Ungewöhnlich leger gibt sich der türkische Ministerpräsident vor tausenden Zuhörern am Rednerpult. Er wirkt müde aber sehr erleichtert. Recep Tayyip Erdogan hat allen Grund dazu. Gerade haben die türkischen Wähler mit klarer Mehrheit seinem Kurs zugestimmt. Und damitbeschlossen, den autoritären Geist der Vergangenheit zu beerdigen.
Die am vergangenen Wochenende in einem Referendum zur Abstimmung gestellte Verfassungsänderung befürworteten 58 Prozent. Erdogans Regierung erhielt grünes Licht, um mit den langen Schatten des „12. September“, wie der Militärputsch von eben jenem Datum im Jahr 1980 genannt wird, aufzuräumen.
Bei seiner Rede nach der Abstimmung drehte sich der türkische Premier hin zu Burhan Kuzu, dem Präsidenten der Verfassungskommission des türkischen Parlaments. „Burhan Bey, fangen Sie morgen mit der Arbeit an. Wir müssen entscheiden, welchen Weg wir gehen werden, um eine ganz neue Verfassung zu schreiben“, forderte Erdogan.
Die Bürger hätten beeindruckend gezeigt, dass sie nicht mehr bereit seien, mit dem engen gesellschaftlich-politischen Korsett zu leben, welches die Diktatoren vor 30 Jahren ihnen übergestülpt hatten, kommentierten türkische Zeitungen am Tag nach dem Referendum. Und weiter: Ab jetzt werde sich der politische Diskurs am Bosphorus auf eine völlig neue, völlig demokratische Verfassung fokussieren.
Noch am Abend des Referendums blendeten die Eliten des bisherigen autoritären Systems die neuen Realitäten aus und demonstrierten ihre hoffnungslose Verknöcherung. Abdurrahman Yalcinkaya, der Chef des Kassationsgerichts, welches bisher alle Demokratisierungsversuche erfolgreich verhinderte, erklärte, er und seine Richter seien fest entschlossen den Status quo zu verteidigen. Dabei war im Referendum doch gerade dieses System beerdigt worden. Er selber und seine Verbündeten in schwarzen Richterroben sind bald arbeitslos - davon sind die meisten Türken überzeugt. Erdogans politische Gegner sahen sich am gleichen Abend an den Rand gedrängt. Erbitterte Unkenrufe, wie der von Devlet Bahceli, dem Chef der ultranationalen Partei der Nationalen Bewegung (MHP), der warnte, dass „das Land in eine Phase voller Risiken und Gefahren“ eintrete, fanden kein Publikum. Denn diesmal hat die MHP nicht einmal die Grauen Wölfe unter Kontrolle: Selbst die Faschisten stimmten für die Verfassungsänderung.
Grund für die allgemeine Begeisterung ist, dass mit der nun angenommenen Verfassungsreform die Verantwortlichen der Militärdiktatur zum ersten Mal vor Gericht gestellt werden können. Auf diesen Moment haben viele gewartet, Linke, Liberale, Moderate und selbst Aktivisten der Ultranationalisten, denn alle waren sie Opfer des grausamen Schreckensregimes der Putschisten. Selbst dem oppositionellen Parteichef der links-nationalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, blieb am Abend nichts anderes übrig als den guten Demokraten zu geben. Seine Mitarbeiter hatten vergessen ihn zur Wahl zu registrieren, so hatte er nicht einmal gegen Erdogans Reformpaket stimmen können. So blamiert, sagte Kilicdaroglu, man müsse nun das Ergebnis respektieren.
Schon einen Tag nach der Abstimmung stürmten tausende Opfer der Diktatur, die sich bis vor kurzem nicht trauten in die Öffentlichkeit zu treten, landesweit die Büros der Staatsanwaltschaft. Sie erstatteten Anzeige gegen den heute 94-jährigen ehemaligen Chef der Militärjunta, Kenan Evren.
Aber die Volksabstimmung ebnet nicht nur den Weg zur Geschichtsaufarbeitung. Auch der Weg Richtung Europa dürfte nun weniger holperig werden. Die beschlossenen grundlegenden Reformen sind im Einklang mit den Forderungen der EU, und werden den Beitrittsprozess vorantreiben. Die ersten Reaktionen aus Europa waren positiv, einige europäische Politiker sogar begeistert. So glaubt der Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, die Türkei sei dem Ziel der EU-Mitgliedschaft einen Schritt näher gekommen. Der schwedische Außenminister Carl Bildt stimmte dem zu. Selbst Guido Westerwelle, der Außenminister einer deutschen Regierung, die arge Akzeptanzprobleme mit einem EU-Mitglied Türkei zu haben scheint, erkannte Zeichen dafür, dass die Türkei entschlossen sei, den Reformprozess fortzusetzen. „Niemand sollte ein so wichtiges Land, das sich augenscheinlich modernisiert, vor den Kopf stoßen und es ausgrenzen“, sagte er.
Europäische Politiker hatten schon vor dem Wahlsonntag, während in der Türkei selbst noch alles für möglich gehalten wurde, einen hellseherischen Sinn gezeigt. Einen Tag vor dem Referendum kamen die EU-Außenminister zu einem informellen Treffen zusammen, um das weitere Vorgehen gegenüber dem Beitrittskandidaten Türkei zu beraten. Zwar änderten die EU-Außenpolitiker nichts an der grundsätzlich distanzierten Rhetorik. Doch zwischen den Zeilen tauchten neue Töne auf. So mahnte die EU-Außenministerin Catherine Ashton ihre Kollegen, dass es bei der für Dezember geplanten nächsten Verhandlungsrunde Sache der EU sei, den Prozess mit der Türkei offen zu halten. Ihr finnischer Amtskollege ging sogar weiter: „Wir reden nicht über irgendeine Art privilegierter Partnerschaft. Wir reden über tiefgehende Integration und Zusammenarbeit.“ Alle, so scheint es, spüren den Drang Anatoliens nach vorne. Es ist einmalig in der Geschichte der EU, dass eine Nation die jahrzehntelange Misshandlung einer Militärdiktatur ganz aus eigener Kraft heraus abschüttelt und sich demokratisiert - ohne ernsthafte politische und finanzielle Unterstützung aus Brüssel.
Schon kursieren in Brüssel Gerüchte, Briten und Finnen holten die Türkei am liebsten gleich – also auch ohne Vollmitgliedschaft – an den Tisch. So einfach wird es sicher nicht. Aber die Volksabstimmung in der Türkei beweist, dass die türkische Bevölkerung es ernst meint mit der Demokratisierung. Europäische Politiker werden sie daher nicht länger demonstrativ an den Katzentisch verbannen können.