Wir werden die Bilder nicht mehr los. Die Trümmer des World Trade Center, die leeren Straßen von Paris, Gesichter der Verzweiflung und der Angst an der Place de la République bleiben für immer in Erinnerung. Plötzlich war alles anders. Die Stadt voller Kultur, Inspiration und Lebensfreude ist erstarrt. Michel Houellebecqs noch surreales Szenario des Bürgerkriegs, beklemmend angedeutet in La Soumission, wird gefühlte traurige Realität. Menschen taumeln durch die Straßen und suchen Schutz vor dem Schrecken, Freunde und Angehörige sind von Furcht und Sorge ergriffen. Ohnmacht gegenüber feiger Gewalt kennzeichnet oft die Erfahrung von Verbrechensopfern – am 13. November 2015 wurde sie zu unser aller Erfahrung. Es ist einer der Tage, an dem wir auch noch in Jahren wissen werden, was wir in diesen Stunden gemacht, gesagt und gefühlt haben. An diesem Tag gehen uns Gewissheiten verloren.
Wir alle kennen das „Alles-ist-gut-Gefühl“ eines Freitag-Abends und die Freude auf die bevorstehende Zeit, die wir haben: für unsere Familien, Kinder, Menschen, die wir lieben. Wir konnten bisher darauf vertrauen, dass das Modell unseres Zusammenlebens und die routinierten Prozesse gesellschaftlicher Integration dieses Gefühl nicht nur zulassen, sondern es auch schützen. Wir vertrauten auf die ungestörte Banalität des Alltags – eine Tasse Kaffee oder das Glas Wein an der Straße, Gespräch mit Freunden, Musik, die zerstreut: die Banalität von Flaneuren auf der Suche nach Inspiration. Unverbrüchliches Vertrauen in die Unverletzlichkeit dieser Banalität, dieser kleine Schutzraum des Lebens, macht – obgleich banal - einen wichtigen Teil unser aller Freiheit aus.
Freiheit: Sie konstituiert sich in der Zivilgesellschaft durch einen öffentlichen Raum, frei zur Partizipation am demokratischen Prozess, frei aber auch von Politik, von Macht, von Gewalt. Dieser öffentliche Raum ist zugleich die Voraussetzung jeder demokratischen Ordnung. Wenn wir danach fragen, welche Ordnung legitim, welches Handeln moralisch, welche Entscheidung gerecht ist, greifen wir auf Prinzipien zurück, die allgemein und öffentlich, die unverletzbar und Kern europäischer Gesellschaften sind. Freiheit entsteht, wo wir den anderen in seiner Freiheit anerkennen, wo wir uns mit gegenseitigem Respekt begegnen und Toleranz üben. Freiheit wird lebendig, wenn wir den anderen im Denken und im Handeln einbeziehen und erkennen, dass unsere Freiheit dort endet, wo die des anderen beginnt. Werden Grenzen überschritten, bleiben dahinter oft nur Willkür oder Gewalt, wartet jedenfalls immer kühle Missachtung. Das gilt im privaten Miteinander, das gilt schließlich in der öffentlichkeit.
Im öffentlichen Raum begegnen wir uns als Bürger, die gemeinsam Freiheit verwirklichen, indem wir teilhaben: am kulturellen und wirtschaftlichen Leben, an der Politik. Wir gehen in Konzerte und besuchen Ausstellungen oder Restaurants. Wir sind sicherlich konsumierende Wirtschaftsbürger. Vor allem aber äußern wir Meinungen, folgen religiösen Überzeugungen, beteiligen uns an Demonstrationen und Wahlen – oder aber, auch dies ein Recht, unterlassen dies alles nach reiflicher Überlegung. Freiheitsrechte sind der Ursprung jeder gelungenen gesellschaftlichen Integration und jeder legitimen staatlichen Ordnung. Das Recht von Staaten und deren Verfassung respektiert entweder diese Freiheit, oder es ist kein Recht.
Die mörderischen Anschläge von Paris sind Anschläge auf die Freiheit. Sie treffen sie ins Mark, weil sie auf die Gewissheiten abzielen, wie wir Freiheit öffentlich leben. Sie machen den Kern jeden Verbrechens auf erschütternde Weise sichtbar, nämlich die Negation der Freiheit anderer Menschen, um sie brutaler und blinder Willkür zu unterwerfen. Richtig ist aber auch: Diese Gewissheitsverluste zeichnen sich seit Jahren als schleichender politischer Prozess in den westlichen Gesellschaften ab. Die Prinzipien, die Freiheit konstituieren, unterliegen einer dauernden Erosion, die den Wert der Freiheit und deren unveräußerliche Geltung seit langem in Frage stellt. Wir beobachten einen Zerfall des öffentlichen Raums, weil nicht jeder gleichberechtigt an ihm Anteil hat. Nicht nur in den Banlieues von Paris, sondern auch in Stadtvierteln von Molenbeek, im Norden von Dortmund oder Gelsenkirchen wächst eine Generation heran, deren Teilhabe an der Freiheit nicht mehr vorgesehen ist. Freiheit ist immer ein Privileg im Leben der anderen, nicht die eigene Erfahrung. Diese ist vielmehr durch die dauerhafte Zuschreibung, draußen vor den gesellschaftlichen Türen zu stehen, geprägt. Gewissheiten hat diese Generation nicht mehr, außer der Ausweglosigkeit sozialer Isolation. Deren Freiheit, deren Rechte hat die Gesellschaft überwiegend vergessen.
Die Täter entstammen zum Teil dieser vergessenen Generation. Sie tragen den Stachel des Gewissheitsverlusts aus den dunklen Rändern des öffentlichen Raumes in dessen teils neonfarben leuchtende Mitte. Wenn man will, ist dies zugleich ein Spiegelbild globaler Problemlagen, die den Westen einholen und die die Europäische Zivilgesellschaft gerne verdrängen möchte. Sie lassen sich indes nicht verdrängen, sondern verlangen nach politischen Lösungen. Armut und Gewalt sind in den Krisenregionen der Welt, insbesondere im Nahen Osten, in den Staaten des Maghreb und in Schwarzafrika, alltägliche Erfahrungen. Sie sind der Nährboden, auf dem kollektive Verzweiflung wächst, die zum einen in Migrationsbewegungen und zum anderen in Radikalisierung mündet. Nicht zuletzt sind sie der Grund, warum das Vertrauen in die Errungenschaften der politischen Aufklärung schwindet und die Prinzipien dieser Aufklärung diskreditiert und letztlich gewaltsam zerstört werden sollen. Wir sind Zeugen einer Weltgesellschaft, die am Verlust der Gewissheit leidet, dass der freiheitliche Rechtsstaat à priori ein erstrebenswertes, weil gerechtes Modell des Zusammenlebens bietet.
Und wir selbst tragen zu diesem Gewissheitsverlust bei, indem wir die Erosion freiheitlicher Prinzipien selbst vorantreiben oder bestenfalls stillschweigend akzeptieren. Besonders nach dem 11. September 2001 setzte europaweit eine Reihe gesetzgeberischer Maßnahmen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene ein, die der Sicherheit stets den Vorrang vor der Freiheit eingeräumt haben. Wir haben den Anwendungsbereich des Strafrechts kontinuierlich ausgeweitet, die polizeilichen und die geheimdienstlichen Befugnisse systematisch gestärkt. Geheime Ermittlungsmethoden wurden zur Regel, das traditionelle auf Verdacht und Repression angelegte Strafverfahren ist längst die Ausnahme. Die Eingriffsbefugnisse des Staates in fremdes Vermögen wurden erweitert, der Austausch von Informationen erleichtert und vor allem der Zugriff auf persönliche Daten gelockert.
Initiativen des europäischen und nationalen Gesetzgebers lesen sich wie Wunschzettel der Exekutive, deren Kompetenzen mit großer politischer Wucht auf Kosten rechtsstaatlicher Prinzipien ausgebaut wurden: Im Strafgesetzbuch wurden mittels europäischer Sicherheitsgesetze Straftatbestände eingeführt, die den Anwendungsbereich des Strafrechts auf die eigentlich unfassbare Gesinnung und den bloßen Willen zur Gefährdung anderer erstreckt. Artikel 135-1 bis Artikel 135-8 des Code pénal oder Paragraf 129a des deutschen Strafgesetzbuches – die Bildung terroristischer Vereinigungen – sind Beispiele. Man braucht dieses Strafrecht nicht, um zu bestrafen. Man braucht es, um Polizei, Staatsanwaltschaften und Geheimdiensten mehr Kontrolle zu erlauben. Ein unklares, kaum noch durch Auslegung zu begrenzendes Strafrecht ist das Trojanische Pferd einer umfassenden – manche meinen schon jetzt: totalitären – sozialen Kontrolle.
Mit der Wucht des Sicherheitsparadigmas im Rücken, werden im Polizei- und Strafverfahrensrecht geheime Ermittlungsmethoden beständig in das so genannte Vorfeld der eigentlichen Straftat ausgedehnt. Dass die Zahl der Telefonüberwachungen europaweit seit Jahren ungebremst zunimmt, erscheint dabei fast schon hinnehmbar angesichts der breit gefächerten Datenverarbeitungssysteme, welche die europäischen Polizeibehörden miteinander vernetzen. Strafverteidiger wissen seit langem, dass sich eine Art Geheimprozess etabliert hat, dessen Gerichtsakten der Verteidigung zum Teil entzogen sind, in dem tatsächliche und rechtliche Voraussetzungen staatlicher Ermittlungen verschleiert und Beweismittel vorenthalten werden, in dem Verteidigungsrechte gar nicht mehr greifen können. Auf dem Altar der Sicherheit sind elementare Prinzipien eines fairen Strafverfahrens längst geopfert worden. Es entsteht ein Kriminaljustizsystem, das – europaweit – weder repressiv noch präventiv wirken will, sondern das die Überwachung und Kontrolle von Risiken und Gefahren zum eigentlichen Kern hat.
Auswüchse dieser sozialen Kontrolle um ihrer selbst willen werden derzeit nur noch durch nationale und in letzter Zeit verstärkt auch durch Europäische Gerichte begrenzt. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung verwarf die Europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung als unverhältnismäßig und als mit dem Europäischen Grundrecht auf den Schutz personenbezogener Daten unvereinbar. In seinem Schremps-Urteil verlangt der EuGH, dass Fluggastdaten, die an einen Drittstaat, hier die USA, übermittelt werden, europäischen Grundrechtsstandards genügen müssen. Die Botschaft ist eigentlich klar: Nicht alles ist legitim, was der Sicherheit dient. Aber alles was Grundrechte schützt, dient auch der Sicherheit. Dass nur die Dritte Gewalt die Expansion von Sicherheitsgesetzen kontrolliert, belegt, wie weit sich sowohl Gesetzgeber als auch – erst recht – exekutive Gewalten von rechtsstaatlichen Prinzipien und deren Begrenzungswirkung entfernt haben. Zugleich fehlt die Einsicht, dass erst der Respekt vor diesen Prinzipien eine zielgerichtete und effiziente Anwendung von Gesetzen gerade ermöglicht.
Stattdessen entstehen überall innerhalb nationaler und europäischer Behörden Datenhalden, die über Gefahren und Risiken von Strukturen, aber auch Personen Einsicht vermitteln sollen. Sie sollen Risikoprofile zu erstellen und Gefährdungspotenziale zu ermitteln erlauben und – wenn politisch opportun – auch zur Ermittlung von Straftaten dienen. Indes wird sichtbar: Egal wie groß, wie hoch und wie weit diese Datenhalden wachsen, bleibt ihr Sicherheitsversprechen trügerisch.
Politische Einsicht aber in die Dysfunktionalität europäischer Datensammelwut fehlt. In Frankreich, Luxemburg und Deutschland und in ganz Europa werden neue Sicherheitsgesetze diskutiert, soll der Austausch von Fluggastdaten – gerichtlich festgelegter Grenzen zum Trotz – erneut ausgebaut, sollen Datenverarbeitungssysteme optimiert und Straftatbestände schon wieder erweitert werden. Diese Eskalation der Sicherheitsgesetzgebung aber geht über die Grenzen des im demokratischen Rechtsstaat normativ Vertretbaren hinaus. Sie mündet in das, was sich in Frankreich, auch in Belgien in den letzten Wochen bedrohlich abzuzeichnen beginnt: die Macht des Ausnahmezustandes, der schleichend, aber unaufhörlich die Demokratie selbst in ihrem Kern – dem öffentlichen Raum – zu zersetzen beginnt. Historisch erinnert Europa zum Teil an das Ende der Weimarer Republik in Deutschland: Ein überforderter Verfassungsstaat warf angstvoll seine Prinzipien über Bord. Wer am Ende aber über keine Prinzipien mehr verfügt, hat auch nichts mehr zu verlieren. Wer auf immer mehr Sicherheit setzt, kommt irgendwann um den politischen Systemwechsel nicht herum. Es ist daher politisch irreführend zu behaupten, die Freiheit ende an der Sicherheit aller. Historische Erfahrung belegt: Die Freiheit stirbt mit Sicherheit. Die Anschläge auf die Freiheit hätten damit ihr Ziel erreicht.
Dabei ist der Rechtsstaat keineswegs wehrlos, weder nach außen noch nach innen. Er gewinnt seine Kraft durch seine Legitimität, die aus dem Respekt vor den Prinzipien der Freiheit erwächst. Wer diese Prinzipien verletzt, wird dem berechtigten Strafanspruch des Staates unterworfen – freilich auf gesetzmäßige Weise. Gesetzmäßiges Strafen gründet auf dem Prinzip der Strafgesetzlichkeit. Das Strafgesetz muss klar bestimmt, in seinem Anwendungsbereich erkennbar sein (lex certa) und darf nicht rückwirkend angewandt werden. Strafverfahren und Gefahrenabwehr sind getrennt. Für das eine sind Staatsanwaltschaften, für das andere Polizeibehörden zuständig.
Und schließlich: Der demokratische Rechtsstaat schützt sich gegen Angriffe von außen nach den Regeln des Völkerrechts. Gewalt ist ihm nach der UN-Charta, nach den Regeln von Bündnissen wie der Nato oder im Falle unvermeidlicher Selbstverteidigung erlaubt. Militär verteidigt den Rechtsstaat nach außen. Wir haben diese Mittel und wir könnten sie selbstbewusst anwenden, gerade weil sie auf der legitimatorischen Kraft des Rechts beruhen und das Gegenteil von gemeiner Willkür sind. Der Terror als konkrete innere Gefahr und als äußere Bedrohung, Gewaltverbrechen als Verletzung von Freiheit verlangen nach entschiedener Reaktion. Allerdings verlangt die Härte des Gesetzes, die die Politik als Sicherheitsfloskel im Munde führt, gerade die Prinzipienfestigkeit, die uns verloren gegangen ist. Es bedarf keiner neuen Gesetze, sondern Augenmaß und Besonnenheit bei der Anwendung des schon bestehenden Rechtsrahmens.
Macht man sich klar, dass sich der demokratische Rechtsstaat in seinem freiheitlichen verfassungsrechtlichen Rahmen zu verteidigen weiß, so bedeutet dies vor allem eine Absage an den Krieg als scheinbar zwingende politische Antwort auf terroristische Gewalt. Verbrechensbekämpfung als Krieg zu verstehen, ist nur die Folge des durch den Verlust an freiheitlichen Prinzipien um seine Widerstandskraft beraubten demokratischen Rechtsstaats. Wenn am Ende aller scheinbar omnipotenten sicherheitspolitischen Versuche nur die Erkenntnis übrig zu bleiben scheint, dass der Sicherheitsstaat nichts garantieren kann, erweist sich die Kriegserklärung an den Terror einerseits zwar als konsequent, andererseits aber als Akt politischer Hilflosigkeit. Zugleich bestätigt die Interpretation politischer gegen den Terrorismus gerichteten Maßnahmen die Dramatik der Gewissheits- und – infolgedessen – Prinzipienverluste der eigentlich freiheitlich verfassten Zivilgesellschaften des Westens: Krieg setzt einen Feind voraus. Eine schwere Straftat wird zum kriegerischen Akt, ein Straftäter wird zum Feind erklärt. Beides erlaubt dem Staat, mit Mitteln zurückzuschlagen, die gleichfalls jenseits von Demokratie und Rechtsstaat liegen.
Seit den Anschlägen in Paris erleben wird dieselbe Logik sicherheitspolitischer Reaktionen, wie sie uns seit dem 11. September 2001 begleiten. Nach innen werden verfassungsrechtliche Grundsätze geschleift, nach außen greifen militärische Mittel. Was eigentlich ist noch real und wo gewinnen wir noch an Orientierung? Die Bilder dieser Tage zeigen es: Soldaten patrouillieren in Brüssel, Fahrzeuge stauen sich an vor Wochen noch freien Grenzen, von Flugzeugträgern steigen Kampfflugzeuge auf. In unser Bewusstsein dringt eine Welt, die uns, die wir allein mit unseren Gewissheitsverlusten bleiben, beruhigen will, die aber zugleich den Gewissheitsverlust unumkehrbar zu machen scheint.
Die Welt des Ausnahmezustands hat es sich zur Aufgabe gemacht die Welt der Spaßgesellschaft zu retten. Beide Welten aber machen blind für komplexere Realitäten und unsensibel für die normative Kraft demokratischer Prinzipien, deren Vorbild wir selbst nicht mehr folgen. Wer Kriege gegen Feinde führt, verkürzt das Problem, weil er nach Sündenböcken sucht, die mit Etiketten gekennzeichnet werden können. Mit dem Etikett des Feindes ist das Problem scheinbar definiert, weil es be- und ausgrenzt. Die Guten auf der einen, die Bösen auf der anderen Seite – wie praktisch. Feindbegriff und Kriegsrhetorik schaffen jene Radikalisierung, die man unter Kontrolle glaubte, stets aufs Neue.
Jedoch entkommt man ihr nicht durch Ausgrenzung – im Gegenteil. Freiheit als Modell gesellschaftlicher Ordnung entsteht in nationaler Perspektive nur durch gelungene gesellschaftspolitische Integration. Sie setzt international voraus, dass militärischem Zwang eine faire Konzeption nachhaltiger Entwicklungspolitik folgt. Die Genesis des so genannten Islamischen Staates findet in zwei ungerechtfertigten Kriegen des Westens und in der anschließenden misslungenen Befriedung des Irak und Afghanistans ihren Anfang und nicht zuletzt in der versäumten Integration sozialer Brennpunkte europäischer Metropolen ihre Fortsetzung. Einen Marshall-Plan für den Nahen und Mittleren Osten gab es nie, eine soziale Komponente von Gesellschaftspolitik, die wirkungsmächtig neben die alltäglich fröhliche Einladung zu ungebremstem Konsum tritt, gibt es kaum. Wer erklärt den Sinn der Freiheit, wo wir bloß noch Getriebene einer beschleunigten Welt zu sein scheinen?
Es ist daher an der Zeit, die verzweifelte sicherheitspolitische Logik, die „Welt in der Welt“, wie Don DeLillo formuliert, zu durchbrechen. Machen wir uns dabei nichts vor: Der Rechtsstaat ist auch eine Zwangsordnung. Freiheit wächst nur, wo Frieden herrscht und Menschenrechte geschützt sind. Freiheit darf daher – verhältnismäßig und prinzipiengeleitet – da, wo sie verletzt wird, gewaltsam verteidigt und durchgesetzt werden. Wir haben, so scheint es, derzeit keine andere Wahl als der Freiheit auch mittels militärischer Intervention – nach den Regeln des Völkerrechts – dort Wirkung zu verschaffen, wo sie durch Terror negiert wird.
Das ist ein vermutlich unvermeidlicher Anfang, aber nur der kleine Teil einer Antwort auf die Frage, wie wir mit den Anschlägen auf die Freiheit umgehen. Das Recht begegnet der Verletzung der Freiheit vor allem durch Konzentration auf das Machbare, auf das, was wichtig ist: Wir bestrafen, was strafwürdig ist, nach genauen Gesetzen; wir verfolgen, was verfolgt werden muss, nach Regeln des fairen Verfahrens; wir wenden Gefahren ab, die konkret sind und zielgerichtet abgewehrt werden können.
Konzentriert man das Recht auf das Wesentliche, wird in einer globalisierten Weltordnung sichtbar, dass es Verfahren und dass es Gerichte geben muss, dem internationalen Terrorismus eine rechtsstaatliche Antwort entgegenzusetzen. Eine Ausweitung des Völkerstrafrechts und internationale Gerichte zur Verfolgung terroristischer Verbrechen sind denkbare Antworten, die demokratische Staaten zu geben vermögen. Politik, die nicht durch angstgesteuerten Populismus determiniert ist, gewinnt zudem an Überzeugung, wenn sie Prinzipien vermittelt und hilft, faire Lebensverhältnisse weltweit zu entfalten.
Sicherheit ist kein guter Ratgeber für die dringende Renaissance einer rationalen Gesellschaftspolitik. Diese ist dem stets unvollendeten Projekt der Aufklärung geschuldet, das der Philosoph Immanuel Kant als den „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ beschreiben will. Wie aber finden wir diesen Ausgang in Zeiten des Gewissheitsverlustes? Die Antwort liegt nicht in der Hand von Sicherheitsbehörden, sondern vielmehr in uns selbst. Kant hat dazu aufgefordert, das Wagnis einzugehen, den eigenen Verstand zu gebrauchen, und dabei seinem Kompass – „dem moralischen Gesetz in uns“ – zu folgen. Machen wir das doch einfach: Selber denken hilft gegen die Angst, Mitempfinden ist die Voraussetzung für Gleichheit, Empathie ist die Antwort auf Feindbilder.
13. November 2015: Welche Bilder bleiben uns? Was werden wir machen, sagen wir, in einem Jahr? Die leeren Straßen von Paris verlangen nach einem Fest – einem Europäischen Fest für die vergessene Freiheit.