„Erzählungen“, wirklich? Nicht doch eher ein Roman? Eine Chronik? Ein kaum verklausulierter, raumgreifender Kommentar zu Sein und Zeit in Luxemburg? Nico Helmingers jüngstes Buch steckt, so kann es einem vorkommen, nicht weniger in einer Identitätskrise wie der Protagonist. Der trägt den ungewöhnlichen Namen Menn Malkowitsch und verbringt seine Tage als Pförtner eines ominösen Instituts. Er hat Geduld. Er beteiligt sich nicht länger an Gerenne, Hektik und Stress.
Das war nicht immer so. An dem Punkt, an dem Malkowitschs Lebensbericht ansetzt, hat er seine erste Sinnkrise schon hinter sich. Mit seiner Freundin ist er nach Nancy an die Uni gegangen, obwohl er nach Paris wollte; bald ist aber mit der Freundin Schluss und er hängt fest in einer Stadt, in der er nicht sein will, und in einem Studiengang, der ihn nicht interessiert. Die wenigen Sätze, die diese Sackgasse beschreiben, enthalten im Kern das Wesen dieses wenig heldenhaften Titelhelden: Menn Malkowitsch ist ein antriebsloser Kerl, ein ziemlicher Schluffi, der eher unversehens in Sachen hineingerät, als sich bewusst zu etwas zu entscheiden. Ein Onkel vermittelt ihm den Job in der Direktion der Post. Dass er dort die meiste Zeit nur sinnlos herumsitzt, bewegt Malkowitsch jedoch nicht dazu, eine andere Stelle zu suchen. Auch privat lässt sich Malkowitsch den Weg vorgeben. Sein Freund Dizzy schaltet aus einer Laune heraus eine Kontaktanzeige mit Malkowitschs Telefonnummer. Statt die Anrufe zu ignorieren (sie kosten ihn immerhin die nächste Freundin), trifft sich Malkowitsch mit einer Unbekannten und verbringt den Abend in ständiger Panik davor, mit ihr schlafen zu müssen. Seine nächste Freundin lernt er nur kennen, weil sie ihm „Avancë gemaach huet“. Über Monate ist er nicht nur finanziell von ihr abhängig. (Nebenbei bemerkt: In den Passagen, die Malkowitschs Liebschaft mit Hortense beschreiben, etabliert Helminger neue Standards der pornographischen Literatur auf Luxemburgisch, was sogar in dem Fall, dass es das Genre noch nicht gibt, keine geringe Leistung ist.)
Malkowitschs Mangel an Eigeninitiative führt ihn geradewegs in die denkbar piefige Existenz eines Familienvaters in einem Vorstadthaus (finanziert von den Schwiegereltern), der in einer ungesunden Mischung aus Stress und Lustlosigkeit seiner Arbeit in einer Werbeklitsche nachgeht (vermittelt von Hortense). Diese Existenz schickt ihn ohne Pause von der Nachbarschaftshölle in die Arbeitshölle und zurück. Während ihn die allesamt durchwegs hassenswerten Nachbarn mit Kleinlichkeiten und borniertem Geschwätz zermürben, wird er in der Agentur mit der Aufgabe betraut, eine verlogene Nation-Branding-Kampagne zu koordinieren, die sich die Regierung ausgedacht hat, um Luxemburgs Wirtschaftsinteressen erfolgreicher zu fördern. Genau wie sämtliche seiner Kollegen hält Malkowitsch den Auftrag für absurd. Alles nur eine Frage der Verpackung, befindet der Chef, man könne auch in Bonbonpapier eingewickelten Kot verkaufen. Spätestens in diesem Teil des Buches wird Menn Malkowitschs Bericht zum pointierten satirischen Gesellschaftsspiegel. Wo der Roman (ja doch, es ist ein Roman) einerseits durch einen ausufernden Paratext seinen Status als fiktionales Werk zu unterstreichen scheint – etwa durch ein pseudowissenschaftliches Abstract zu Beginn, durch literarische Referenzen usw. –, stellt er den Leser andererseits immer wieder vor Anspielungen auf tatsächliche Ereignisse und Personen. Man liest von den Machenschaften eines gewissen JC Buncker oder der moralisch zweifelhaften Berateragentur ARKDPGM (ein Anagramm von „Dark KPMG“). Als Figur des Romans taucht außerdem ein Autor namens Helminger auf, der gerne darüber klagt, dass er mit seinem Bruder verwechselt wird, und sich ansonsten als brauchbarer Trinkbruder erweist, wenn Malkowitsch nach einem ermüdenden Arbeitstag in der Stammkneipe aufkreuzt. Deutlicher kann ein Roman einen Leser fast nicht auffordern, sich zu überlegen, wo genau die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verlaufen.
Das Luxemburg, das Helminger (der reale Autor) in diesem Buch zeichnet, wirkt wie eine Ausgeburt dessen, was Heidegger in Sein und Zeit die „Uneigentlichkeit“ genannt hat. Es regieren Opportunismus, Verlogenheit, Vetternwirtschaft (das „Imperium vum Gemauschels“), das substanzlose, oberflächliche Geschwätz. Menn Malkowitsch ist das uneigentliche Dasein zuwider, zu dem ihn Luxemburg zu verdammen scheint. So erklärt sich seine Passivität, wenn es darum geht, die Weichen für eine bürgerliche Existenz zu stellen. So erklären sich auch die zunehmend heftigen Angstzustände, mit denen er auf Situationen reagiert, mit denen er sich nicht identifizieren kann.
Wie Oberflächlichkeit und Uneigentlichkeit zu entkommen wäre, deutet der Roman nur an. Schon die stumpfsinnige Arbeit und die Langeweile in der Postdirektion bekämpft Malkowitsch, indem er den Arbeitsalltag in Gedanken mit Musik unterlegt, seiner einzigen Leidenschaft. Mit seinen Bandkollegen oder den fröhlichen Anarchisten des Dorforchesters fühlt er sich wohl. Überhaupt erfolgen alle für Malkowitsch bedeutsamen menschlichen Kontakte über die Kunst. Das gilt insbesondere für den Bereich des Romans, den die Figur in ihren Berichten weitgehend ausklammert: Malkowitschs Nähe zu Emma, die sein emotionaler Fixpunkt zu sein scheint, zeigt sich vor allem in Gesprächen über Musik.
Menn Malkowitsch rettet sich, indem er sich entzieht. Er sitzt in seiner Loge und beobachtet, sitzt und gibt Auskunft, sitzt und schreibt seine Überlegungen in sogenannte „Suddelhefter“. Noch so eine begriffliche Schublade für das Buch: Die „Sudelhefte“ lassen sich als Anspielung auf Georg Christoph Lichtenberg lesen, Großmeister des Aphorismus und fleißiger Sudelbuch-Verfasser aus dem 18. Jahrhundert, und als weiterer Hinweis auf die Fragmentierung der Form. Aus den Notizheften rekonstruiert Malkowitsch seinen Werdegang und damit seine Identität.
Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch sengen Deeg an der Loge ist ein formal ambitionierter Roman und wirkt dennoch unangestrengt, der Text steckt voller Anspielungen, ohne gelehrt daherzukommen, er führt den Leser auf hundert verschiedene Pisten, die am Ende doch aus der Verwirrung hinausführen, die Sprache ist wuchtig, aber subtil. Man lasse sich von dem unhandlichen Format und dem lieblosen Cover nicht abschrecken. Das Buch gehört zum Besten, was man überhaupt auf Luxemburgisch lesen kann.