„Ich bin heute fast genauso alt wie Sarah Kane am Tag ihres Todes“, schreibt Regisseurin Anne Simon zum Konzept ihrer Inszenierung von Gier (Crave, 1998) im Kasemattentheater. Und mit diesem einen Satz rückt Sarah Kane plötzlich ganz weit weg ins letzte Jahrhundert, in die Neunzehnneunziger. Generation X, Kurt Cobains Selbstmord, der wilde Kapitalismus, die Balkankriege, die ersten großen Pädophilieskandale in Europa, John Major, Tony Blair, Bill Clinton, Helmut Kohl, Gerhard Schröder – für Anne Simon und ihre Altersgenossen ist das alles Geschichte (nur Luxemburg hat noch immer Jean-Claude Juncker...).
Wenn sie also Sarah Kane inszeniert, dann ist die Autorin für sie nicht mehr Identifikationsfigur, sondern vor allem Literaturgeschichte, die es für „unsere Zeit“ zu aktualisieren gilt. Die „Orientierungslosigkeit der Jugend“ nach dem „Werteverlust“, vor denen uns der Spiegel in jenem Jahrzehnt mindestens einmal pro Monat mir erhobenem Moralfinger warnte, ist für Anne Simon kein Thema. Im Gegenteil, sie stellt fest, dass heute, zu Beginn des neuen Jahrtausends, Politik, Medien, Sozialwesen „und teilweise sogar die Kunst“ versuchen, die alten Werte zu rehabilitieren, wie ihre Generation nicht der Desillusion, sondern, ganz im Gegenteil, der kompletten Illusion verfallen ist, die sie besonders in virtuellen Welten unterhält. Ihr Text zum Stück liest sich wie eine Bestandsaufnahme.
Sarah Kane, die sich vor zehn Jahren das Leben nahm, wäre heute 37. Wäre sie bieder? Wäre sie eine gestresste, alleinerziehende Mutter, die eben in den Sog der Wirtschaftskrise geraten wäre? Was würde sie heute schreiben? Damals, Ende der Neunziger, wurde Sarah Kane schnell zu einem Mythos, einer „Marke“ – wogegen sie sich zeitlebens vehement wehrte – zu der Zeitgeist-Dramaturgin schlechthin. Nach den Skandalen um Zerbombt und Gesäubert, die besonders von der Kritik zerrissen wurden, war Gier ihr wohl persönlichstes Stück, das ihre tiefe Enttäuschung über die Welt bezeugt und keinen Hehl aus ihren Selbstmordgedanken macht. Der ebenso poetische wie komplexe Text ist vor allem eine gewaltige Herausforderung an Inszenierung und Schauspieler.
Denn die Handlung ist knapp, eine geschlossene Gesellschaft vierer Figuren, zwei Männer und zwei Frauen: C (Nora Koenig), B (Marc Limpach), M (Martina Roth) und A (Germain Wagner). In verwobenen und zerfetzten Dialogen werfen sie sich ihr Unvermögen, ihr Leben erhobenen Hauptes zu leben, an den Kopf, mit brachialer Gewalt und oft unerträglicher Grausamkeit. Unerfüllter Kinderwunsch, Sehnsüchte nach Geborgenheit und Liebe, Sucht, Pädophilie, Schuldzuweisungen, Einsamkeit, Ekel vor der eigenen Familie, Hass des eigenen Körpers – dieses Quartett ist ein „Little Shop of Horrors“ des Familienlebens. Dem Zuschauer wird einiges zugetraut und besonders auch abverlangt: Gier ist kein Stück, das man sich so nebenbei zum Entspannen nach einem langen Arbeitstag ansieht.
Anne Simons Geniestreich ist ihre klare Aussage, die sie mit Bühnenbildnerin Anouk Schiltz entwickelt: Die vier Figuren sitzen zum Abendmahl in einem biederen Wohnzimmer, Eiche rustikal mit Perserteppich, Kruzifix und Familienporträt in Öl an der Wand. Radiohead singt Nude, und sobald die Einspielung aus dem Off vertönt, springt C explosionsartig auf, schreit ihren Hass in den Saal, dass einem das Blut gefriert. Nora Koenig ist phänomenal in ihrer Rolle, in ihrer Wut gegen die Welt, in ihrem Selbstzerstörungsdrang, in ihrem Durst nach Liebe und Anerkennung, in ihrem bedingungslosen Körpereinsatz – vielleicht auch, weil sie sich an eben der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsenwerden befindet, an der Sarah Kane zerbrach. Anouk Schiltz’ Bühnenbild entpuppt sich als fünfte Figur, die, wie die anderen, verschachtelt ist, mit immer neuen Öffnungen, Überraschungsmomenten, verborgenen Geschichten. Eine Schrankwand führt zu den dunklen Geheimnissen von B, ein Sessel zu den Schandtaten von A, ein Tisch zu den intimen Obsessionen der M.
Trotz der scheinbaren Dialogform gibt es in Gier kein Miteinander, keinen Austausch. Die Figuren reden aneinander vorbei, die kurzen Momente des Dialogs werden immer wieder brutal zerstört. Am Ende gipfelt ihre Kommunikationslosigkeit in einem totalen Chaos, ihre Stimmen verhallen via Diktiergerät. Die Zuschauer bleiben minutenlang sprachlos im Saal zurück.
Gier von Sarah Kane; in der Inszenierung von Anne Simon, mit Nora Koenig, Marc Limpach, Martina Roth und Germain Wagner; Bühne / Kostüme: Anouk Schiltz, wird noch am 20., 21., 27 und 28. Januar jeweils um 20 Uhr im Kasemattentheater, Saal Tun Deutsch, 14, rue du Puits in Luxemburg-Bonneweg gespielt; Kartenvorbestellung über Telefon 291 281 (Anrufbeantworter); Internet: www.kasemattentheater.lu.