Vor einem Monat hinterlegte die Regierung einen Haushaltsentwurf für nächstes Jahr. Sein Kern ist ein weiteres Sparpaket von über einer halben Milliarde Euro. Sie soll durch Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen eingebracht werden. Auf diese Weise sollen Steuerausfälle aus dem elektronischen Handel ausgeglichen und soll bis Ende der Legislaturperiode ein struktureller Überschuss erreicht werden.
So lautet die offizielle Darstellung der Regierung. Doch sie wird längst nicht überall geteilt. Denn hinter allen großen Berechnungen und Prophezeiungen verbirgt sich die simple Frage, wer die mehr als eine halbe Milliarde Euro zahlen soll.
Freitag, Rue de Bragance in Merl Die aus der Fusion von Arbeiter- und Angestelltenkammer entstandene Salariatskammer ist mit 430 000 Mitgliedern die mit Abstand größte Berufskammer des Landes. Sylvain Hoffmann, der beigeordnete Direktor der Salariatskammer, tut sich schwer, den Haushaltsentwurf von DP, LSAP und Grünen zu verstehen. Denn Luxemburg sei vergangenes Jahr das EU-Land mit dem höchsten und zusammen mit Deutschland das einzige mit einem Überschuss des Gesamtstaats gewesen. War im April noch mit einem Überschuss von 26 Millionen Euro für 2013 gerechnet worden, so zeigten die Konten im Oktober bereits einen Überschuss von 286 Millionen für 2013. Das sei ein Unterschied von 250 Millionen Euro, mehr als die erwarteten Einnahmen aus der bevorstehenden Mehrwertsteuererhöhung.
Die Lage der Staatsfinanzen verbessere sich quasi „automatisch“, heißt es im Haushaltsgutachten der Salariatskammer. Der Haushalt der laufenden Einnahmen und Ausgaben des Zentralstaats bleibe Jahr für Jahr überschüssig. Es seien die Kapitalausgaben, die ein Defizit verursachten, weil die Buchführung der Europäischen Union vorschreibe, dass die Ausgaben aus den Investitionsfonds das öffentliche Defizit vergrößern, damit die öffentliche Hand bei Haushaltsüberschüssen nicht sparen darf, sondern die Steuern senken muss. Hinzu komme, dass nachträglich die Staatskonten Jahr für Jahr zeigten, wie die Einnahmen im Budget systematisch unterschätzt würden – vergangenes Jahr um 922 Millionen – und so das Haushaltsdefizit aufgebläht werde.
Wäre Außenminister Jean Asselborn Mitglied der Salariatskammer, würde er der Regierung wohl wieder „Tricksereien“ vorwerfen. Aber wieso redet die Regierung die Lage der Staatsfinanzen schlecht, setzt sie nach Meinung der Salariatskammer überflüssige und konjunkturschädliche Sparpakete durch?
Um mit einer provozierten „Haushaltskrise“ von der laut Salariatskammer festgestellten „sozialen Krise“ abzulenken oder sie gar voranzutreiben? Präsident Jean-Claude Reding druckst etwas herum. Dann meint er, die Regierung habe sich vorgenommen, „europäischer Musterschüler zu sein“. Im Gutachten der Salariatskammer heißt es dagegen, dass die Mehrwertsteuererhöhung ausreiche, um den Haushalt ins Gleichgewicht zu bringen. Die halbe Milliarde Einsparungen bis 2018 vor allem auf Kosten der Familienpolitik seien aus rein budgetären Gründen nicht nötig.
Montag, Rue Alcide de Gaspari auf dem Kirchberg Die Handelskammer spricht im Namen von 50 000 Mitgliedern, vor allem exportorientierte Industrien, Banken, Finanzgesellschaften, aber auch Geschäften und Gaststätten. Sie hat es traditionell nicht so mit Revolutionen, aber sie ist trotzdem etwas enttäuscht: Der Haushaltsentwurf ihres zum Finanzminister avancierten ehemaligen Generaldirektors sei bloß eine Evolution und keine richtige Revolution. Pierre Gramegnas Nachfolger, Carlo Thelen, erkennt nicht so recht den versprochenen „Haushalt der neuen Generation“ und die „kopernikanische Wende“. Statt an Kopernikus fühlt sich Thelen an Janus erinnert, auch wenn er sich nicht ganz sicher ist, ob der nun ein römischer Kaiser oder ein römischer Gott war. Auf jeden Fall meint er, dass es Janus war, der, wie die Handelskammer, ein lachendes und ein trauriges Gesicht schnitt, wenn sie den Budgetentwurf lese. Denn DP, LSAP und Grüne seien zwar „auf dem richtigen Weg“, die Umstrukturierung und Zusammenlegung von Haushaltsposten seien schon „interessant“, aber der Entwurf sei doch „zu zögerlich und nicht ehrgeizig genug“.
Nicht zuletzt, weil der Haushaltsentwurf auf inzwischen überholten Voraussetzungen beruhe: Das statistische Amt Statec habe vergangene Woche seine Konjunkturprognose für 2015 von 3,3 Prozent auf 2,2 Prozent gesenkt. Zudem stelle nicht nur die Rentenversicherung langfristig eine „versteckte Schuld“ dar, sondern auch die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Statt eines mittleren strukturellen Überschusses von 0,5 Prozent sei deshalb einer von 1,3 Prozent nötig.
Deshalb macht die Handelskammer Vorschläge, um zusätzliche 583 Millionen Euro jährlich zu sparen: durch die Halbierung von Steuerabschlägen für Privathaushalte, weniger Einstellungen im öffentlichen Dienst, die Abschaffung der Mammerent und des 13. Monats für Rentner. Um zu unterstreichen, dass dies dem Gemeinwohl diene, bemüht sich Marc Wagener, Direktor für wirtschaftliche Angelegenheiten, vorzurechnen, dass die Unternehmen keineswegs ungeschoren blieben, ja, nicht weniger als die Hälfte der halben Milliarde Sparmaßnahmen tragen müssten: durch die Mehrwertsteuerhöhung und die damit verbundene Indextranche, durch geringere Zuschüsse für Fortbildungsmaßnahmen und die Unternehmermutualität sowie durch die Kindergeldsteuer, die zu neuen Lohnforderungen führe.
Dienstag, Boulevard Kennedy in Esch-Alzette Präsident Jean-Claude Reding leitet zum letzten Mal eine Sitzung des OGBL-Nationalvorstands, bevor er auf dem Nationalkongress in 14 Tagen sein Mandat abgibt. Der Nationalvorstand heißt einen langen Resolutionsentwurf gut, in dem der Kongress DP, LSAP und Grüne auffordern soll: „L’OGBL exige que le gouvernement change de cap et ne pratique pas de démantèlement social.“ Deshalb soll der Nationalkongress eine Mobilisierungskampagne samt Großkundgebungen und mehr beschließen. Für den nächsten Monat zu verabschiedenden Zukunftspak kommt das zu spät.
Die kopernikanische Wende in der Haushaltspolitik hat Jean-Claude Reding nach der Sitzung des Nationalvorstands doch noch ausgemacht: „Das ist neu“, wie die Regierung die Opfer der nicht von ihnen verschuldeten Krise abstrafe, die Arbeitslosen. Denn ab nächstem Jahr und dann bis 2018 zunehmend werde an der Wiedereinstellungshilfe und der Hilfe für Kurzarbeit gespart. Die Beschäftigungs- und die Familienpolitik seien die beiden Hauptangriffspunkte der Regierung. Zudem zeige die Ablehnung des Sozialdialogs die Respektlosigkeit gegenüber den sozialpartnerschaftlichen Gremien: „Damit droht ein Grundelement des Systems hier im Land kaputt gemacht zu werden.“
Dienstag, Rue Sigefroi in Luxemburg Der Staatsrat verabschiedet in seiner Vollversammlung drei vorbereitete Gutachten zur Haushaltspolitik. Die Anwälte und hohen Beamten erheben mehr als ein Dutzend formelle Einsprüche gegen die Verwechslung der Abgabenkategorien. Dafür bescheinigen sie aber der Regierung, keine übertriebene Strenge oder gar Austerität walten zu lassen.
Mittwoch, Circuit de la Foire auf dem Kirchberg Die Handwerkskammer nennt ihre Branche den größten Arbeitgeber im Land. Wegen ihrer Abhängigkeit vom Binnenmarkt ist sie nicht immer einer Meinung mit den Sparvorschlägen der Handelskammer, mit der sie nun auf Druck der Regierung fusionieren soll. Tom Wirion, der neue Generaldirektor, hält das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts zweifellos für richtig. Aber die Mittel der Regierung seien „unausgereift“, ein „Sammelsurium“ ohne klare Perspektive.
Der Direktor für Wirtschaftsfragen, Norry Dondelinger, verlangt eine „Konsolidierungspolitik“. „Aber wir reden nicht von Austeritätspolitik!“ Die Handwerksammer will nicht beziffern, wie viel ihre Branche zu den Sparmaßnahmen beitragen soll. Aber da wären neben den von der Handelskammer aufgezählten Beiträgen der Auftragsrückgang durch die Mehrwertsteuererhöhung auf dem Bau von Ertragshäusern, die Kindergeldsteuer, die auch Einzelfirmen zahlen müssten, und der Umsatzrückgang durch die Kaufkraftsenkung. Deshalb hat die Berufskammer ihr Gutachten zum Erlebnisbericht eines durchschnittlichen Handwerkermeisters fiktionalisiert. Und der ist vor allem an einer erneuten Rentenreform interessiert und daran, dass die staatlichen Zuschüsse der Handwerkskammer nicht gekürzt werden.
Mittwoch, Boulevard Royal in Luxemburg Emile Haag ist Präsident der Berufskammer der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes sowie der CGFP, denn für ihn ist eine Berufskammer „die institutionelle Widerspiegelung einer Gewerkschaft“. Er spricht im Tonfall eines Manns, der kaum noch zu überraschen ist. Nicht einmal durch Kopernikus. Denn „was Herr Gramegna von seinem Standpunkt aus sagt, haben wir von Herrn Frieden gehört, und zwar Jahr für Jahr“. Auch wenn Ersterer nun 650 000 Euro für Unternehmensberater ausgebe. Die neue Regierung setze ebenfalls „die Einnahmen zu niedrig an“. Das biete „die Gelegenheit, die Ausgaben so zu erhöhen, dass trotzdem noch ein Defizit bleibt“. Dieses Defizit solle dann durch Steuererhöhungen ausgeglichen werden, und zwar „auf dem Rücken des durchschnittlichen Steuerpflichtigen“ – so wie er eben Mitglied der CGFP und der Beamtenkammer ist.