d’Lëtzebuerger Land: Mit der neuen Reform hält der Kompetenzansatz auch im Sekundarunterricht Einzug. Ihre Gewerkschaft sieht das kritisch.
Guy Foetz: Ich arbeite seit Mitte der 90-er mit Kompetenzen, etwa im Rahmen der entreprise d’entraînement, wo sie in der Reihe mit anderen Aktivitäten stehen. Das ist eine positive Sache. Schwieriger wird es, wenn man Fächer hat, hinter denen keine klar umrissenen Aktivitäten stehen, etwa die Sprachen oder die Geschichte. Dann ist das Risiko groß, dass das Wissen im Methodenlernen untergeht.
Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) betont, es könne keine Kompetenz ohne Wissen geben.
Sicher muss ich, um eine Recherche zu machen, wissen, wie ich mich anlege. Aber wenn man kompetenzbasierte Programme liest, etwa in der eben erst reformierten Berufsausbildung, sind die Inhalte stark reduziert. Im Fach Buchhaltung steht als Kompetenz: ‚Der Schüler ist in der Lage, manuelle Buchungsvorgänge nach den Regeln der doppelten Buchführung vorzunehmen‘. Ohne konkrete Inhalten lässt dies zu viel Spielraum.
Das SEW war immer dafür, Programme zu entschlacken.
Entschlacken ist etwas anderes. Es stehen Inhalte in den Programmen, die nicht wesentlich sind. Beim Kompetenzunterricht werden Inhalte aber vielfach gar nicht mehr aufgeführt; übrig bleibt oft nur die Methode, wie man Wissen erarbeitet. Andererseits werden Kompetenzen aufgeführt, die selbstverständlich sind, zum Beispiel: ,Der Schüler kann bei seiner Arbeit präzise vorgehen und seine Fehler beheben‘. Oder man liest: ,Der Schüler kann Arbeiten in einem Team durchführen‘. Dies beinhaltet persönliche Faktoren. Inwiefern sollen diese bewertet werden?
Dann übt das SEW am Kompetenzansatz eher Detail- als Fundamentalkritik?
Der Kompetenzbegriff kommt aus den Betrieben. Die Frage bleibt, ob man das so auf den Schulunterricht übertragen kann. Wir befürchten, dass Wissen zweitrangig wird und Methoden in den Vordergrund geraten.
Auch das SEW hat früher das mechanische Auswendiglernen kritisiert. Oder, anderes Beispiel, die Bewertung.
Eine Evaluation von Wissen ist recht einfach. Ich frage das Wissen in einer Prüfung ab. Bei einer Kompetenz wird das schwieriger, zumal wenn es um persönliche Eigenschaften geht. Der Schüler arbeitet und der Lehrer schreibt Notizen, wie er sich anlegt. Erstens fühlt sich der Schüler dadurch ständig beobachtet. Zweitens steht auch der Lehrer permanent unter Druck. Seine Beobachtung ist zudem subjektiv und hängt vom Moment ab, in dem er beobachtet.
Das gilt für Tests genauso. Geht es nicht darum, den Lernprozess in den Mittelpunkt zu nehmen – und als Lehrer meine Förderangebote der Diagnose anzupassen?
Ja. Aber zum einen ist der Schüler auf den Test vorbereitet. Zum anderen können auch Tests Fortschritte messen. Ich sage ja nicht, dass die klassische Prüfung die Bewertung schlechthin ist, oder dass sie vollkommen objektiv sei. Aber ich wehre mich dagegen, dass jetzt alles in eine Richtung gedrängt wird.
Ein neuer Bewertungsmoment wird der Travail d’envergure sein, der über den Zugang zum Abitur entscheidet.
Wir sind nicht gegen den Travail d’envergure, aber er hat zu viel Gewicht. 4 000 bis 5 000 Wörter, 20 Seiten, sind zu viel. Dass hundert Stunden außerhalb des normalen Unterrichts für die Arbeit veranschlagt werden, finden wir auch nicht gut. Es sollten mindestens 50 Prozent Bestandteil des normalen Unterrichts sein. Die Schüler haben unterschiedliche Voraussetzungen, die einen werden zuhause unterstützt, die anderen nicht. Auch sollte ein Lehrer nicht sechs, sondern ein bis zwei Schüler betreuen. Und dann ist da das Problem vom Plagiat.
Müssen Lehrer auf die Aufgabe vorbereitet werden, etwa durch Fortbildungen?
Ja, schon um in eine gemeinsame Richtung zu steuern in punkto Anforderungen, Methodik und Betreuung eines Schülers. Wir sollten uns aber davor hüten, den Schüler zu früh als autonom zu begreifen. Viele Jugendliche müssen erleben, dass ihre Eltern mit den Anforderungen der heutigen Gesellschaft nicht immer zurechtkommen. Daher darf man nicht davon ausgehen, dass sie alles selbständig machen werden und es nur eines Anstoßes bedarf.
Die Ministerin gibt an, die Autonomie der Schüler stärken zu wollen.
Das wird von jeder Schulreform behauptet.
Die Spezialisierung und Schwächen in der Allgemeinbildung werden ebenso als Gründe genannt.
Ob unsere Schüler zu spezialisiert sind, weiß ich nicht. Und die Behauptung, die Reform fördere die Allgemeinbildung, stellen wir in Frage. Was ist das überhaupt? Geschichte und Geo werden zusammengelegt, es werden Amalgame geschaffen, obwohl ein Geschichtslehrer nicht für Geografie ausgebildet ist. Das Fach wird tendenziell zweigeteilt, der Schüler lernt weniger.
Ihre Gewerkschaft hat doch früher selbst dafür plädiert, stärker interdisziplinär zu arbeiten.
Ja, aber mit Interdisziplinarität meinen wir gemeinsame Projekte und nicht, dass Fächer zusammengelegt werden.
Im Ausland arbeiten Schulen erfolgreich damit. Wenn Schulen in Luxemburg stärker interdisziplinär arbeiten wollten, hätte sie es doch längst tun können.
Im Ausland sind es Schulen, die hauptsächlich mit Projekten arbeiten. Und ja, es stimmt, hierzulande ist diesbezüglich nicht viel geschehen. Es gibt einzelne Projekte wie Projektwochen. Oft ist keine Zeit da, oder Leute werden zu etwas gezwungen, von dem sie nicht überzeugt sind. Sicher gibt es eine Tendenz bei Lehrern zu meinen, dann gehe Zeit für ihr Fach verloren. Die Frage ist aber auch, woher die Zeit zur Zusammenarbeit kommen soll.
Über den Rapport Lycée und neuen Schulentwicklungszellen soll die Entwicklung der Lyzeen systematisiert und festgeschrieben werden. Wie steht Ihre Gewerkschaft dazu?
So werden Parallelstrukturen aufgebaut. Anstatt etwa das Lehrerkomitee zu stärken, wird es durch Koordinatoren, die nicht gewählt, sondern von der Direktion eingesetzt sind, umgangen. Es wird eine Fassade von Demokratie aufgebaut, obwohl viele Entscheidungen an den Lehrern und an der Basis vorbeigehen.
Lassen sich unsere Megaschulen überhaupt durch eine Direktion steuern oder braucht es, wegen der komplexeren Anforderungen, nicht Zwischenstrukturen, etwa auf Fächerebene?
Die fachbezogene Koordination begrüße ich, die gibt es schon an vielen Schulen. Wir kritisieren, dass Lehrer nur eine Stellungnahme zu den Reformen abgeben können. Im Conseil de l’éducation sitzen Eltern, Schüler und Lehrer zusammen, oft ist es aber der Direktor, der entscheidet. Darum sind wir auch gegen Direk-tionen in den Grundschulen: Die Lehrer müssen mitentscheiden.
Was für eine Rolle kommt den Eltern bei diesem Demokratieverständnis in der Schule zu?
Eltern sollten Einblick in die Schule bekommen und in Aktivitäten eingebunden werden. Sie haben das Recht, gründlich über ihre Kinder informiert zu werden. Es kann aber nicht sein, dass sie über Programme oder Inhalte entscheiden. Oder versuchen, Einfluss auf die Noten zu nehmen, wie es immer mal wieder vorkommt.
Dreh- und Angelpunkt der Reform ist der Sprachenunterricht. Differenzierte Sprachniveaus sollen laut Ministerium mehr Schüler zu einem Abschluss verhelfen.
Das ist einer unserer großen Kritikpunkte. Nun soll der Grammatik- und Syntaxansatz aus den unteren Klassen auf die oberen übertragen werden. Dabei stellt sich die Frage, wieso nach neun bis zehn Jahren Deutsch- oder Französisch-Unterricht viele Schüler noch immer keinen fehlerfreien Satz schreiben können. Das liegt vielleicht auch daran, dass man sie zu wenig fordert und sie ihre Schwächen großzügig kompensieren lässt.
Die bisherige Kompensation soll abgeschafft werden.
Zum Teil. Was bedeutet das Kompetenzniveau ,en voie d’acquisition‘? Der eine Conseil de classe legt es so aus, der andere so. Und der Schüler weiß nicht, woran er ist.
Wäre eine Bewertung auf Basis von 60 Punkten objektiver?
Es gibt keine Evaluation, die objektiv ist.
Warum dann an der 60-Punkte-Skala festhalten?
Weil sie weniger auf subjektiven Elementen basiert. Weil sie weniger aufwändig ist. Ich bin nicht per se gegen andere Formen der Bewertung.
Analysen zeigen, dass viele Schüler wegen der Anforderungen in den Sprachen oder in Mathe sitzen bleiben.
Das stimmt. Aber wenn wir den Weg einschlagen, den das Ministerium vorschlägt, sinkt das Niveau nur weiter. Im Reformprojekt Cycle supérieur orientiert sich die Bewertung am Europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Dieser lässt sich aber nicht auf unseren Französisch- oder Deutschunterricht anwenden, denn für unsere Kinder sind das keine wirklichen Fremdsprachen. Im Classique ist das höchste Niveau C1. Im EST reicht ein B2 oder ein B1, dabei erreichen unsere Schüler oftmals schon in der 7e und 8e dieses Niveau. Wir finden zudem, dass alle Schüler ein Anrecht auf Literatur und Kultur haben und nicht nur einige auserwählte. Der Europäische Referenzrahmen berücksichtigt aber nur die technischen Aspekte einer Sprache.
Das klingt, als würde das SEW das humanistische Gymnasium verteidigen. Muss es nicht darum gehen, möglichst vielen Jugendlichen einen hohen Abschluss zu ermöglichen und sie nicht an unrealistischen Sprachanforderungen scheitern zu lassen?
Effektiv hält unser Sprachenunterricht Schüler davon ab, einen Abschluss zu machen. Aber das Pendel schlägt derzeit zu weit in die entgegen gesetzte Richtung aus. Ein Absenken der Anforderungen ist keine Lösung. Stattdessen sollten die Schüler unterstützt werden, und zwar ab der Grundschule. Die öffentliche Schule muss weiterhin auch die Exzellenz fördern!
Jetzt gibt es eine sozialistische Unterrichtsministerin und Ihre Gewerkschaft ist immer noch nicht froh.
In meinen Augen betreibt die Ministerin eine rechte Politik in dem Sinne, dass die öffentliche Schule unter dem Vorwand von Chancengleichheit an Einfluss verliert und immer mehr Elemente aus der Wirtschaft Einzug halten. Dies auch auf der Ebene der Berufsausbildung, wo künftige Abschlüsse an Wert verlieren.
Das Motto der Rentrée lautet ,Chancen geben, Chancen nutzen‘. Selbst wenn das leere Worte wären: Der Arbeitsmarkt verlangt mehr Hochqualifizierte. Das geht nicht ohne Reform.
Statt alle Energie auf strukturelle Reformen zu konzentrieren, wäre es besser zu schauen, was innerhalb der Strukturen geschieht. Die Hauptprobleme bleiben: etwa der Mangel an qualifizierten Lehrern. Wenn es dem Staat nicht gelingt, mehr Lehrer zu rekrutieren, blutet der EST aus. In den nächsten vier Jahren werden fast 500 qualifizierte Lehrer pensioniert; viele jüngere wandern dann vom EST in den ES ab. Zurück bleiben die Lehrbeauftragten, deren Anteil seit Jahren ständig steigt. Das ist ein essentieller Punkt. Ein anderer ist die Zusammenarbeit der Lehrer und die fehlende Autonomie und Motivation der Schüler. Aber sie hängen nicht von der Schule allein ab, sondern von der Gesellschaft.
Studien wie die Magrip-Studie zeigen, dass unser Schulsystem schon in den 1960-er/70-er Jahren sozial extrem selektiv war. Ist es nicht egal, ob nun ausgebildete Lehrer entlang von Sprachkriterien aussortieren oder Lehrbeauftragte?
Unsere Gesellschaft ist eine kapitalistische und damit selektiv. Und unsere Schule ist ein Spiegelbild davon. Das SEW setzt sich weiter gegen die zu hohe Selektivität unseres Schulsystems ein. Wir hoffen natürlich, dass die Reform positive Effekte zeigt. Aber die Schwerpunkte und die Voraussetzungen stimmen uns pessimistisch. Außerdem: Unsere Schüler behaupten sich gut an ausländischen Universitäten. So schlecht kann unsere Schule also nicht sein.
Da würde die Ministerin wohl kaum widersprechen.
Viele Lehrer haben den Eindruck, als wäre die Arbeit, die sie bisher gemacht haben, umsonst. Und als tue das Ministerium so, als würden jetzt erst gute Schulen aufgebaut.
Sind die Lehrer verunsichert? Weil Wissen eine immer kürzere Halbwertszeit hat und andere Rollenprofile gefragt sind?
Das meine ich nicht. Viele Lehrer sind missgestimmt, weil sie merken, dass Schüler nicht mehr reagieren, wie sie meinen, dass sie es tun sollten. Ihnen fehlt es oft an wichtigem Basiswissen. Da sitzen Schüler in Klassen, wo man sich fragen kann, wie sie überhaupt dahin gekommen sind.
Die durchschnittliche Intelligenz in der Bevölkerung hat wohl kaum abgenommen.
Ich mache den Schülern keinen Vorwurf, aber die Welt ist komplexer geworden. Es gibt viele Ablenkungen, das Fernsehen, das Mobiltelefon, der Computer.
Das werden Sie nicht ändern, sie sind Bestandteil unseres Alltags.
Ja, aber der Druck auf die Schulen nimmt zu, allen Widrigkeiten zum Trotz immer bessere Leistungen zu produzieren. Das schafft die Schule nicht allein. Vielmehr wird oft die Schule für vieles verantwortlich gemacht, von Eltern, von Politikern.
Liegt das nicht daran, weil die Schule nicht auf der Höhe der Zeit ist? Das SEW hat vor einiger Zeit einen Film des Journalisten Reinhard Kahl gezeigt, in dem alternative Schulmodelle gezeigt werden. Davon sind unsere Schulen weit entfernt.
Der Film idealisiert sehr stark.
Ist es nicht vielmehr so, dass sich das SEW von alten Idealen abkehrt?
Wir stellen fest, dass sich manchesnicht so entwickelt, wie wir es gehofft haben. Wir versuchen dahinter zu schauen, deshalb haben wir uns zunächst nicht zu den Kompetenzen geäußert. Aber dieser Ansatz stellt viele positive Errungenschaften in Frage. Der Kompetenzunterricht hat seine Vorteile, aber auch klare Grenzen. Und die müssten gezogen werden.
Jetzt, wo die Reformen konkreter werden und neue Anforderungen an die Lehrer kommen, besinnt sich das SEW auf sein Kerngeschäft und verteidigt korporatistische Interessen. Ist es nicht der gewerkschaftliche Innovationsgeist, der an Grenzen stößt?
Wir wollen beides: gute Arbeitsbedingungen und eine performante Schule. Der Lehrer unterrichtet längst nicht nur, sondern arbeitet und bespricht sich mit Kollegen. Die Schule ist heute anders als damals, als ich als Lehrer angefangen habe. Natürlich haben wir als Gewerkschaft auch die Aufgabe, gute Arbeitsbedingungen zu verteidigen und zu gucken, dass Änderungen Sinn machen.
Wenn Sie zurückblicken: Ist die Luxemburger Schule denn heute gerechter oder ungerechter?
Die Gesellschaft heute ist ungerechter. Weil sie weniger Jobs für Niedrigqualifizierte bietet und weil die Einkommensunterschiede zunehmen. Der soziale Fahrstuhl steht praktisch still. Es gibt eine Elite und eine größer werdende Masse, die wenig weiß und kann. Dem muss die öffentliche Schule entgegenwirken!