Dass mit der kämpferischen Pressemitteilung Ruhe einkehrt, ist jedoch unwahrscheinlich. Schließlich steht die Laborschule auf dem hauptstädtischen Kirchberg unter besonderer Beobachtung. Als pädagogisches Projekt des „Groupe luxembourgeois d‘éducation nouvelle“ (Glen), einer Gruppe von Lehrern, die sich an der belgischen Reformpädagogik orientiert und der auch LSAP-Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres verbunden ist, steht es wie keine anderes für die sozialistische Bildungspolitik. Als Schule, die inklusive Werte predigt und anderen Schulen eine Hilfe sein will, steht sie gar für ein größeres Versprechen: Es kann einen erfolgreichen Unterricht geben ohne Leistungsdruck und Ausgrenzung. Kann sie dieses nicht einlösen, haben nicht nur die Schüler, die Eltern und die Pädagogen von Eis Schoul ein Problem, sondern vor allem auch die Ministerin.
Die Opposition, die sich lange Zeit mit Kritik zurückgehalten hatte, scharrt nervös mit den Füßen und verfolgt die Entwicklung mit Argusaugen. Immerhin könnte ein nachweisliches Scheitern der basisdemokratischen Schule den Hebel für eine Forderung vor allem von Déi Gréng und DP liefern: dass nämlich erfolgreiche Schulen eine Leitung brauchen. So lauern beide Parteien darauf, dass der Ministerin größere Schnitzer geschehen.
Die DP wollte nicht so lange still halten. Die Sozialistin habe die Grundschulreform in den Sand gesetzt, ging der Abgeordnete Eugène Berger zum Generalangriff über. Der ehemalige Grundschullehrer stützt seine Einschätzung auf Aussagen von Lehrern, mit denen er gesprochen haben will. Die Reformen seien überstürzt eingeführt und zu wenig vorbereitet worden. Lehrer würden von Reunionitis geplagt, statt sich auf ihre Core-Business, das Unterrichten konzentrieren zu können, so Berger, der „positive Aspekte“ der Reform sieht, aber die handwerkliche Umsetzung bemängelt. Vor allem die zentrale Personalverwaltung ist ihm ein Dorn im Auge.
Starke Worte, die die Ministerin zu einer Reaktion zwangen: Auf ihrer Abschlusspressekonferenz vor den Sommerferien vergangene Woche präsentierte sie, neben den neuen bilans de fin de cycle, eine Untersuchung dazu, wie die Bewertungsbögen bei Lehrern und Eltern ankommen. Freudig verkündigte Delvaux-Stehres den Journalisten, sie würden überwiegend positiv gesehen. Mit einer Rücklaufquote von 53 Prozent der befragten Eltern kann die Studie als aussagekräftig gelten. Das gilt aber nicht für die Lehrer. Magere 21 Prozent haben die Fragenbögen ausgefüllt. Weil sie keine Zeit gefunden haben? Oder aus Protest?
Wer die Diskussionen in Internetforen und Leserbriefen verfolgt, muss den Eindruck gewinnen, die Reformgegner seien im Aufwind: Im Jahr eins nach der Einführung von Lehrzyklen und Kompetenzsockeln klingt die Stimmung bei den Lehrern angespannt bis gereizt. Im Visier der anonymen Internet-Kritiker steht justement das Instrument, deren Erfolg die Ministerin auf ihrer Pressekonferenz zu betonen so bemüht ist: die kompetenzorientierte Bewertungs. Eine „joelle“ meckert im RTL-Kommentar über „tendenziös Ëmfroen bei den Elteren a beim Lehrpersonal“. Von „New-Age-Blabla“ ist die Rede, ein „Yves“ schimpft wie ein Rohrspatz über den „läschte Sch...“. Etwas niveauvoller geht auch, wenn zum Beispiel sich einer über die „grouss Virbereedungszäit“ beschwert, die die neue Bewertung mit sich bringe. Einer bemüht sogar Shakespeare: „fair is foul and foul is fair“.
Auffällig aber bleibt trotz seitenlanger Unmutsbekundungen: Der Sinn und Zweck der neuen Bewertung ist kaum Thema. Stattdessen kursieren Halbwahrheiten und Vorurteile wie die, dass starke Schüler mit der neuen Methode ihre besseren Leistungen nicht mehr valorisiert bekämen. Verkannt wird, dass sowohl Leistungstests weiterhin möglich sind und von vielen Schulen auch nach wie vor praktiziert werden, wenngleich weniger als Wettkampf gegen andere Kinder, sondern als Mittel, um zu prüfen, wo der Schüler in seinem Lernen steht. Das genau ist ja auch das Ziel: an die Stelle eines wenig aussagekräftigen Klassendurchschnitts, der je nach Lehrer und Aufgaben schwanken kann, rückt der individuelle Lernprozess in den Blickpunkt. Bei den Foristen ist die Botschaft nicht angekommen – oder sie halten nicht viel davon. Gute Leistung wird gleichgesetzt mit dem Sich-mit-anderen-Messen-Müssen.
Fragt sich nur, inwieweit das virtuelle Gemeckere repräsentativ für die Stimmung auf dem Terrain ist: Die Lehrergewerkschaften hatten sich bislang mit Grundsatzkritik ziemlich zurückgehalten. Da scheint sich nun zu ändern: Der SNE hat in seiner Mitgliederzeitschrift vom Juli ein „Hausaufgabenheft“ zusammengestellt, das die Ministerin doch bitte abarbeiten solle. Hauptkritikpunkte: die Arbeitsbelastung und die Rekrutierungspolitik. Der SEW hatte schon im Spätsommer 2009 gefordert, die neue Bewertungsbögen später einzuführen, weil er eine Überlastung des Lehrpersonals, fürchtete das alles auf einen Schlag ändern müsse: unterrichten, im Team arbeiten und sich konzertieren, Eltern beraten – und kompetenzorientierte Zeugnisse schreiben.
Dass Lehrer da d’Flemm kriegen und über den Arbeitsdruck stöhnen, ist verständlich. Zumal der chronische Personalmangel nicht behoben ist. Einmal pro Woche, so schreiben es die Ausführungsbestimmungen vor, sollen sich die pro Zyklus zusammen gesetzten Lehrerteams treffen – und daran halten sich viele Schulen offenbar geradezu sklavisch. Kein Wunder, wenn Lehrer über inhaltsleere Alibi-Sitzungen schimpfen und wertvolle Zeit fürs Unterrichten fehlt. Ob eine Reform so weit gehen muss, dass sie sogar die Dauer der schulinternen Beratungen regelt, darf bezweifelt werden. Schließlich lautete ein Reformziel, den Schulen mehr Autonomie zuzugestehen. Andererseits gibt es Grund für Skepsis, ob sich die Lehrer ausreichend beraten würden, wenn es nicht im Reglement stünde. Eine Lehrerin, eher skeptisch gegenüber den Reformen, räumt ein: „Die neue Organisationsform hat sicher dazu geführt, dass wir uns mehr austauschen. Wir sind mehr zusammengewachsen.“ Allerdings klagt auch sie über „erhebliche Mehrarbeit“.
Dass die Umstellung vielen nicht so leicht fällt, belegt die stark gestiegene Nachfrage nach Einzelsupervi-sionen. Waren es im vergangenen Jahr nur zwei Personen, die ein Coaching nachgefragt hatten, waren es im vergangenen Schuljahr 22. Die Zahl der kollegialen Supervisionen, also Lehrerteams, die eine Beratung nutzten, ging im selben Zeitraum allerdings um rund die Hälfte, von fünf auf drei, zurück. Der Run auf die Weiterbildungen dagegen ist ungebrochen: Die Zahl der Einschreibungen stieg gegenüber dem Vorjahr um fast 13 Prozent. Auf der Hitliste ganz oben: unterrichtsbezogene Weiterbildungen zum Thema Beobachten und Fördern sowie Unterricht planen, für die sich über 3 500 Lehrer eingeschrieben hatten, das ist fast jede dritte Einschreibung. Andererseits: Die Kurse zu Schülern mit Lernschwierigkeiten, den ein Hauptaugenmerk der Reform gilt, stießen mit etwa 1,5 Prozent Einschreibenden auf deutlich weniger Zuspruch, ebenso die Kurse zur Elternkooperation.
Deren Bedeutung sollte man aber nicht unterschätzen. Denn laut einer Studie der Universität Luxemburg sind es die Eltern, die den Reformbemühungen am positivsten gegen-über stehen. Michèle Retter von der Elterndachorganisation Fapel zufolge häufen sich derzeit Klagen von Müttern und Vätern, die sich, allen politischen Beteuerungen zum Trotz, noch immer nicht genügend beteiligt sehen. Die Fapel hatte im Februar eine viel beachtete Konferenz zum Thema Elternbeteiligung organisiert. Auch die Nachfrage nach Weiterbildungen sei groß, beim letzten Kurs hätten sich 50 Eltern eingeschrieben. Sorge bereitet Fapel-Präsidentin Retter die damit verbundenen steigenden Kosten; die würden derzeit zunehmend von der Dachorganisation getragen, dabei sei dies Aufgabe des Ministeriums.
An den kritischen Rückmeldungen, die die Fapel erreichen, lässt sich noch etwas ablesen: Auch die Eltern müssen sich erst an ihre neue Rolle gewöhnen. Offenbar nutzt längst nicht jeder vermeintliche Elternvertreter sein Amt, um der Allgemeinheit der Eltern zu dienen, das Engagement reicht zudem von hochmotiviert bis zu völligem Desinteresse. In der RTL-Sendung „Kloertext“ im Juni beklagte eine Elternvertreterin, dass zu einem Treffen, in der die Ziele der Schule erklärt werden sollten, gerade einmal „vier bis fünf“ Eltern erschienen wären – von 120 Eltern insgesamt. „Das Gesetz sieht keine Strukturen für die Elternvertretung vor“, versucht Michèle Retter eine Erklärung. Allerdings verhindert nichts und niemand, dass sich die Eltern eben diese Strukturen selbst geben.
Bei den Schulentwicklungsplänen, den plans de réussite scolaire (PRS), besteht ebenfalls Klärungsbedarf: Eltern beschweren sich darüber, von den Schulkomitees nicht genügend eingebunden worden zu sein. Laut Qualitätsentwicklungsagentur des Ministeriums, verantwortlich für die Erstellung und Prüfung der Schulentwicklungspläne, haben bislang rund zwei Drittel aller Grundschulen (101 von 154) damit begonnen, solche Pläne zu erstellen, bei 43 existiert ein Vorentwurf, der der Agentur derzeit zur Prüfung vorliegt. Thematisische Renner waren bei 80 Prozent der Schulen „organisation des apprentissages“, rund die Hälfte optierte zudem für mehr „mesures d’encadre-ment des élèves“. Die Eltern wurden „systematisch von den Schulen“ einbezogen, meint Agenturleiterin Amina Kafai gegenüber dem Land. Wirklich optimal läuft die Zusammenarbeit aber wohl nicht: Man sei dabei, „eine verbesserte Kommunikationspolitik mit den Eltern bezüglich des PRS aufzubauen“.
So heißt es zur Ferienzeit: abwarten und (Eis)-Tee trinken – und vielleicht die Gemüter etwas abkühlen. Es wird noch eine ganze Zeit dauern, bis die Reformen Wirkung zeigen; Experten rechnen mit bis zu zehn Jahren. So mies wie im Internet kann die öffentliche Meinung nicht sein: Der Popularität der Unterrichtsministerin hat die größte Schulreform seit hundert Jahren jedenfalls kaum Abbruch getan. Wenn man der „Sonntagsfrage“ des Tageblatts vom Juni Glauben schenken kann, hat die LSAP im Zentrum um Jeannot Krecké und Mady Delvaux-Stehres mit 18,4 Prozent Zustimmung (gegenüber 17,8 im Vorjahr) sogar leicht zugelegt und wäre demnach die zweitstärkste Kraft im Zentrum. Wenn, ja, wenn nicht doch noch größere Probleme auftauchen.