Klein, zerzaustes Haar, mit beiden Beinen fest am Boden. So sieht Tim aus, das Maskottchen für das neue Schulprojekt Tutorat und integriertes Methodenlernen (Tim) des Lycée technique du Bonnevoie (LTB). Wobei neu die halbe Wahrheit ist. „Unser Projekt ist aus dem Vorgängerprojekt Proci im unteren Zyklus des technischen Sekundarunterrichts hervorgegangen“, erklärt Schuldirektor Jean-Marie Wirtgen. „Es soll daraus gewonnene gute Praktiken vertiefen.“
Spätestens beim Stichwort Proci dürften Lehrer und Gewerkschaften die Ohren spitzen. Denn insbesondere die Gewerkschaften hatten das Förderprojekt in der Unterstufe des Sekundarunterrichts, das noch unter der liberalen Unterrichtsministerin Anne Brasseur lanciert wurde, extrem kritisiert. Sie fürchteten ein „tronc commun masqué“, weil Technique-Schüler die ersten Lyzeums-Jahre ungeachtet der schulischen Leistungen zusammenbleiben sollten.
Dabei steckte hinter dem Schulprojekt eine bildungswissenschaftliche Erkenntnis: Dass nämlich die Klasse zu wiederholen bei schwachen Schülern nicht bessere Ergebnisse erzeugt. Im Gegenteil: durch das untergrabene Selbstvertrauen wird der schulische Misserfolg eher noch wahrscheinlicher. Ein Kernteam an Lehrern sollte daher Schüler in den ersten Jahren am Lycée enger, individueller und kompetenzorientiert betreuen und ihnen so helfen, besser durch die Schule zu kommen.
Lernstandtests gaben den Proci-Pionieren Recht: Obschon die Projekte der 15 Proci-Schulen im Laufe der Jahren immer mehr eine eigene Nase bekamen, bestätigten die internationale OECD-Bildungsstudie Pisa und eine Evaluierung durch die Uni Luxemburg: Die besondere Betreuung der Schüler zahlte sich aus, Proci-Schüler hatten gegenüber Regelschülern einen Lernvorsprung von einem halben bis zu einem Jahr. Darum wollte Brasseurs Nachfolgerin, die damalige LSAP-Schulministerin Mady Delvaux-Stehres, Kernelemente des Modellversuchs auf andere Schulen übertragen und verallgemeinern – und schrieb sie kurzerhand in ihren Entwurf zur geplanten Sekundarschulreform hinein.
Das war vor gut zwei Jahren, seitdem liegt die Reform auf Eis. Aus dem Bildungsministerium ist zu Proci und Nachfolgeprojekten kaum mehr etwas zu hören. „Mit der Evaluierung war das Projekt eigentlich abgeschlossen“, bestätigt Liz Kremer vom dortigen Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script). Auch das Netzwerk, innerhalb dessen sich die Proci-Projektschulen ausgetauscht hatten, besteht als solches nicht mehr. Doch die Idee lebt an vielen Schulen fort.
„Die guten Erfahrungen des Proci wollten wir weiterentwickeln“, erklärt Tessy Petro. Die beigeordnete Schulleiterin war zwar keine Proci-Lehrerin der ersten Stunde, aber als sie an die Bonneweger Schule kam, „war mir klar, dass ich ein Projekt, das den Schulalltag so sehr prägt, mitbestimmen will“.
Seit 2008/2009 wurde das Projekt verbessert, ein Team aus interessierten Lehrern besuchten in den Schulen im Ausland, wie die Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule in Göttingen, eine integrierte Gesamtschule, die 2011 den Preis der besten Schule des Jahres in Deutschland gewann. „So konnten wir mit eigenen Augen sehen, dass pädagogische Erneuerung machbar ist“, sagt Luc Weis, wie Petro beigeordneter Schuldirektor. Die Erfahrungen flossen in die Entwicklung von Tim ein.
Schlüsselelemente aus dem Proci, die Begleitung der Schüler durch ein festes Lehrerteam über drei Jahre, das Tutorat und der Fokus auf individualisiertes, komptenzorientiertes Lernen, aber auch die Unterscheidung in Basiskurse und Kurse für Fortgeschrittene wurden beibehalten. „Ein systematisches Methodentraining soll die Schüler darauf vorbereiten, wie sie sich beim Lernen am Besten anlegen“, sagt Tessy Petro. Dazu gehört beispielsweise, dass ein Schüler seine Aufgabe zunächst durchliest und, wenn er sie nicht versteht, nicht direkt aufgibt, sondern ein Wörterbuch zur Hand nimmt und sich so weiterhilft. Im Grunde selbstverständlich, aber viele Jungen und Mädchen bringen diese Eigenständigkeit nicht mit. Mit der Grundschulreform kommen zwar allmählich mehr Schüler mit anderen Unterrichtsformen in Berührung, aber Schulen ändern sich langsam und oft hängt es sehr vom Engagement der Lehrerin ab. „Mit den Tim-Klassen stellen wir sicher, dass alle Schüler dieselben Startbedingungen haben“, betont Jean-Marie Wirtgen.
Wer eine Tim-Klasse in Bonneweg besucht, kann erleben, dass ein Schüler einem anderen bei Aufgaben hilft – und der Lehrer das nicht nur duldet, sondern ausdrücklich dazu ermutigt. „Teamarbeit ist wichtig“, sagt Petro. Das gilt nicht nur für die Schüler, sondern auch für Lehrer: Sie bereiten die vier Tim-Wochenstunden, die in allen siebten und achten Technique-Klassen stattfinden, gemeinsam vor. Der Lernstoff wird gemeinsam besprochen, die Kollegen stimmen Aufgaben ab. Statt dass jeder Lehrer sein eigenes Unterrichtsmaterial vorbereitet, werden Aufgaben zusammen erarbeitet und fließen in ein „Lesearbeitsheft“ ein, das an die Bedürfnisse der Tim-Schüler angepasst ist und allen Kollegen zugänglich ist. „Das schafft Synergien und spart Zeit“, weiß Tessy Petro. Schade nur, dass das Unterrichtsministerium Schulbücher zentralistisch vorgibt und so den Freiraum der Schulen, ihr didaktisches Material auszuwählen, unnötig einschränkt. „Schulbücher kaufen zu müssen, trifft Eltern, die nicht so viel Geld verdienen, natürlich stärker“, weiß Direktor Wirtgen.
Die Vorteile der maßgeschneiderten Arbeitshefte sind so einleuchtend, dass man fast erstaunt ist, dass sie nicht längst an jeder Schule selbstverständlich sind und es Projekte wie Proci gebraucht hat, um Lehrer zu einer solchen fächerübergreifenden engen Zusammenarbeit zu motivieren. Wobei das keine Garantie ist: Andere Proci-Schulen, wie das Lycée Aline Mayrisch, haben ähnliche Aufgabenpools angefangen, aber trotz akribisch zusammengestellter Aufgaben mit unterschiedlichen Lernniveaus für unterschiedliche starke Schüler, machen nur wenige Lehrer davon Gebrauch. Das Einzelkämpfertum ist vielen Lehrern nur mit Mühe abzugewöhnen.
Die Direktion des LTB versucht es auf die sanfte Tour: überzeugen durch vormachen. Vor zwei Wochen haben die Tim-Lehrer ihr Projekt auf der nationalen Journée des lycées vorgestellt. Vertreter der 37 Lyzeem aus dem ganzen Land trafen sich im Lycée Bel-Val bei Esch, um in Seminaren zu verschiedenen Themenschwerpunkten zu diskutieren und pädagogische Projekte kennenzulernen. Tim war dort ein Schulprojekt neben anderen. Das Unterrichtsministerium hofft, mit der diesjährigen Journée des lycées, die vom Script organisiert wurde und unter dem Thema Orientation scolaire et profesionnelle stand, die Entwicklung an den Sekundarschulen anzuschieben. Nach einer Zeit der Dynamik um 2010/2011, als sich Luxemburger Schulen unter dem Label Lycées pionniers zusammentaten, um über die Schule von morgen zu beraten, und diese Ideen zum Teil in die Vorbereitungen der Reform einflossen, ist es geradezu unheimlich still geworden. Wegen dem Streit um die Sekundarschulreform und den angedrohten Streik war die Stimmung in vielen Gebäuden auf dem Tiefpunkt. Der Konflikt um den richtigen Reformweg hatte Gräben aufgerissen. Kollegien teilten sich auf in Reformbefürworter und Gegner. Lehrer, die sich jahrelang Projekten engagiert hatten, wurden persönlich attackiert und in ideologische Stellungskriege verwickelt, für die viele nichts konnten und die sie nicht wollten. Direktionen standen dem oft machtlos gegenüber. Mit dem Teilrückzug des umstrittenen Gesetzentwurfs durch die neue Regierung, soll ein neuer Start versucht und die Reform überarbeitet werden. Aber wie genau, davon wissen Öffentlichkeit und Schulen bis heute nur Bruchstückhaftes. Der Minister hält sich bedeckt und beantwortete bei Presseanfragen ausweichend: Man warte auf das Gutachten des Staatsrats. Angekündigt war es für Mai, Land-Informationen zufolge wird es nun wohl Herbst werden.
Doch die Mitarbeiter im Script arbeiten fleißig weiter an ihrer Schul-Entwicklungshilfe. Im Stillen. „Wir haben die Zeit genutzt, verschiedene Projekte genauer zu studieren“, sagt Liz Kremer, Leiterin der Abteilung Innovation im Script. Denn die Probleme an Luxemburgs Sekundarschulen werden nicht weniger. Der Anteil der Nicht-Luxemburger Schüler an den Lyzeen wächst stetig. Die Zahl der Schulabbrecher ist zuletzt zwar leicht gesunken, dabei handelt es sich jedoch in erster Linie um einen statistischen Effekt: Weil die Schulpflicht verlängert wurde und potenzielle Abbrecher nun weiter die Schulbank drücken oder in Weiterbildungsmaßnahmen unterkommen.
Die Konflikte um die Reform, die Mammutdebatten zwischen Lehrervertretern und Ministerium hatten insofern ein Gutes: Jeder, selbst die Lehrergewerkschaften, geben heute zu, dass sich die Sekundarstufe ändern müssen. Im Land-Interview vor einem Monat zeigte sich Claude Meisch zuversichtlich, dass sich Lehrervertreter und seine Beamten bei einem neuen Reformvorstoß einigen würden. Allerdings hat der liberale Minister schon den Protest der Studenten gegen Änderungen der Studienbeihilfen gründlich unterschätzt.
Die Journee des lycées war jedenfalls ein erster Schritt wieder vor die eigene Tür. „Wir haben bewusst die Presse eingeladen, damit Journalisten berichten können, was in unseren Schulen läuft“, sagt Chefkoordinatorin Liz Kremer. „Die vergangenen Wochen und Monate haben wir gebraucht, um uns neu aufzustellen. Die Ministerien Kindheit und Jugend zu integrieren, das braucht eine Zeit“, erzählt sie freimütig. Das Treffen sei daher auch ein Signal nach innen gewesen: „Ja, wir sind noch da.“ Die rege Teilnahme fast sämtlicher Schulen (37 von 38) zeigt zudem, dass wenn schon nicht alle Lehrer, so doch die Schulleitungen den Ernst der Lage begreiffen haben. Unabhängig davon, wie es mit der Sekundarschulreform weitergeht, berichten Teilnehmer, die Stimmung in Bel-Val sei „gut und konstruktiv“ gewesen. Schulen sollten ins Gespräch kommen, gute Praktiken austauschen, von einander lernen, aber vor allem auch Rückmeldung geben. Die neue Regierung will mehr auf Autonomie setzen, dann müssen die Schulen aber auch Verantwortung übernehmen und mehr Eigeninitiative zeigen. Vor allem bei der pädagogischen Erneuerung.
Denn auch das ist ein Fakt: Projekte wie Tim im LTB beweisen zwar, dass Schulen den Unterricht verbessern wollen, doch das ist gar nicht so einfach: Trotz gebündelter Anstrengungen werden die Schülerleistungen durchschnittlich nicht besser. „Das deutet darauf hin, dass etwas mit dem System nicht stimmt“, sagt Kremer vom Script, die sich mehr „Visionäres“ von der Luxemburger Schulentwicklung wünscht. Es stimmt, radikale Veränderungen, wie die Integrierte Gesamtschule in Göttingen, an der Schüler bis zur Achten ohne Noten und von der fünften bis zur zehnten Klasse Haupt- und Realschüler gemeinsam mit Gymnasiasten lernen, wo Gruppenarbeit, Tutoren und Wochenaufgaben statt Hausaufgaben Alltag sind, traut sich in Luxemburg bis auf das Lycée Ermesinde keine andere Schule.
Die Koordinatoren der Cellule de développement scolaire, die Hand in Hand mit den Schulleitungen und dem Ministerium, pädagogische Projekte organisieren, werden von den Gewerkschaften, aber auch von Kollegen nicht selten skeptisch beäugt. Eine Schulkultur, die auf gleiche Programmen für alle Schüler pocht, ungeachtet ihrer Leistungen und persönlichen Kapazitäten, tut sich schwer damit, auch bei den Lehrerkollegen Abweichungen von der Regel zuzulassen.
Oft werden Projekte von wenigen engagierten Lehrern getragen. Die Innovationsfeindlichkeit, die Unternehmer gerne Berufsanfängern vorwerfen, macht vor den Schulen nicht Halt. Sicher, die Schulgröße mit 1 200 Schülern und mehr erschweren pädagogische Erneuerung. Aber auch im Ausland gibt es Mega-Schulen. Manche haben sich aufgeteilt und aus einer Schule kurzerhand drei gemacht, wenn es der Entwicklung der Schule diente. In Luxemburg gibt es Schulen, die in dieselbe Richtung überlegen, aber auf den Weg gemacht, hat sich noch keine: Die Angst, daraus folgende Probleme nicht meistern zu können, ist groß. „Das hat mit unserer Fehlerkultur zu gehen. Wer Innovation will, muss auch akzeptieren, dass Schulen scheitern können“, sagt Liz Kremer bedauernd.
Die Lehrerteams, die beim Bonneweger Tim mitarbeiten, haben vor Misserfolgen keine Angst: Ihr Projekt, das im zweiten Jahr läuft, steht auf festen Beinen und wird sowohl von Schülern wie ihren Eltern akzeptiert. Sie planen mittlerweile den nächsten Coup: Mittelfristig sollen die unterschiedlichen Tim-Aufgaben in einer digitalen Datenbank gesammelt werden. „Dann hätten alle Lehrer Zugriff darauf und das Projekt bekäme noch mehr Durchschlagskraft“, hofft Schuldirektor Jean-Marie Wirtgen.