Sie ist das Herzstück der liberalen Bildungspolitik, von ihr verspricht sich die Regierung viel im Kampf gegen Bildungsnot und Schulversagen: die Schulautonomie. Den Sekundarschulen und ihren Akteuren mehr Eigenverantwortung zu geben, ist zentrales Anliegen im blau-rot-grünen Koalitionsprogramm.
Wenig war bisher darüber zu hören, wie das Mehr an Autonomie erreicht werden soll. Dem Land liegen Dokumente vor. Kürzlich präsentierte das Ministerium den Schulleitungen seinen Fahrplan der Reform. Die Grundidee: Schulen sollen mehr Handlungsspielraum bekommen, eigene pädagogische Profile zu entwickeln, um so besser auf die Bedürfnisse ihrer Schüler eingehen zu können. Dazu sollen sie, mehr noch als bisher, über ihr Budget und das Personal entscheiden können, das sie einstellen. Darüberhinaus sollen sie inhaltlich-pädagogische Entscheidungen treffen können, etwa welche Fächer oder Disziplinen sie anbieten wollen, welche Lehrbücher sie benutzen, welche Aktivitäten sie über den regulären Unterricht hinaus machen wollen.
Zum Teil geschieht das heute schon: Bisher hatten Schulen zehn Prozent der Unterrichtszeit zu ihrer freien Verfügung, die sie nach eigenen Vorstellungen nutzen konnten. Das Ministerium überlegt nun, diese auf 20 Prozent oder mehr heraufzusetzen. Außerdem sollen sich Schulleiter das Personal aussuchen können, allerdings sind die Modalitäten, nach denen diese Auswahl ablaufen könnte (ein bis zwei „postes à profil“ pro Jahr?, mit auf die jeweilige Schule zugeschnittenem Anforderungsprofil?), noch sehr vage.
Um den Puls in den Schulen zu fühlen, hat das Ministerium dieses Jahr vier Treffen mit den Direktoren organisiert. Dort wurden Fragen zu den Aspekten finanzielle, personelle und pädagogische Autonomie diskutiert, Vorschläge und Einwände gesammelt. Diese wurden nun in einem ehrgeizigen Fahrplan zusammengefasst: Im Januar will Claude Meisch einen Rahmen für mehr Schulautonomie vorstellen, ein Vorentwurf, der die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen enthält, soll im Juni fertig sein. Umgesetzt werden sollen wesentliche Elemente der Schulautonomie im Jahr 2018. Zwischen Januar und Juni sowie Oktober und Dezember will Minister Meisch die Lyzeen im Land besuchen, um zu prüfen, welche Projekte dort bereits laufen. Wie diese Eindrücke in den Gesetzentwurf einfließen können, erschließt sich aus dem Papier nicht. Ebenso wenig, wie die Schulen und das Lehrpersonal auf die verschiedenen Arbeitsphasen, von der Konzertation bis zur Umsetzung 2018, vorbereitet werden.
Viele Sekundarschulen haben in den vergangenen Jahren, in Vorbereitung auf die Sekundarschulreform, am Profil gefeilt, sich Leitbilder und Charten gegeben. Es gibt neben der Leitungsebene inzwischen Zwischenstrukturen, so genannte Schulentwicklungszellen oder pädagogische Koordinatoren, die inhaltliche Projekte ausarbeiten und begleiten. Jede Sekundarschule erhält zudem von der beim Service de la coordination et de la recherche pédagogiques et technologiques (Script) angesiedelten Agentur für Schulentwicklung einen Bericht, den Rapport Lycée, der wichtige Daten, etwa zum Leistungsstand der Schüler, von Klassen, der sozialen Zusammensetzung und mehr beinhaltet.
Auf der Grundlage dieser Informationen und eigener Leitziele sollen Lyzeen in Zukunft einen Schulentwicklungsplan erstellen, ähnlich wie das in den Grundschulen geschieht – dies am besten in Zusammenarbeit mit Lehrern, Schülern und Eltern. So weit die Theorie, die in ähnlicher Weise bereits von Meischs Vorgängerin Mady Delvaux-Stehres angedacht, aber nicht umgesetzt wurde.
Denn in der Realität klappt es mit der systematischen Schulentwicklung oft mehr schlecht als recht. Das liegt zum einen daran, dass die Instrumente nicht ausgereift waren, die Verfahren schwierig und zum Teil schwerfällig. Steuerung kann nicht einfach von oben nach unten geschehen, zumal mit einem Lehrpersonal, das vergleichsweise viel Entscheidungsfreiheit genießt und selbst eher wenig Rechenschaft ablegen muss. Die meisten Sekundarschulen umfassen tausend und mehr Schüler und über hundert Lehrer, dazu gibt es unterschiedliche Schulzweige; das macht eine Steuerung per se schwierig. Die meisten Schulleitungen haben inzwischen Weiterbildungen in Schul- und Organisationsentwicklung oder Bildungsmanagement absolviert. Ein klar definiertes Anforderungsprofil gibt es für Direktionen aber nicht, die Berufung geschieht durchs Ministerium. Um jedoch so komplexe und komplizierte Gebilde wie Schulen steuern und insbesondere weiterentwickeln zu können, ist Expertise nicht nur in Verwaltung, Personalplanung und Buchführung, sondern auch in Mitarbeiterführung, in Projektmanagement, in Pädagogik und Unterrichtsentwicklung gefragt.
In Luxemburg gibt es, anders als in den anderen EU-Ländern, keine Schulinspektion, die die Arbeit der über 4 000 Sekundarschullehrpersonen prüft. Das ist ein großes Manko, wenn es darum gehen soll, Qualität planbar zu machen: Wer prüft, ob Schulen ihren gewachsenen Handlungsspielraum wirksam nutzen, im Sinne von mehr Qualität und besserem Unterricht? Es wäre nicht das erste Mal, dass neue Projekte mit Elan begonnen, dann aber nicht ausgewertet und auf ihre Wirksamkeit überprüft wurden. Zahlreiche Schulen versuchen, der Schülervielfalt mit ausländischen Bildungsabschlüssen entgegenzukommen. Deren Qualität lässt sich im Vergleich mit ausländischen Schulen gleichen Typs bewerten. Doch damit Schüler und Eltern entscheiden können, ob eine Schule in Luxemburg gut und geeignet ist, bräuchten sie mehr Informationen. Die Schulberichte öffentlich zu machen, hat sich die Politik bislang aber nie getraut, auch weil der Widerstand der Gewerkschaften groß ist.
Die Gretchenfrage ist allerdings eine andere: Wie will der Minister der Gefahr begegnen, soziale Ungleichheiten durch mehr Autonomie nicht noch zu verschärfen? Mehr Entscheidungsfreiheit für die Schulen könnte sich negativ auswirken, wenn diese, mehr noch als bisher schon, Schüler nach ihrem Gusto und ihrem Wunschprofil wählen, und Schüler als Konsequenz der sich ausdifferenzierenden Abschlüsse unterschiedlich gute Ausbildungen erhalten. Das wäre vielleicht im Sinne einer liberalen Bildungspolitik, die eher auf die Leistungen des Einzelnen setzt als systematische Ursachen der Bildungsungerechtigkeit zu bekämpfen, aber schon heute ist die Sitzenbleiberquote hierzulande enorm hoch, verlassen viele die Schule ohne Abschluss.
Die Elterndachorganisation Fapel fordert daher ein „Rahmenprogramm, das für alle gleich sein muss“. Sie sieht in der Vielfalt der Programme eher „zu viele Richtungen“ und fürchtet, dass die „Bildungsungerechtigkeit“ zunehmen könne. Auch der Conseil supérieur de l’éducation nationale, in dem Vertreter der Regierung, der Eltern, der Gewerkschaften, der Berufskammern sitzen, mahnt, der Staat müsse für alle Kinder die gleiche Unterrichtsqualität gewährleisten. Aber wie soll das gehen, wenn Schulen künftig mehr Freiheit in der Lehrplanentwicklung erhalten? Bisher sind nicht einmal die Leistungserwartungen zwischen Grundschule, Enseignement secondaire technique und classique (EST, ES) alle präzise definiert und aufeinander abgestimmt.
Über bildungspolitische und pädagogisch-programmatische Ziele wird wenig diskutiert. Ein Versuch der Uni, einen Entwurf für einen Rahmenlehrplan für den ES zu formulieren, wurde von den Programmkommissionen heftig kritisiert: „Bevor weitere Änderungen kommen, müssen Politik und Gesellschaft wissen, welche Werte sie vermitteln wollen“, warnt eine Schulleiterin. Die sozialen und kulturellen Unterschiede sieht sie mit Sorge: „Niemand spricht darüber, aber es gibt Konfliktpotenzial. Die Frage des Zusammenlebens ist nicht abstrakt. Bei uns stellt sie sich konkret täglich im Klassenzimmer.“ Andere sorgen sich um die „frustrierte bis schlechte Stimmung“, warnen vor „noch mehr Überforderung“ und halten den avisierten Zeitplan für unrealistisch. Bis 2018 sollen alle Schulen Schulentwicklungspläne erstellt haben. Doch die Erfahrungen mit der Grundschulen zeigen: Das braucht Zeit. Und Mittel.
Und das ist der nächste Knackpunkt. Denn während der Minister und seine Berater ein Projekt nach dem anderen vorstellen; wenn es um das Zuteilen von Ressourcen geht, ist der Elan gebremster. Für zusätzliche Mittel, um die Autonomie umzusetzen, gibt es bisher keine Zusagen. Schulleitungen ringen heute schon mit dem Alltagsgeschäft. Oft fehlen schlicht die Zeit und das Personal, um Ideen zu entwickeln und Konzepte zu schreiben. Lehrer, die pädagogische Projekte koordinieren, werden zwischen einer halben bis zu einer Stunde pro Woche freigestellt, leisten aber oft ein Vielfaches dessen. Mit der Beamtenreform kommen zudem neue Aufgaben für die Schulleitung und gelten andere Prozeduren bei der Einstellung. Jede Personalsuche, selbst bei dringendem Ersatz etwa im Falle von Elternurlaub, wird akribisch vom Ministerium geprüft. Kein Wunder, dass eine der größten Sorgen der Schulleitungen ist, dass „gute Absichten in einem Berg von Formularen untergehen und wegen mangelnder Ressourcen die Praxis die alte bleibt“.
Gewichtige Einwände, die hoffentlich bei den Verantwortlichen ankommen. Bislang sind die Schulleitungen nur mittelbar in die konzeptuellen Beratungen einbezogen, Eltern und Schüler gar nicht. Ab September 2016 soll zwar eine „Structure de soutien et d’accompagnement“ die Schulen bei der Umsetzung begleiten und beraten, eine Lehre, die aus der vermurksten Berufsausbildung gezogen wurde. Nur warum die Schulautonomie nicht von Anfang an in gemeinsamen Arbeitsgruppen entwickeln? Dafür müssten freilich Schulleiter, Wissenschaftler und erfahrene Lehrer freigestellt werden – das kostet. Einige wurden ins Ministerium berufen, wo sie bei der Umsetzung helfen sollen; ihr Knowhow fehlt wiederum in den Schulen. Wie steht es um Weiterbildungen, und wie will die Regierung skeptische Lehrer und Gewerkschaften von ihren Plänen überzeugen?
Wie heißt es warnend in einem Artikel des Schweizer Wirtschaftspädagoge Rolf Dubs, den das Erziehungsministerium zur Lektüre empfiehlt: „Trotz weitgehender Übereinstimmung vieler Wissenschaftler bereitet es einerseits der Politik vielerorts Mühe, die rechtlichen Gegebenheiten und die administrativen Rahmenbedingungen an diese neuen Entwicklungen anzupassen, und andererseits sind viele Schuladministratoren und Lehrpersonen überfordert, weil die Reformen zu rasch vorangetrieben werden und die Vorbereitung auf das Neue vernachlässigt wird.“ Reformen müssten „auf ein längerfristiges Gesamtkonzept ausgerichtet und bedacht durchgeführt werden, und den Lehrpersonen muss genügend Zeit eingeräumt werden, damit sie sich auf das Neue richtig vorbereiten können“.