Warnzeichen gab es genug. Da waren die monatelangen Verhandlungen zwischen Erziehungsministerium und Lehrergewerkschaften um die Sparmaßnahmen von Blau-Rot-Grün, die erst nach Schlichtung und Mediation ein vorläufiges Ende finden sollten. Vorläufig, weil erboste Lehrer sich weiterhin nicht mit dem Ergebnis abfinden wollen und vor dem Verwaltungsgericht Klage eingereicht haben.
Da waren die polemischen Einlassungen der Gewerkschaften zum neuen Lehrer-Stage auch für die Grundschule und den erweiterten Zuständigkeiten des Weiterbildungsinstituts Ifen in Walferdingen. Und dann war da der Streit um die missratene Berufsausbildungsreform, bei dem empörte Berufsschullehrer dem Ministerium zuletzt per Brief vorwarfen, auf ihre Kritiken und Einwände nicht ausreichend eingegangen zu sein.
All diese größeren und kleineren Streitereien hätten eigentlich Warnung genug für jeden sein müssen, dass Neuerungen im Bildungswesen durchzusetzen, ein komplexes und heikles Unterfangen ist, das viel Fingerspitzengefühl und Sachverstand abverlangt, zumal die Nerven nach vielen Jahren Bildungsmisere blank liegen. Nun aber steht dem Minister ein neuer Konflikt ins Haus. Und diesen hat er weitgehend selbst verschuldet.
Dass die Regierung im Rahmen ihrer Reform der Sekundarstufe auch die Lehrpläne überarbeiten lassen und die Programmkomissionen professionalisieren will, hatte Claude Meisch angekündigt. So steht es im Koalitionsprogramm von DP, LSAP und Déi Gréng. Weil der Staatsrat in seinem Gutachten zur von der vorigen CSV-LSAP-Koalition vorgelegten und von dieser Regierung zunächst übernommenen Sekundarschulreform angemahnt hatte, dass wichtige Inhalte der Reform laut Verfassung per Gesetz geregelt werden müssten, wurde die Zeit plötzlich knapp. Denn ein Gesetz durchzubringen, braucht viele Monate und 2017 stehen Gemeindewahlen an. Auf einem Treffen aller Programmkommissionen Ende Juni kündigte das Ministerium eiligst die Marschroute an: Forscher der Universität Luxemburg oder ein anderer externer Akteur sollten, auf Basis bestehender Lehrpläne, Leitziele für den Sekundarschulunterricht vorformulieren und diese dem Ministerium, dem Service de la coordination et de la recherche pédagogiques et technologiques (Script) sowie den Programmkommissionen bis Oktober zur Begutachtung vorlegen. Mit den Arbeiten wurden Bildungswissenschaftler der Uni Luxemburg beauftragt, Mitglieder von Programmkommissionen hatten zuvor Zweifel geäußert, dieser Aufgabe gewachsen zu sein, zumal in der Kürze der Zeit und angesichts möglicher Kontroversen. Die Uni sagte zu, offenbar jedoch ohne entsprechende personelle Ressourcen vorzusehen oder in einer Konvention mit dem Ministerium Vorgehensweise und Zusammenarbeit festzulegen.
Notdürftig stellten die Forscher einen Rahmenlehrplan zusammen, für den sie sich teils an Vorlagen der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) inspirierten. Wobei Inspirieren es nicht trifft: Ganze Passagen des Papiers stammen von KMK-Vorlagen. Das an sich wäre nicht so schlimm – schließlich handelte es sich um einen Vorentwurf und die Forscher setzten den Script darüber in Kenntnis, die Zeit für umfassende Recherchen und eigene Konzepte fehlte. Zum Vergleich: Als in Deutschland kompetenzorientierte Rahmenlehrpläne eingeführt wurden, studierten Fachdidaktiker, Lehrer und Sprachforscher zwei Jahre lang unterschiedliche Vorschläge. „Es ging uns darum, eine grobe Richtung zu definieren“, erklärt Romain Martin von der Uni Luxemburg die Vorgehensweise. „Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätten wir von Anfang an versucht, gemeinsam mit den Programmkommissionen diese Bildungsziele zu entwickeln.“
Diese Nachricht kam bei den Adressaten jedoch so nicht an: Die Version zu den Bildungszielen des Classique, welche die ES-Programmkommissionen am 11. November vom Ministerium zugeschickt bekam, wurde als finales Dokument aufgefasst, auf dessen Grundlage ein Gesetz zu schreiben sei. Entsprechend heftig fiel die Reaktion der ES-Programmkommissionspräsidenten aus: In einem vierseitigen Brief an den Erziehungsminister vom 16. November klagten sie, übergangen worden zu sein (d’Land vom 27.11.2015). Besonders ärgerte die ES-Kommissionen, dass ihre Vorarbeiten von den Forschern nicht berücksichtigt wurden und stattdessen auf ausländische Vorlagen zurückgegriffen wurde. „Plagiat“, fehlende wissenschaftliche Standards lautete der böse Vorwurf. Genüsslich und mit spitzer Zunge mokierten sich die Autoren des Wutschreibens über Schreibfehler und forderten ein Treffen beim Minister ein.
Um keinen weiteren Ärger zu provozieren, ruderte der Minister zurück. In einem Schreiben an die Kommissionspräsidenten distanzierte sich Meisch seinerseits von den Vorarbeiten von „schlechter Qualität“. Diesen Freitag trafen sich beide Seiten zum klärenden Gespräch. Doch während nach außen gute Miene zum bösen Spiel gemacht wird und Uni und Ministerium bemüht sind, das Ganze als Missverständnis darzustellen, ist der Flurschaden beträchtlich: Forscher, die an dem Entwurf in der Freizeit gearbeitet haben, fühlen sich vom Minister bloßgestellt. Nicht nur, dass sie sich mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, sie hätten abgeschrieben; die Heftigkeit der Reaktionen und das Zurückrudern des Ministers erwischte sie kalt. Inzwischen soll sich der Minister beim Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät dafür entschuldigt haben.
Auch in den EST-Programmkommissionen rumort es. Mitglieder wundern sich über die fehlende Unterstützung des Ministers. Einige haben den Vorentwurf gegenüber ihren Kollegen verteidigt und fühlen sich im Regen stehen gelassen. „Wir wussten von Anfang an, dass es sich um einen Entwurf handelt“, kritisiert ein Mitglied die „überhebliche Reaktion“ der ES-Kommissionspräsidenten. „Die Kritik ist nicht konstruktiv, so kommen wir nicht weiter“, bangt ein anderes Kommissionsmitglied, das ähnlich „verhärtete Positionen“ wie beim Streit um die Sekundarschulreform von Meischs Vorgängerin Mady Delvaux-Stehres vor zwei Jahren fürchtet.
Die Sozialistin hatte nach massiven Protesten versucht, ihre umstrittene Reform zur Sekundarschule Lehrern und Gewerkschaften schmackhaft zu machen, indem sie in einem zweiten Anlauf monatelang mit den Lehrervertretern diskutierte. Gemessen am Aufwand, war das Resultat mickrig: Die Fronten blieben verhärtet, der Tonfall war polemisch und die Vorschläge der Lehrerdelegation zeugten ihrerseits nicht von viel Entgegenkommen. Es war die Geburtsstunde der Délégation nationale des lycées (DNL), von denen einige in den Lehrerkomitees sitzen, die Minister Meisch heute das Leben schwer machen. Mit den Programmkommissionen gibt es insofern Überschneidungen, als es scheint, als werde der Kampf gegen die Sekundarschulreform dort fortgeführt. So nachvollziehbar der Frust über die Vorarbeiten der Uni ist, so wenig haben sich die Autoren bemüht, sich in ihrem Brief inhaltlich mit den Vorschlägen auseinanderzusetzen.
Dabei wäre das dringend geboten. Die Luxemburger Schule hat sich in den vergangenen Jahren rasant gewandelt. Schon sitzen in den Sekundarschulen Generationen, die mehrheitlich daheim kein Luxemburgisch sprechen, für die der herkömmliche Sprachunterricht mit der Alphabetisierung in Deutsch und den fast muttersprachlichen Sprachanforderungen in Französisch nicht mehr funktioniert und auch nicht funktionieren kann. Die Folgen sind unübersehbar: Die Schulabbrecherquote ist hoch, immer weniger Kinder schaffen den Wechsel ins Classique. Verzweifelte Eltern versuchen über Schulen im Ausland oder Privatschulen ihren Kindern doch noch eine solide Ausbildung zu geben. Alternative Unterrichtsangebote, die international anerkannt sind, aber andere Sprachanforderungen stellen, sprießen hierzulande aus dem Boden. Das Leistungsgefälle zwischen Stadt und Land ist riesig, noch viel krasser ist das soziale.
Wenigstens das müsste der Minimalkonsens für Bildungsreformen sein: Dass der Sprachenunterricht dringend überholt gehört, dass die Sprachanforderungen in der Sekundarstufe zu hoch sind und sie für immer mehr Schüler zum Ausschlusskriterium werden, die ihnen dauerhaft Chancen verbauen. Immerhin: Die DNL war damals bereit, wenn auch nicht für die oberen Klassen des Classique, so doch für den unteren Zyklus einem Sprachunterricht zuzustimmen, der irgendwo zwischen als Erst- oder Zweitsprache angesiedelt wäre.
Doch nicht alle sehen das so. Es gibt Hardliner, die am liebsten alles beließen, wie es ist. Vor allem im ES sträuben sich viele, der Realität ins Auge zu sehen. Aus ihren Reihen stammen die meisten Einwände, dort ist der Widerstand am größten, wird der Untergang des „humanistischen Bildungsideals“ beschworen und zugleich ausgeblendet, dass dieses Ideal anzustreben vielen verwehrt bleibt, weil der Zugang zum Classique einer – schrumpfenden – Elite vorbehalten ist. Berechtigte Kritik, etwa am Europäischen Sprachen-Referenzrahmen mit seinen vagen Deskriptoren, wird kategorisch und ideologisch vorgetragen, statt Vor- und Nachteile abzuwägen oder Gegenvorschläge zu machen.
Das Ministerium hätte also ahnen können und müssen, dass sein Vorhaben, die Programmkommissionen zu professionalisieren und Lehrpläne zu entschlacken, kein Spaziergang werden würde. Die Proteste und der Sparstreit haben das Verhältnis zwischen Ministerium und Lehrern nachhaltig beschädigt. Gerade darum ist die dilettantische Vorgehensweise unverständlich. Selbst wenn der Minister vor seinem Amtsantritt mit Bildungspolitik nicht so viel am Hut hatte, die Beamten im Ministerium haben die Auseinandersetzungen damals hautnah mitbekommen. Auch die Universität war wiederholt Zielscheibe von Protestaktionen. Dass das Ministerium zunehmend in der Uni versucht, Expertise zu bekommen, findet nicht überall Zustimmung. Manche sehen die Uni eher als Konkurrenz denn als Partner. Dafür konstruieren und pflegen sie vermeintliche Gegensätze von den „Akademikern dort“ und den „Praktikern hier“. Passieren Fehler wie jetzt, nährt das Abwehrreflexe und verfestigt das in Luxemburg gern beschworene Bild vom „Ausnahme-Land“ und „Exoten-Dasein“, das ausländische Experten sowieso nie ganz verstehen würden. Statt mit Fingerspitzengefühl an dieses explosive Gemisch heranzugehen und einen gemeinsamen Weg zu finden, bewegen sich der Minister und seine Beamten wie Elefanten im berühmten Porzellanladen und stellen somit sich und ihren Reformvorhaben selbst ein Bein. Rezente Personalwechsel beim Script und in der politischen Koordination tragen nicht dazu bei, Kontinuität und Erfahrung zu gewährleisten.
Zumal es nicht das erste Mal ist, dass das Ministerium mit unüberlegten Aktionen und schlecht koordiniertem Aktivismus wichtige Protagonisten einer Reform vor den Kopf stößt: Für das neue Fach „Leben und Gesellschaft“ hatte der Minister zugesagt, laizistische Gruppen wie auch die religiösen Gemeinschaften alle drei Monate über den Fortgang der Vorarbeiten zu informieren. Sein Versprechen entpuppte sich als hohles Gerede. Gegenläufige Expertenmeinungen blieben unter Verschluss. Mit dem Ergebnis, dass sich alle Seiten verraten fühlen.
Dabei hatten Meisch und sein Berater Lex Folscheid eigens ein „Polit-Büro“ ins Leben gerufen, um eine bessere Planung, Koordination und Umsetzung zu bekommen. Im Augenblick scheint es jedoch eher so, als gebe es viele Aktionen und großem Aktivismus, professionell koordiniert wirkt das aber nicht. Direktionen und Lehrer erfahren aus der Zeitung, dass ein Schulentwicklungszentrum geplant ist, Kompetenzen, die vorher bei ihnen lagen, an andere übertragen werden. Ein Projekt jagt das andere, dabei ist die Ressourcenfrage oft nicht geklärt.
Die sind in Luxemburg naturgemäß begrenzt; entsprechend vor- und vor allem weitsichtig müsste die Politik planen. An zentralen Projekten, wie der Entwicklung eines schlüssigen Konzepts für die sprachliche Früherziehung, arbeiten zum Teil ein bis zwei Personen; im Ausland machen dies ganze Abteilungen. Forscher der Uni werden vom Script um Hilfe gebeten, obwohl die angetragene Aufgabe gar nicht ihrem Profil entspricht. So ein kopflos wirkendes Vorgehen trägt nicht dazu bei, Vertrauen in die fachliche und planerische Kompetenz zu stärken. Und wenn dann die Unterstützer, die mit viel Fleiß, gutem Willen und unter hohen Zeitdruck das Beste aus einem unmöglichem Auftrag zu machen versuchen, dafür später angegriffen werden – wer bleibt am Ende noch, um die Reform zu planen und umzusetzen?
Zumal ein Gesetzentwurf für die Sekundarschulreform ja vorlag. Doch die DP mitsamt ihrem Minister wollte eigene Akzente setzen. Akzente, die mehr Fragen aufwerfen als sie Probleme lösen, etwa zur sprachlichen Frühförderung auf Luxemburgisch und Deutsch oder zur Schulautonomie. Zudem hat es Meisch bis heute versäumt, der Öffentlichkeit seine Vorgehensweise bei der Sekundarschulreform schlüssig zu erklären. Da werden Pressekonferenzen einberufen, ohne dass es Neues zu berichten gibt, während den komplizierten Fahrplan der wohl wichtigsten Reform im Bildungswesen nur der Minister und engste Vertraute kennen. Nicht einmal unter Schwarz-Rot war so wenig Diskus-sion über grundlegende Bildungsziele. Für eine Reform von solcher Tragweite, die wichtige Weichen für die Zukunft ganzer Schülergenerationen stellt, sind solche Unterlassungen nicht hinnehmbar und gefährlich kontraproduktiv. Denn um seine Pläne umzusetzen, braucht der Minister alle Unterstützung, die er kriegen kann.