Fast hatte man gedacht, die europäische Schuldenkrise sei ausgestanden. Nach der Veröffentlichung der Bankenstresstests im Juli, durch die offengelegt wurde, wie viele Euroanleihen europäische Banken in den Büchern stehen haben, hatten sich die Finanzmärkte beruhigt. Vielleicht waren die Finanzmarktakteure aber auch nur in den Sommerurlaub gefahren. Denn pünktlich zur Sitzung der EU-Finanzminister Anfang der Woche in Brüssel flammten die Probleme wieder auf. Versicherungen für Anleihen der PIIGS-Länder wurden wieder teuerer, ein Anzeichen dafür, dass die Märkte das Risiko von Staatsinsolvenzen noch immer nicht als gebannt bewerten.
Vor diesem Hintergrund drängen die Reformen der Maastricht-Kriterien und des Stabilitäts- und Wachstumspakts, welche die Finanzminister der Eurozone und der EU in Brüssel diskutieren, umso mehr. Noch gibt es wenig konkrete Ergebnisse. Aber die Zeit drängt – am 29. September soll die Kommission Vorschläge machen und der Europäische Rat bei seiner Herbsttagung entscheiden, ob sie in die gewünschte Richtung gehen. Die Ideen, die im Raum stehen, versprechen jetzt schon zum Zündstoff werden – auch für den Sozialdialog in Luxemburg.
Vor der Ratssitzung diese Woche machte Staats- und Schatzamtsminister Jean-Claude Juncker (CSV), in seiner Rolle als Vorsitzender der Eurogruppe kein Geheimnis aus seinem Frust über den mangelnden Fortschritt bei den Verhandlungen innerhalb der Van-Rompuy-Task-Force, die seit März mit der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes beauftragt ist. „In der Sache gibt es gar keinen Fortschritt“, so Juncker am Freitag im Anschluss an die Kabinettssitzung. In drei Sitzungen seien immer wieder die gleichen Allgemeinheiten diskutiert worden anstatt die Details, in denen bekanntlich der Teufel steckt. Frust abgebaut hat Juncker seither sicher nicht. Nach den Sitzungen der Task Force und der Eurogruppe am vergangenen Montag und Dienstag gab es sowenig Fortschritte zu vermelden, dass sowohl Juncker wie der ständige Ratsvorsitzende Herman Van Rompuy die geplanten Pressekonferenzen absagten.
Schwierig sind die Verhandlungen über eine Reform des Stabilitätspaktes vor allem auch deshalb, weil die EU-Mitgliedstaaten innerhalb der Task Force frei und ohne Textvorlage diskutieren. Deswegen gibt es, wie Finanzminister Luc Frieden (CSV), der dort Luxemburg vertritt, sagt, „hunderttausend Ideen“ von allen Seiten. Weil nach der Wirtschaftskrise und den von den Mitgliedstaaten aufgelegten Anti-Krisen-Programmen nur noch Luxemburg die Konvergenzkriterien des Stabilitätspaktes erfüllt – weniger als drei Prozent gesamtstaatliches Defizit und weniger als 60 Prozent Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP) –, herrscht Einigkeit allein in einem Punkt: Der Stabilitätspakt, der bisher nur berichtigende Maßnahmen vorsieht, also solche, die dann genommen werden, wenn die Regeln gebrochen sind, soll mit vorbeugenden Maßnahmen nachgebessert werden, die greifen, bevor es zum Regelbruch kommt.
„Mir scheint es richtig, dass konkrete Maßnahmen und Sanktionen, auch finanzieller Art, während der präventiven Phase des Paktes beschleunigt und automatisiert werden“, so Juncker bereits am Freitag. So fordern er und Frieden, dass auch andere Länder nach Luxemburger Art en Apel fir den Duuscht, beiseite schaffen. Während der Konjunkturhochs sollen die Staaten Reserven anlegen, die ihnen erlauben, in Krisenzeiten Konjunkturprogramme durchzuführen, ohne dass die Defizite ausbrechen und die Schulden übermäßig steigen. Wer das nicht tut, soll, das fordern auch Deutschland und Frankreich, zum Sparen gezwungen werden können.
In die Kategorie der vorbeugenden Maßnahmen gehört auch die Einführung des Europäischen Semesters, die von den Finanzministern am Dienstag beschlossen wurde. Auf Basis der Konjunkturprognosen der EU-Kommission sollen zu Jahresbeginn die Stabilitäts- und Wachstumsprogramme der EU-Länder aufgestellt werden, erklärte Frieden. Bis Juni oder Juli werden die Programme künftig sowohl von der Kommission, wie auch von den anderen Mitgliedstaaten ausgewertet und mit Empfehlungen versehen. So soll überprüft werden, ob die Vorhaben der jeweiligen Länder mit den EU-weit geltenden wirtschaftlichen Leitlinien übereinstimmen und ob die Länder noch in der Lage sind, ihre mittelfristigen Haushaltsziele einzuhalten. Und zwar bevor sie den Haushalt verabschieden. Darin liegt der eigentliche Unterschied zu bisher: Von der Kommission analysiert und kommentiert wurden die nationalen Stabilitätsprogramme auch vorher schon. Allerdings nicht bis zum Sommer, die Auswertung zog sich über das ganze Jahr hin.
Zwar räumt Frieden ein, dass es einige Schwierigkeiten geben könnte, so früh im Jahr verlässliche Prognosen über die Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben für das da-rauffolgende Jahr zusammenzustellen. Doch das tut seiner Ansicht nach der Nützlichkeit der Übung keinen Abbruch. „Es geht nicht um die Details des Haushalts, wofür wir unser Geld ausgeben, sondern einfach darum, ob die Richtung stimmt“, sagt der Finanzminister. Er findet das europäische Semester eine „exzellente Sache“. Generell, weil man feststellen kann, ob ein Euro-Mitgliedstaat fahrlässig haushaltet, bevor das Budget beschlossene Sache ist. Luxemburg-spezifisch weil „man uns in der Vergangenheit des Öfteren auf die Belastung der Sozialversicherung und die Gehälterentwicklung hingewiesen hat“. Dies vor der Aufstellung des Haushalts zu wissen, könne auch die Budgetdebatten im Parlament qualitativ aufwerten, freut sich Frieden.
Sein Enthusiasmus verspricht bei den Luxemburger Gewerkschaften wenig positiven Widerhall hervorzurufen. Seit langem beklagen sie eine überzogene „Hörigkeit“ der Luxemburger Regierung im Hinblick auf die Konvergenzkriterien, die mit dem Verweis auf „Maastricht“ ungerechtfertige Einsparungen und so-ziale Einschnitte legitimieren wolle. Als Frieden Anfang des Jahres die zehnte Aktualisierung des Luxemburger Stabilitätsprogramms vorstellte, war der Unmut bei OGBL und LCGB groß. Und das nicht allein wegen der darin angekündigten Sparprogramme. Auch den Daten, konjunkturellen Prognosen und Vorhersagen über die Entwicklung der Steuereinnahmen, wollten sie nicht trauen. Die Chance, dass sie das Stabilitätsprogramm künftig glaubwürdiger und annehmbarer finden werden, ist klein. Die, dass sie eine Verschärfung des Paktes und eine zunehmende Einmischung aus Brüssel gutheißen werden, noch kleiner. Konflikte wie der, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer seit Monaten um die Deutung der Konjunkturdaten austragen, dürften sich künftig noch verschärfen.
So werden die Gewerkschaften begrüßen, was Frieden bedauert: Ignoriert ein Land die Brüsseler Empfehlungen für den Haushalt 2012, der erste, der während eines Euro-päischen Semesters aufgestellt werden wird, bleibt das ohne Konsequenzen. „Deswegen brauchen wir ja auch eine Verschärfung des Stabilitätspaktes, um im Fall des Falles Sanktionen zu verhängen. Nicht wenn ein Land eine Empfehlung nicht respektiert. Sondern wenn es sich über eine gewisse Zeit von den Defizit- und Schuldenvorgaben, seinen mittelfristigen Haushaltszielen entfernt, muss es Sanktionen geben. Die bestehen heute noch nicht, heute gibt es erst Strafen, wenn es zu spät ist“, sagt der Finanzminister.
Die gemeinsame Lektüre der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme soll auch helfen, das steile Gefälle in Sachen Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Eurozone zu ebnen. Die Eurozone-internen Ungleichgewichte in der Wettbewerbsfähigkeit seien die Hauptgefahr für die Einheitswährung, waren sich am Mittwoch Jean-Claude Juncker und Yves Mersch, Zentralbankgouverneur, einig. Das habe man in der Vergangenheit unterschätzt, sagte Juncker auf dem Podium des Bridge Forum Dialogue. Er will deswegen künftig die Hälfte der Eurogruppetreffen diesem Thema widmen. „Wenn also auf Basis ganz präziser Indikatoren festgestellt wird, dass ein Land sich in Sachen Wettbewerbsfähigkeit vom europäischen Durchschnitt verabschiedet, dann müssen stärker als bisher verbindliche Maßnahmen gegen dieses Land genommen werden“, so Junckers Forderung. „Daher habe ich vorgeschlagen, ein Wettbewerbsfähigkeitsverfahren einzuführen. Ein Verfahren, während dem das Land so behandelt wird, als ob schon ein Defizitverfahren läuft. Durch dieses Verfahren sollen die an den Pranger gestellt werden, die sich vom Durchschnitt verabschieden“, erklärte der Vorsitzende der Eurogruppe.
Ein solches Verfahren, wenn es denn eingeführt würde, dürfte auch für den bisherigen Maastricht-Musterschüler Luxemburg von Interesse sein. Juncker verpasste am Mittwoch die Gelegenheit nicht, darauf hinzuweisen, dass die Gehälter in Luxemburg seit der Einführung des Euro im Vergleich zur Inflationsrate unverhältnismäßig schnell gestiegen seien. Die Botschaft: Auch Luxemburg kann, je nachdem welche Indikatoren festgehalten werden, ein solches Verfahren riskieren. Ein Verfahren, das EU-Politikern, nach dem Motto blame it on Brussels, mehr Rückendeckung für unpopuläre Maßnahmen zu Hause geben und die Lösung für ein von Juncker beschriebenes Dilemma sein könnte: „Meistens wissen Politiker, was zu tun ist. Was sie nicht wissen, ist, wie sie wiedergewählt werden sollen, wenn sie es getan haben.“ Kommt beispielsweise die „Empfehlung“ zum Umbau des Rentensystems aus Brüssel, können die politischen Verantwortlichen auf innenpolitischer Ebene die Hände in Unschuld waschen.
Ein solches Verfahren soll aber auch ein anderes Problem Junckers lösen, der sich seit dem Griechenland-Debakel fragen lassen muss, warum er nicht früher auf die Risiken aufmerksam gemacht hat: Der Vorsitzende der Eurogruppe – bis zur Umsetzung des Lissabon-Vertrages ein loser, informeller Zusammenschluss – könnte innerhalb eines geregelten Rahmens frei von der Leber über Problemfälle reden, ohne diplomatische Zwischenfälle zu provozieren. Niemand, auch nicht die großen Länder oder vielmehr ihre Vertreter, könnte eventuelle Kritik dann noch als persönliche Beleidigungen empfinden.
Überhaupt ist es ein Anliegen Junckers, für große und kleine Mitglieder der Währungsunion gleiche Rechte zu schaffen. Auch deswegen, sagte er am Mittwoch, müssten die Sanktionen für Verstöße gegen die Konvergenzkriterien automatisiert werden. „Verstößt jemand zweifelsfrei gegen die Regeln, muss es darüber keine politische Diskussion mehr geben“, deren Ausgang die „Gro-ßen“ besser beeinflussen können als die „Kleinen“. Für Euroländer will er noch weiter gehen und das Abstimmungsverfahren umdrehen. Musste bisher eine Mehrheit für Sanktionen stimmen, sollen nach seiner Vorstellung künftig Strafen nur verhindert werden können, indem eine Mehrheit dagegen stimmt.
Weil die rezente Entwicklung auf den Anleihemärkten deutlich gemacht hat, welche verheerenden Folgen eine übermäßige öffentliche Verschuldung nach sich ziehen kann, stellen Juncker und Frieden die Konvergenzkriterien selbst in Frage. Das Schuldenkriterium soll stärker wiegen. „Wenn die Schulden so hoch sind wie das Bruttoinlandprodukt, kann man nicht noch drei, vier oder fünf Prozent Defizit machen“, sagte Frieden am Dienstag nach dem Ministertreffen. „Wer weniger als drei Prozent Defizit hat, aber Schulden, die über 60 Prozent (im Verhältnis zum BIP) hinausgehen, gegen den muss ein Defizitverfahren eingeleitet werden“, meinte Juncker am Mittwoch. In dem Fall soll es aber seiner Vorstellung nach nur zu „halb-automatischen“ Sank-tionen kommen, das heißt, diese sollen im Rahmen einer politischen Diskussion unter Finanzministern beschlossen werden.
„Wir müssen dem Pakt schärfere Zähne geben“, so Juncker. Damit es in Zukunft richtig wehtut, wenn zugebissen wird, schließen der Vorsitzende der Eurogruppe und der Luxemburger Finanzminister nicht aus, Defizitsündern in Zukunft Mittel aus den Kohäsions- und Strukturfonds der EU zu streichen. Zahlungen, die im Rahmen der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik an Einzelpersonen erfolgen, will Juncker von den Strafzügen ausschließen.
Ganz einig sind sich der Luxemburger Finanzminister und der Vorsitzende der Eurogruppe nicht darüber, wie scharf die Dritten Zähne des Stabilitätspaktes wirklich werden sollen – 2005 erst waren die Regeln unter dem Druck Deutschlands und Frankreichs während der Luxemburger Ratspräsidentschaft aufgeweicht worden. Denn im Namen Luxemburgs fährt Luc Frieden in Brüssel eine ganz harte Linie: die deutsche. Die deutschen Vorschläge unterstütze er voll ganz, so Frieden am Dienstag gegenüber dem Land. Die bestehen darin, Defizitsündern ihre Stimmrechte zu entziehen und schlimme Wiederholungstäter gar ganz aus der Währungszone auszuschließen. Strafen dieser Art setzten zwar eine Änderung der euro-päischen Verträge voraus und seien deswegen kurzfristig nicht umsetzbar, betont Frieden. Dennoch findet er sie längerfristig anstrebenswert. „Ich bin für ganz harte Sanktionen.“
Das sieht Juncker anders. Zwar soll der Stabilitätspakt stabiler werden, doch er unterstich am Mittwoch: „Ich schließe den Ausschluss von Mitgliedern der Eurozone aus.“ Das nämlich würde im rechtlichen Umkehrschluss anderen Ländern die Möglichkeit eröffnen, ihreSachen zu packen und die Währungszone aus freien Stücken zu verlassen. Eine Möglichkeit, die Juncker vor allem Deutschland nicht geben will. Ebenso vehement ist er gegen die Idee, Ländern, welche die Konvergenzkriterien nicht erfüllen, ihre Stimmrechte im Ministerrat zu entziehen. „Solchen Ideen sollte man möglichst schnell keine Wichtigkeit mehr beimessen“, lautete sein Kommentar am Mittwoch.
Möglichst bald will Juncker deswegen die Maßnahmen umgesetzt sehen, die ohne Vertragsänderungen möglich sind. Der Rest kann warten. Ganz so eilig wie die Kollegen hat er es nicht, einen neuen permanenten Krisenmechanismus zu verhandeln, der den 750-Millionen-Euro Rettungsschirm ersetzen soll, für den sich die Euroländer nur befristet engagiert haben. „Wenn man den Stabilitätspakt verschärft und gleichzeitig über einen Krisenmechanismus diskutiert, erweckt man den Eindruck, die neuen Zähne des Stabilitätspakt seien immer noch nicht scharf genug, um eine Staatsinsolvenz zu vermeiden“, erklärte Juncker am Freitag. Ende September legt die Kommission erste Vorschläge vor. Dann kann der Streit über die Details beginnen.