Die Nächte werden wieder kürzer, die Sonne zeigt sich öfters. Kürzer werden auch die Ärmel und die T-Shirts – zum Missfallen einiger. „Tenu correcte exigé dans l’enceinte du lycée“ schrieb die Gratiszeitung L’Essentiel und enthüllte, was so neu nicht ist: Das Unterrichtsministerium hatte bereits 2004 vorgegeben, dass Luxemburgs Schüler angehalten sind, sich in der Schule korrekt zu kleiden. „Es ist den Schulen überlassen, zu definieren, was sie darunter verstehen“, erklärte Ministeriums-Pressesprecherin Myriam Bamberg, „wenn sie das wollen.“
15 von 30 Sekundarschulen hatten offenbar nichts Besseres zu tun und verankerten Kleiderregeln in ihrer Schulcharta. „Aus Gründen des Anstandes“ seien Klamotten, die „als unangemessen bewertet“ würden, verboten, schrieb zum Beispiel das vom L’Essentiel zitierte Lycée technique Mathias Adam (LTMA) in seine Hausordnung. Darunter fallen sexistische oder rassistische T-Shirt-Aufdrucke gerade so wie zu knappe Miniröcke. Ähnlich steht es im Alphabet vom Lycée technique du centre (LTC), wenngleich dort der Akzent auf dem „ruhigen und respektvollen Arbeitsklima“ liegt und Schülern prinzipiell zugestanden wird, der „eigenen Persönlichkeit über den Kleidungsstil“ Ausdruck zu verleihen – solange dieser nicht die „Sensibilität“ anderer störe.
Die Meldung über die Klamottenfrage wäre trotzdem so schnell verschwunden wie sie wahrscheinlich geschrieben wurde, hätte der Journalist nicht den Direktor des LTC, Jean-Paul Lenertz, zitiert mit den Worten: „Mädchen in ihrem pubertären Alter meinen, sie müssten ihre Reize ganz unverhüllt zeigen. Wir denken aber, man muss den Speck nicht unbedingt sehen.“ Tags drauf legte Wort.lu nach. Unter der Überschrift „Mit Kleiderordnung gegen Ghetto-Look” giftete der Autor gegen einen Kleidungsstil der Jugend, der eher „an Rap-Videos erinnere als an europäische Straßenkleidung“.
Die Empörung war groß: In den sozialen Medien wurde der Wort-Artikel als rassistisch verdammt. Vor allem junge Luxemburger fragten: „Denke da nur ich an Rassismus?“ Oder sie frotzelten, die tiefen weiten Hosen, auch baggy pants genannt, und Hiphop-Kappen dürften eigentlich kein Problem machen, stellten sie doch seit Jahrzehnten in Europa eine „ganz übliche Freizeitkleidung“ dar. Andere, wie der Blogger und Philosophiestudent Maxime Weber, sehen im Frühlings-Feldzug gegen bauchfreie Tops und Hotpants sowie einem Direktor, der von „Speck“ redet, wohl aber Frauenbäuche meint, „ein Musterbeispiel für patriarchalistisches Gehabe, das leider noch immer nicht aus unserer Gesellschaft verschwunden ist”. Weber ruft die Schüler zu zivilem Ungehorsam auf: „Zieht euch laut, bunt und aufrührerisch an.“ Aufrührerisch, nicht verführerisch.
Nur: Ob der luxemburgische Durchschnittsschüler dem Aufruf folgen wird? Schließlich haben die Schulen die Kleiderregeln selbst aufgestellt. Mahnungen wie „Der ganze Kopf ist sichtbar“ und „Alles bleibt verborgen“ (auch der Ausschnitt und die Unterwäsche) kamen mit der Zustimmung der Schülerkomitees zustande. Also demokratisch, wie am Schengen-Lyzeum in Perl, das eine ausführliche Kleiderordnung hat, die von Hotpants, Leggings, Baseballkappen, Rollschuhen, bis zu bauchfreien Tops alle denkbaren und undenkbaren Kleidersünden umfasst.
„Mit der Demokratie ist das so eine Sache“, sagt eine Lehrerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Wer den Alltag an Luxemburgs Sekundarschulen kennt, weiß: Das Prinzip der Schülerbeteiligung ist oft jünger als die Schüler selbst und reduziert sich zudem nicht selten auf eine Stimme im Conseil d’education, in der außerdem Schulleitung, Lehrer und Eltern sitzen. Bei den Mehrheitsverhältnissen stellt sich die Frage nach der Schülersichtweise umso mehr.
Wer jedoch mit Vertretern von Schülerkomitees spricht, erntet Achselzucken: Einige scheinen nicht einmal zu wissen, dass Vorschriften über T-Shirt-Länge und Kopfbedeckung Bestandteil ihrer Schulcharta sind. „Kann sein“, lautete die Antwort der Schülervertreterin des Lycée classique in Echternach. Am heutigen Freitag tage das Komitee: „Da werde ich das mal ansprechen“, heißt es eher gelangweilt. Empörung klingt anders.
Auch die nationale Schülerkonferenz (Cnel), in der die Vertreter und Vertreterinnen aller Schulen sitzen, hat zu „Bauch-frei“ bislang keine Meinung. Sie wird sich auf der nächsten Sitzung mit der Kleiderfrage befassen, versicherte der frisch gebackene Cnel-Präsident Kevin Lopes. An seiner Schule, dem Lycée des garçons in Esch, gibt es keine Kleidervorschriften, persönlich hat Lopes aber Verständnis für gewisse Regeln: „Persönlich finde ich, soll man sich so anziehen, dass man andere nicht stört. Es ist doch klar, dass kein Schüler nackt in die Schule geht.“
Also viel (Erwachsenen-) Aufregung um nichts? „Wir haben andere Probleme“, ist etwa aus der Direktion des Ettelbrücker Lycée technique zu hören. In anderen Ländern dagegen ist die Schulbekleidung Anlass für ernsthafte Debatten, für Disziplinarverfahren gar, allerdings anders, als vielleicht gedacht: Als eine hessische Lehrerin einer Schülerin mit dem Bleistift in den tiefen Ausschnitt fuhr, wurde das Verfahren wegen Beleidigung nur gegen die Zahlung einer Geldbuße von 400 Euro fallen gelassen. Die Lehrerin hatte die Schülerin zuvor mehrfach wegen ihres knappen Kleidungsstils ermahnt. Ihre zugespitzte pädagogische Maßnahme sorgte für Entrüstung, es fanden sich aber auch Befürworter für striktes Eingreifen. Sogar die damalige Justizministerin griff das Thema im Sommerloch auf – um es bald darauf wieder fallen zu lassen. Bildung ist in Deutschland Ländersache. Und die Übung, wie die Kleiderfrage regeln ohne das Grundrecht auf persönliche Selbstentfaltung zu beschränken, schien dann doch zu gefährlich.
Mehr Verständnis finden Initiativen, wie die einer Schule im Westerwald. Dort dulden Lehrer und Schüler keine Kleidung, „durch die sich andere bedroht oder verunglimpft fühlen könnten“. Um Hotpants wie im katholisch-prüden Luxemburg geht es nicht: Die Schule hatte in der Vergangenheit immer wieder Probleme mit Neonazis. Schüler fühlten sich durch deren martialisches Auftreten und deren Uniformierung derart eingeschüchtert, dass die Schule vorschrieb: „Erscheinungsformen rechts- und linksradikaler Gesinnung sowie gewaltbereiter Gruppen (Kleidung, Schuhe, Symbole) werden nicht toleriert.“
Glücklicherweise stellt sich dieses Problem in Luxemburg kaum. Was nicht heißen will, das sich nicht doch einige ernsthafte Gedanken machen. „Korrekte Kleidung lässt viel Raum für Interpretationen“, weist Michèle Remakel, Direktorin des Robert-Schuman-Gymnasiums in Luxemburg-Stadt, auf die Gefahren von Kleidervorschriften hin. Kleider seien nicht zuletzt eine Frage des persönlichen Geschmacks und dienten dem Jugendlichen auch zur „Identitätsfindung“. Ihre Schule verzichtete daher darauf, den Schüler Modevorgaben zu machen. „Grundsätzlich sollte jeder frei sein, das anzuziehen, was er oder sie möchte“, so Remakel, die an den „gesunden Menschenverstand appelliert. Wenn das nicht hilft, „kann ich immer noch auf die Vorschrift des Ministeriums verweisen“. Oft geschieht das offenbar nicht und wenn, dann seien es meistens die Klassenlehrer, die einschritten. Im Lycée Aline Mayrisch nahm eine Lehrerin eine junge Frau beiseite, deren Leggings mehr preisgaben als sie verdeckten. Die Schülerin bekam auf den dezenten Hinweis einen roten Kopf, verschwand auf der Toilette und kam kurz darauf mit einem Überrock zurück. Andere Direktionen halten längere T-Shirts bereit, damit Schüler, die es mit der Stoffarmut übertreiben, nicht nach Hause müssen, sondern sich direkt etwas überziehen können. „Damit kann man die Mädchen ungewollt an den Pranger stellen“,gibt Michèle Remakel zu bedenken.
Zumal Gürtel, wie es scheint, eher nicht vorrätig sind. Es ist auffällig, dass bei der Sorge um Sitte und Anstand vor allem Mädchen und ihr „sexy Look“ im Fokus stehen. Die meisten Kleiderordnungen verbannen zwar auch Baseballkappen und Hänge-Jeans, aber die Beispiele, die typischerweise genannt werden, um die Verbote zu rechtfertigen, sind kurze Hosen, Röcke und tiefe Ausschnitte. Ausgeblendet wird, dass hinter der vermeintlichen Freizügigkeit Sexismen und Sexualnormen stehen, die bis heute Wirkung zeigen: Frauen, die zu viel Haut zeigen, gelten als „leichte Mädchen“. Dabei muss, wer sich gestört fühlt, ja nicht hingucken. Gleichzeitig suggerieren Werbefritzen genau das: Wer heute hip sein will, muss jung und sexy sein und seine (ihre) Reize ausgiebig zur Schau stellen.
Da ist es fast egal, ob eine Schule Kleidervorschriften macht, einen Kleiderkodex gibt es sowieso: ob mit teurer Schultertasche, Sneakers, Luxus-Unterhose, Bieber-Tolle oder ganz in Emo-Schwarz – mit Marken und Kleidungsstil demonstrieren Jugendliche Zugehörigkeit zu einer Clique, einer sozialen Gruppe, einem Musikstil – oder auch nicht. (Fast) jeder Junge und jedes Mädchen kennt die ungeschriebenen Codes, entlang derer coole Typen von Losern unterschieden werden. Wer sie nicht befolgt, wer bei dem Rollenspiel nicht mitmacht, wird nicht selten gehänselt und gemobbt.
Das ist auch der Grund, warum im Hamburg ein Gymnasium seit einigen Jahren auf gleiche Sweatshirts und Jeans für alle setzt. Nicht das Verbot von angeblich unangemessener Kleidung sollte die Richtschnur sein, sondern das Gebot der Gleichheit. Die Schüler seien weniger abgelenkt und spürten weniger Druck, sagen die Befürworter der „soften Uniformierung“. „Dann grenzen sie sich eben anders ab: durch Rucksäcke, Smartphones“, wendet Michèle Remakel skeptisch ein.
Auch Lehrer sind keine Unschuldsengel und keineswegs frei vom Markenkult. Ist es „anständig“ oder aber pädagogisch fragwürdig, wenn ein Lehrer, der eine Modulaire-Klasse betreut, mit teuren Markenklamotten und im Porsche Cayenne in die Schule kommt? Die kritisierte Charta des LTMA versteht die Lehrer als Rollenvorbilder, die sich entsprechend vorbildlich kleiden müssen. Einmal raten, was die Verantwortlichen wohl sagen würden, wenn hierzulande, wie in Lüneburg geschehen, ein Punk mit bunt gefärbter Haarpracht zum Schulleiter ernannt würde?