Den meisten Kunst- und Kulturinteressierten ist die luxemburgische Künstlerin Su-Mei Tse bekannt durch ihre poetisch-ironische Skulptur Many Spoken Words (2009) in der Halle des Mudams, einen Springbrunnen aus welchem schwarze Tinte quillt, oder ihren Beitrag 2003 zur Biennale von Venedig und die einhergehende Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen für die beste nationale Beteiligung. In den vergangenen Jahren und hauptsächlich nach ihrer monografischen Ausstellung 2006 im Casino aber war es um die Künstlerin in Luxemburg selbst still geworden. Die aktuelle umfassende Schau im Mudam, Su-Mei Tse. Nested, ist umso mehr zu begrüßen, da sie nicht nur einen Überblick über das künstlerische Schaffen von Su-Mei Tse bietet, sondern auch neue Kunstwerke beinhaltet.
Der Titel der Ausstellung – Nested bedeutet eingenistet oder verschachtelt – verspricht programmatisch, dass der Intellekt des Besuchers beim Durchlaufen der Schau herausgefordert wird. Als ausgebildete Cellistin und bildende Künstlerin sprengt Su-Mei Tse konsequent festgeschriebene Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen und verschränkt sie miteinander. Ihre Werke basieren aber nicht nur schlicht auf der Dialektik zwischen Bild und Klang; auch innerhalb der bildenden Kunst werden unterschiedliche Stilmittel verwendet, um dem künstlerischen Gedanken Ausdruck zu verleihen und somit erneut Kategorien aufzubrechen. Referenzen aus Film oder Literatur können ebenso als Inspirationsquelle herangezogen werden. Die Installation Pénélope, le retour (2003) verkörpert so eine Hommage an die stets treue Ehefrau aus Homers Ilias. Der Roman Mejin (The Master of Go, 1954) von Kawabata Yasunari wiederum diente als Grundlage für Su-Mei Tses Fotografie The Master of Go (2006). Sein Buch Yukiguni (Schneeland, 1937) bot Stoff für das Video Pays de neige (Snow Country) (2015), in dem die Künstlerin in den Gärten der Villa Medici Kieselsteine mit Hilfe eines Schleppnetzes fegt. Wie in einem japanischen Zengarten werden bei dieser fast meditativen Aktion sämtliche vorhandenen Spuren verwischt; die Künstlerin macht tabula rasa.
Su-Mei Tses Werken liegen immer wieder eurasische Bezüge zugrunde, die aus ihrer Prägung durch beide Kulturen (sie wurde 1973 in Luxemburg von einem britischen Vater und einer chinesischen Mutter geboren) herrühren. In ihren Arbeiten lassen sich Wechselbeziehungen und Transferprozesse zwischen den beiden Kulturkreisen nachvollziehen; auch hier wird jede festgeschriebene Kategorisierung und Stereotypisierung hinterfragt. Die Installation Stone Collection (2017), die eigens für die Eingangshalle des Mudam konzipiert wurde, mag so ebenfalls an einen japanischen Steingarten erinnern. Die Schwerkraft der massiven, in der Halle verteilten Steine stellt ein Gegengewicht zur Höhe des Eingangsraumes dar. Die Steine wurden sichtbar über Jahrhunderte von dem langen aber steten Einfluss der Natur geschliffen und verweisen auf die Kurzlebigkeit eines Menschen. Die Kante eines Steins wurde, angelehnt an die japanische Kintsugi-Technik, vergoldet. Bei dieser Technik wird zerbrochenes Porzellan oder Keramik so zusammengefügt, dass die Stelle des Bruchs nicht gänzlich verschwindet, sondern dank eines goldenen Zusatzes sichtbar bleibt. Su-Mei Tse zieht hier einen Vergleich zum Menschen, der immer die Summe seiner Erfahrungen ist und Brüche aufweist, die er nicht verbergen kann.
Der Titel der Ausstellung, Nested, wurde einer Serie entlehnt, die ebenfalls erst vergangenes Jahr entstanden ist. Die Werke bestehen aus einem feinen hellen Kalkstein, in den polierte Kugeln aus Edelstein von unterschiedlicher Größe und Farbe platziert sind. Die Kugeln fügen sich perfekt in den durchlöcherten und verästelten Stein ein, als würden sie eine musikalische Komposition, eine Partitur, darstellen, und weisen Parallelen zu anderen Werken in der Ausstellung auf, wie das Video Mistelpartition (2006). Hier defilieren mit Mistel bestückte Bäume vor dem Bildschirm; die Misteln leuchten ab und zu auf und lassen sich von Kundigen als Noten des Cello concerto no. 1 von Dmitri Schostakowitsch lesen.
Einige der neuen Arbeiten sind während Su-Mei Tses Residenz in der Villa Medici in Rom und in bewährter Zusammenarbeit mit dem Künstler Jean-Lou Majerus entstanden. So etwa die runden Marmorreliefs Moon und Moon (Full) oder die Fotografien von römischen Skulpturen (Rome (Jules) und Rome (Athena)), zwischen welchen Su-Mei Tse einen echten halbierten Granatapfel gelegt hat (A Whole Universe (Pomegrenade)). Durch die Präsenz des Obstes wird die zweidimensionale Reproduktion und somit die eigentliche Abwesenheit des Reproduzierten hervorgehoben. Um das Spiel mit Realität und Täuschung noch stärker herauszukristallisieren, hat die Künstlerin zwei Fotodrucke von Lilien im Wasser horizontal auf dem Boden unter einer Glasplatte installiert (The Pond, 2015). Durch den Einsatz von Marmor, Steinen und Edelsteinen gepaart mit pflanzlichen Motiven ergründet die Künstlerin die Beziehung zwischen Natur und Kultur, aber auch die fragile Beziehung des Menschen zur Gewalt der Natur, die schon in frühen Videos wie Les balayeurs du désert präsent war.
Die runden Marmorreliefs von Moon und die an Noten erinnernden Kugeln von Nested symbolisieren das Geometrische, das sich dem Organischen entgegenstellt. Diese Analyse wird auch in Arbeiten wie Gewisse Rahmenbedingungen 1 und Gewisse Rahmenbedingungen 2 (2014) sichtbar. Trianguläre respektive rechteckige Formen, oder besser Rahmen, sind hintereinander gehängt und stellen sowohl eine gewisse Rhythmik als auch eine Leere dar. Abwesenheit ist auch das zentrale Motiv der Skulptur Bird Cage (2007, eine große Version davon befindet sich auf dem Kirchberg). Die Tür eines aus Neonleuchten bestehenden Käfigs ist geöffnet, als ob der eingesperrte Vogel gerade entflogen wäre. Die Erwartungshaltung des Betrachters wird so auf die Probe gestellt und enttäuscht. Denn was wir zu sehen glauben, entzieht sich uns.
Um das Spiel mit den Sein und Schein deutlicher zu versinnbildlichen, nutzt Su-Mei Tse in einigen Arbeiten die Stilmittel der Reflektion und des Spiegels. Die Fotografien Reflection #1-3 (2017) zeigen einen dichten Wald, der sich in einem klaren See spiegelt, und werfen die Frage auf: Was ist Original und was Reflektion im Wasser? Für die drei Arbeiten Faded (III - #3), Faded (III - #4), Faded (III - #5) von 2017 interveniert die Küsterin direkt in der Produktion des Spiegels, so dass sich Schlieren unter der Glasplatte bilden und der perfekte Glanz verloren geht. Während der Besucher in Michelangelo Pistolettos Spiegel-Arbeiten von seinem Spiegelbild überrascht wird, so lassen die Schlieren in Su-Mei Tses Arbeiten ihn erkennen, dass es sich nur um eine flüchtige Abbildung handelt. Das ephe-
mere Bild verschwindet mit seinem Betrachter.
Su-Mei Tse weiß, den Besucher geschickt in ihre Werke einzubeziehen, in ihm Bilder und Gefühle wachzurufen; sie überlässt ihm dennoch eine gewisse Offenheit gegenüber der Interpretation ihrer Werke. Jede Deutung symbolisiert auch immer eine spezifische Sicht, die von der eigenen kulturellen Prägung beeinflusst ist. Mit ihren Arbeiten versucht Su-Mei Tse, einen anderen möglichen Standpunkt oder Interpretationsweg aufzuzeigen. Ihre Werke selbst sind wie Musik; man kann ihnen nicht entfliehen, denn sie entfalten auf poetische und humorvolle Weise eine stille, aber nicht zu überhörende Präsenz in Zeit und Raum. Die Ausstellung im Mudam lässt sich wie eine Gesamtkomposition mit vielen Klängen und Stimmen lesen. Von der kuratorischen Seite her hätte man sich ein etwas ausführlicheres Begleitheft erhofft, das über die Tiefe der Werke Auskunft gibt und auch über den Ausstellungsbesuch hinaus die Erfahrung verlängert. Die Ausstellung im Mudam ist die erste Station von drei weiteren monografischen Ausstellungen im Aargauer Kunsthaus, Yuz Museum Shanghai und Taipei Fine Arts Museum.