In Luxemburg wächst das Armutsrisiko, meldet der vergangene Woche erschienene Jahresbericht Travail et exclusion sociale 2012 des Statistikinstituts Statec. 2012 waren 15,1 Prozent der Bevölkerung oder 78 400 Bürger von Armut bedroht. 2011 hatte das auf 13,6 Prozent der Bevölkerung zugetroffen.
Doch die nach einer komplizierten Formel errechnete Risikoquote für Einkommensarmut sagt allein noch nicht viel, wenn man wissen möchte, wie gerecht es in der Luxemburger Gesellschaft zugeht und ob womöglich immer mehr Menschen von den Segnungen des Wohlstands ausgeschlossen sind. Das ist auch eine politisch bedeutsame Frage, denn im Wahlkampf hatte jede der großen Parteien sich für eine Modernisierung der Sozialpolitik ausgesprochen. Zwar war nur in den Programmen von CSV und DP von „mehr sozialer Selektivität“ die Rede, während die LSAP davor warnte, den Sozialstaat „nur durch die Brille des Buchhalters“ zu betrachten und „soziale Sicherheit und Gerechtigkeit auf hohem Niveau“ versprach, ganz ähnlich wie die Grünen. In beiden Fällen wäre es gut zu wissen, wovon man eigentlich spricht.
Auf längere Sicht scheint das Armutsrisiko zuzunehmen. 2003 betraf es noch 11,9 Prozent der Bevölkerung, aber obwohl es in den Jahren danach zum Teil beträchtliche Schwankungen gab, war die Quote noch nie so hoch wie 2012. Andererseits aber liegt das Verhältnis aus dem Anteil der Einkünfte, die die zehn Prozent der Bevölkerung mit den höchsten Einkommen beziehen, gegenüber dem der zehn Prozent mit den geringsten Einkünften seit 2003 ziemlich stabil. Inwiefern die Rücklagen der Luxemburger Haushalte in Form von Wertanlagen und Sparguthaben sich verändert haben, ist unbekannt. In den Erhebungen zum Verbraucher-Vertrauensindex aber, die seit der Einführung des Euro Monat für Monat vorgenommen werden und für die hierzulande die Zentralbank zuständig ist, haben sich die Luxemburger Befragten im Vergleich mit den anderen Staaten der Eurozone stets als die mit Abstand optimistischsten über die Aussicht geäußert, im Laufe der kommenden zwölf Monate Geld sparen zu können – und das taten auch die Haushalte der untersten Einkommensgruppe. Dem konnte auch der Krisenausbruch keinen großen Abbruch tun. Und wenngleich die Arbeitslosenquote stetig steigt, scheint sich das nicht direkt in der Armutsquote bemerkbar zu machen. Weil das verfügbare Einkommen der Haushalte zwischen 1996 und 2012 um 16 Prozent zugenommen hat, könnte man sagen, dass die Armut wächst, obwohl es den Leuten nicht schlechter geht.
Sozialer Ausschluss aber hat nicht nur damit zu tun, ob man unterhalb der „objektiven“ Armutsschwelle lebt, die 2012 für einen Einpersonenhaushalt an der Schwelle eines Monatseinkommens von 1 639 Euro nach Sozialabgaben und Steuern begann. In der EU wird seit 2001 versucht, „sozialen Ausschluss“ mit dem besonderen Indikator Europe-2020 zu erfassen. In ihn geht nicht nur das Armutsrisiko ein, sondern auch der Anteil der Haushalte, in denen die Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter zusammengenommen nur 20 Prozent ihrer Kapazität zu arbeiten ausnutzten. Sowie jene Haushalte, die mit „schweren materiellen Entbehrungen“ geplagt sind. Dieser Misch-Indikator traf 2012 auf 18,4 Prozent der Luxemburger Bevölkerung zu, oder 95 400 Bürger. Mit „schweren materiellen Entbehrungen“ konfrontiert waren allerdings nur 2 500 Menschen.
Europe-2020 misst allerdings etwas anderes als prekäre Lebensverhältnisse, in denen eine geringe Einkommenseinbuße oder eine unverhoffte große Ausgabe den gesamten Haushalt in Mitleidenschaft ziehen kann. Während in Luxemburg zwischen 2003 und 2012 die Armutsquote um 1,5 Prozentpunkte zugenommen hat, wuchs der Anteil der Haushalte, die nach eigener Aussage Schwierigkeiten haben, mit ihren monatlichen Einkünften auszukommen, von knapp einem Fünftel auf knapp ein Viertel. In so einem Wohlstand auf Abruf lebten 2012 nicht nur 39 Prozent der Haushalte, in denen ein „Travailleur manuel“ der Hauptverdiener war, den man vor Einführung des Einheitsstatuts „Arbeiter“ genannt hätte, sondern auch 29 Prozent der Angestelltenhaushalte und 8,7 Prozent der Haushalte mit einem Cadre supérieur oder einem in einem intellektuellen Beruf Tätigen als Vorstand. Nicht gesicherte Lebensverhältnisse sind demnach bis in die Mitte der Gesellschaft hinein anzutreffen, und es fällt auf, dass vor allem unter den Arbeiter- und den Führungskräftehaushalten die Wahrnehmung von „difficultés à joindre les deux bouts“ verbreiteter geworden ist: Bei Ersteren lag der Zuwachs zwischen 2010 und 2012 bei 3,7 Prozentpunkten, bei Letzteren bei 3,4 Punkten. Offenbar verstärkt sich also die Polarisierung zwischen denen, die etwas zu verlieren haben, und jenen, die vielleicht schon auf Unterstützung angewiesen sind.
Klar ist aber auch, dass die Armutsquote noch nichts über Armutsverläufe aussagt. „Armuts-episoden“ in der Ausbildung, nach dem Studium, während einer Arbeitslosigkeit oder nach einer Trennung sind selbst in bessergestellten Teilen der Gesellschaft keineswegs ausgeschlossen. Vor zwei Jahren hatte das Statec in Tavail et cohésion sociale 2010 geschrieben, dass im Zeitraum zwischen 2003 und 2008 23,5 Prozent der Bevölkerung wenigstens eine Armutsepisode durchgemacht hatten, in der ihnen weniger als die 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung standen. Darunter waren ein Drittel der Arbeiter, aber immerhin auch 7,7 Prozent der Führungskräfte und 41 Prozent der Freiberufler gewesen. Schichtete man die Betroffenen nicht nur nach Berufskategorie, fand man 60 Prozent der arbeitslos Gewordenen, 31 Prozent aller in dieser Zeit Geschiedenen, ein Drittel aller vom Partner Getrennten und 48,6 Prozent der Alleinerziehenden.
Genauer wird das Bild, wenn man betrachtet, für wen die „objektive“ Einkommensarmut tatsächlich nur eine Episode blieb, wer immer wieder in Armut rutschte und für wen sie zum Dauerzustand wurde. Letzteres war zwischen 2003 und 2008 der Fall für 6,6 Prozent der Bevölkerung: für 8,7 Prozent der Arbeiter, 3,1 Prozent der Angestellten, 0,6 Prozent der Führungskräfte, 2,8 Prozent der Freiberufler und ein Viertel aller Arbeitslosen. Doch es ist nicht nur eine Art Klassencharakter der chronischen Armut, der sich hier zeigt. Denn das Risiko wird umso größer für Geschiedene (9,5 Prozent), getrennt Lebende (21,4 Prozent) und Alleinerziehende (24 Prozent).
Leider wird es keine richtige Aktualisierung dieser Daten geben, weil Luxemburg seine Betrachtungsweise an einen Standard des EU-Statistikamts Eurostat anpassen musste. Ihm zufolge wird von „dauerhafter Armut“ schon gesprochen, wenn mindestens drei von vier Jahren unter der Schwelle von 60 Prozent des Medianeinkommens verbracht wurden. Dass dies 2011 laut Eurostat für sechs Prozent der Luxemburger Bevölkerung zutraf, ist nicht direkt vergleichbar mit den 6,6 Prozent der Datenreihe zwischen 2003 und 2008. Allerdings gibt das Statec für 2012 Risikofaktoren für Einkommensarmut an, nach denen die Lage sich seit 2008 vielleicht nicht verbessert hat: Von Armut bedroht waren demnach im vergangenen Jahr insbesondere Travailleurs manuels und Menschen ohne Sekundarschulabschluss. Außerdem 13 Prozent der Leute in Teilzeitarbeit, aber auch neun Prozent der in Vollzeit Tätigen. 3,7 Prozent der Führungskräfte und in intellektuellen Berufen Beschäftigten werden ebenfalls erwähnt. Man sieht: Working poor in Jobs mit geringen Qualifikationsanforderungen sind kaum überraschend Kandidaten für einen Abstieg, doch die Armut reicht, und wenn auch nur als Episode, weiterhin bis in die Mitte der Gesellschaft. Sie mag den mit Mitte 40 plötzlich arbeitslos gewordenen Mathematiker aus der Risk assessment-Abteilung einer Bank ebenso potenziell betreffen wie die Überlebenskünstler der auch in Luxemburg existierenden „digitalen Bohème“, die sich von dem einen Projektvertrag mit einer Werbeagentur zu dem nächsten mit einer Start-up-Firma im elektronischen Handel retten. Vergessen werden darf auch nicht, dass anteilig am stärksten von Armut bedroht die 47 Prozent aller Alleinerziehenden sind.
Armut und prekäre Lebensverhältnisse werden aber zu noch komplexeren Begriffen, wenn man die schon erwähnte subjektive Komponente mitbetrachtet und obendrein noch den Umstand, dass Luxemburg eine ausgesprochene Einwanderergesellschaft ist, mit in den Blick nimmt. Im Europa-Vergleich des Jahres 2011 von Eurostat erschien Luxemburg als ein Land mit besonders wenigen Haushalten, die sich selber als von Armut bedroht einschätzten: Nur in Norwegen und Schweden war der Anteil noch kleiner. Allerdings fällt auf, dass nicht jeder Haushalt, der unter die Schwelle der objektiven Einkommensarmut gefallen ist, sich auch als arm wahrnimmt: Ein Drittel der objektiv armen Haushalte gibt an, keine Probleme zu haben, am Monatsende mit seinem Geld auszukommen, hatte 2012 das Sozialforschungsinstitut Ceps/Instead ermittelt.
Von der Sozialforschung wurde noch nicht weiter erhellt, was sich dahinter verbirgt. Ob man es zu tun hat mit rigider Selbstbeschränkung, ob Hilfe aus der Verwandtschaft eine Rolle spielt, oder ob sich in der Auskunft: „Pas de problème à joindre les deux bouts!“ eine generelle Haltung im Umgang mit den Risiken in einer freien Gesellschaft im Kapitalismus zeigt: Während die einen ihre Lage als aussichtslos einschätzen, mögen die anderen sich pragmatisch durchwursteln und sich mit diesem Zustand sogar längerfristig abfinden.
Doch die Frage stellt sich, ob sich aus solchen Polarisierungen eine Spaltung der Gesellschaft ergibt und ein Teil der Menschen sich als „abgehängt“ vom Mainstream empfindet und schlimmstenfalls meint, dass keiner sie brauche und es niemanden interessiere, was sie denken. Liest man Travail et cohésion sociale 2012, muss man Zündstoff in den besonders wenig untersuchten Ecken und Winkeln der kleinen, aber so vielschichtigen Gesellschaft des Großherzogtums vermuten: 41,6 Prozent aller Immigranten aus Nicht-EU-Staaten sind von Armut oder einem sozialen Ausschluss nach den Kriterien des Europe-2020-Indikators bedroht, haben also auch wenig Arbeit und vielleicht nicht nur Schwierigkeiten, die Miete für ihre Wohnung zu bezahlen, sondern besitzen auch weder Auto, noch Fernseher, noch Telefon, und können sich nicht regelmäßig eine Portion Fleisch, Fisch oder – wie es neuerdings ebenfalls erwähnt wird – eine „äquivalente Menge aus anderen Proteinen“ leisten.
Weiter verfeinert wurden dieser Befund nicht, weil diese Personengruppe nach Nationalitäten aufzuteilen zu so kleinen Untergruppen führt, dass man statistisch mit ihnen nicht mehr viel anfangen kann. Wie es aussieht, sind insgesamt und unabhängig von der Nationalität Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre besonders stark von Armut und sozialem Ausschluss bedroht; 2012 traf das auf ein Viertel von ihnen zu, gegenüber 18,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dass von diesen Risiken lediglich 6,1 Prozent der über 65-Jährigen betroffen waren und in dieser Altersgruppe laut Eurostat nur 0,6 Prozent in „dauerhafter Armut“ lebten, ist auf die Ausstattung der Mindestrenten und die staatlichen Sozialtransfers zurückzuführen. Doch man muss sich fragen, was mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft geschähe, wäre der allgemeine Wohlstand rückläufig oder würden die Sozialtransfers zurückgefahren. Immerhin: Dass in den nach Dezilen aufgeteilten Einkommensgruppen selbst in den fünf untersten Gruppen mit den kleinsten Einkünften eine positive Umverteilung stattfindet, nachdem direkte Steuern, Sozialabgaben und Mehrwertsteuerausgaben abgezogen worden sind, ist dem Wirken der Sozialtransfers zu verdanken. Dass diese Umverteilungswirkung überdies bis zum fünften Dezil ziemlich einheitlich bleibt, auch. So gesehen, wirken die Transfers schon jetzt recht selektiv.
Und selbst wenn die Statistik die von sozialem Ausschluss offenbar besonders gefährdeten Zuwanderer aus Drittstaaten nicht weiter betrachtet, sind die Unterschiede in der EU-Bevölkerung des Landes und besonders zwischen Luxemburgern und Portugiesen, die immerhin knapp 23 Prozent der Landesbevölkerung ausmachen, beunruhigend genug. 2012 waren 21 Prozent aller Portugiesen im Lande von Armut an der Median-60-Schwelle bedroht, aber dagegen nur 4,9 Prozent aller Luxemburger und 3,6 Prozent aller hier lebenden Deutschen. Die Jahre zwischen 2003 und 2008 hatten 14 Prozent der Portugiesen, aber nur 2,6 Prozent der Luxemburger in ständiger Armut verbracht und fast jeder fünfte Portugiese war in diesem Zeitraum immer mal wieder in Armut abgeglitten.
Dass Travailleurs manuels unter der portugiesischen Bevölkerung besonders stark vertreten sind, könne das hohe Armutsrisiko von 21 Prozent erklären, heißt es im Statec-Bericht Travail et cohésion sociale 2012. Ob dieses Risiko in Zukunft kleiner werden könnte, ist aber nicht so sicher. 2008 hatte eine Ceps/Instead-Studie festgestellt, dass im Jahr 2006 neun von zehn portugiesischen Einwanderern der so genannten ersten Generation nur das Grundschulniveau besaßen; ganz gleich, ob sie vor 1982 in Luxemburg angekommen waren, zwischen 1982 und 1993, oder danach. Diese Primo-arrivants hatten 2006 zu 95 Prozent das damals noch geltende Arbeiterstatut. Die Männer arbeiteten vornehmlich auf Baustellen, die Frauen gingen putzen. 56 Prozent der portugiesischen Primo-arrivants waren 2006 objektiv von Armut bedroht, während das damals für 14,1 Prozent der Gesamtbevölkerung zutraf. Fast zwei Drittel hatten am Monatsende Geldprobleme. Im Bevölkerungsschnit waren davon nur 17,5 Prozent der Leute betroffen.
Die Kinder, die die zweite Generation bilden und entweder in Luxemburg geboren sind oder vor ihrem zwölften Lebensjahr hierher kamen, sind vergleichsweise besser gestellt: Im Jahr 2006 besaßen 58 Prozent einen Sekundarschulabschluss und jeder Zehnte ein Hochschuldiplom. Immerhin 32 Prozent aber hatten lediglich die Grundschule absolviert, so dass unter den Männern der zweiten Generation der Arbeiteranteil mit 57 Prozent noch immer stark ausgeprägt war. Allerdings gingen die Männer zu ungefähr gleichen Teilen einer Arbeit auf dem Bau, in der verarbeitenden Industrie oder im Handel nach. Und nicht einmal mehr jede zehnte Portugiesin der zweiten Generation war Putzfrau; 28 Prozent der Frauen arbeiteten im Gesundheits- und Sozialbereich, 26 Prozent im Handel. Das Risiko, von Einkommensarmut erwischt zu werden, lag für die zweite Einwanderergeneration mit 13 Prozent sogar um einen Punkt unter dem Landesschnitt, finanzielle Sorgen aber kannten mit 28 Prozent wesentlich mehr der jungen Portugiesinnen und Portugiesen als die große Masse der Bevölkerung.
Was diese deutliche materielle Schlechterstellung, die auch in die zweite Generation der größten Ausländergruppe an der Bevölkerung noch hineinreicht, für gesellschaftliche Folgen zeitigt, hat noch niemand wirklich untersucht. Denkbar scheint, dass unter den Portugiesen Familienbindungen, Finanztransfers, vielleicht aber auch religiöse Traditionen oder eine Art „Haut“ aus Moralvorstellungen einen Schutz vor einem Ausgeschlossenheitsgefühl bieten und der Gesellschaft insgesamt dadurch Konflikte erspart geblieben sind.
Auffällig ist immerhin, dass in einer Umfrage für den nationalen Nachhaltigkeitsrat im Sommer dieses Jahres 38 Prozent der befragten Portugiesen befürchteten, in den nächsten zwei bis drei Jahren ihre Arbeit zu verlieren und 44 Prozent von finanziellen Sorgen berichteten. Dagegen fürchteten nur zwölf Prozent der Luxemburger um ihren Job und 31 Prozent um ihr Monatseinkommen. Andererseits jedoch erklärten 46 Prozent der Portugiesen persönliche Beziehungen als für sie wichtig, während dieser Ansicht nur 36 Prozent der Luxemburger sind. Und während fast jeder zweite Portugiese eine Kohabitation der verschiedenen Kulturen im Lande für erstrebenswert hält, meint das nur knapp jeder vierte Luxemburger. „Solidarität“ ist 55 Prozent der Portugiesen wichtig, aber nur 37 Prozent der Luxemburger.
Was das für das Handeln im Alltag bedeutet, ist schwer zu sagen. Vor drei Jahren hatte ein Wissenschaftlerteam der Universität Luxemburg in dem großen Forschungsprojekt Doing Identity in Luxembourg im Ansatz auch zu erläutern versucht, wie soziokulturelle Milieus in der Wohnbevölkerung politisch aufzufassen sind. Herausgestellt wurde unter anderem ein „unterprivilegiertes Milieu“ von 13 Prozent der Bevölkerung mit einem Ausländeranteil von 60 Prozent und einem Anteil portugiesischer Bürger von mehr als der Hälfte. Für die „Unterprivilegierten“ sei die Frustration im Arbeitsalltag zur Grundstimmung geworden und sie hätten sich vom Glauben an berufliche Aufstiegschancen verabschiedet. Dennoch seien diese Leute im Arbeitsleben leistungsbereit und würden sich damit „nach unten abgrenzen“. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in diesem Milieu sei hoch; sofern den „Unterprivilegierten“ Luxemburger angehören, seien die jedoch ausgesprochen „politikverdrossen“.
Ganz eindeutig sieht diese Konstruktion nicht aus, denn die Erwähnung einer Abgrenzung „nach unten“ suggeriert, dass es noch ein Segment geben könnte, das man zu untersuchen vergaß. Genauso wenig kommt, glaubt man der Studie, in Luxemburg der Typus einer Leistungsauffassung vor, die den Markt verehrt, für die das „Hire and Fire“ nach amerikanischem Vorbild ein überfälliger Befreiungsschlag aus einer blockierten Gesellschaft wäre und die im Sozialstaat nur eine Ermunterung zur Faulheit erkennt.
Aber vielleicht ist diese Beschreibung der Alltagskulturen so falsch ja doch nicht. Schließlich kennt Luxemburg eine jahrzehntelange Tradition einer Regierungspolitik, die sich aus Sozialdemokratie und katholischer Soziallehre speist und in der bisher ein Gleichheits- und Solidaritätsgedanke hochgehalten wurde, den es, zum Vergleich, in Deutschland schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gibt. Gesellschaftliche Spannungen durch Einkommens- und Aufstiegsunterschiede wären dann womöglich vor allem ein Problem zwischen Luxemburgern: denen, die es „nicht geschafft“ haben, und denen, die ihre Festanstellung im öffentlichen Dienst als Resultat ihrer Leistung deuten. Einschneidende sozialpolitische Reformen könnten aber auch hierzulande die Karten neu mischen. Und vielleicht könnten sie Milieus entstehen lassen, in denen andere geringgeschätzt werden und der Staat gehasst wird.