Bei der Bildung einer neuen Regierung gilt es, verschiedene Rituale einzuhalten. Dazu gehört es, dass die Koalitionäre unabhängig von den programmatischen Distanzen die Stimmung in den Gesprächen am unteren Ende der Skala zumindest als „konstruktiv“ und am oberen Ende der Skala als „exzellent“ bezeichnen. Als Faustregel zur Einstufung gilt dabei: je knapper die Mehrheit, umso größer die Abhängigkeit voneinander, desto höher die Kompromissbereitschaft und entsprechend besser die Stimmung. Ebenso obligatorisch wie unglaubwürdig ist die Behauptung, dass erst über Inhalte, dann über Personalien diskutiert werde. Schließlich verfügen die Gesprächsteilnehmer über ein ausreichend großes Ego, um sich einer Wahl auszusetzen, und so kann man getrost davon ausgehen, dass ihr persönliches Schicksal, die beruflichen Aussichten und Einkommenssituation für sie eine gewisse Priorität haben. Diese „Aussagen“ werden in kurzen, sendebereiten und druckfertigen Statements vorgetragen, die am Anfang und am Ende der Verhandlungsrunden vor dem Pulk an Journalisten abgegeben werden, die sich, darauf wartend, witterungsunabhängig vor der Tür stundenlang die Füße in den Bauch stehen. Denn obwohl auch sie wissen, dass eigentlich nichts Berichtenswertes passiert, beteiligen sie sich nicht nur am Ritual, sondern befeuern es durch gezielte und messerscharfe Fragen wie: „Können Sie uns irgendetwas sagen? Irgendetwas?“ Schließlich können sie in ihren Nachrichten die Bildung einer neuen Regierung nicht ignorieren.
In diesem Sinne liegen die Koalitionsgespräche bisher komplett im Soll. Nach dem Defilee von Verwaltungschefs und Sozialpartnern in der Plenarversammlung der Verhandlungsdelegationen und nachdem die thematischen Arbeitsgruppen erste Sitzungen absolviert haben, fällt es sogar Formateur Xavier Bettel (DP), diesem Meister in der Kunst der gutgelaunten Inhaltslosigkeit, schwer, die richtigen Worte zu finden, um nichts zu sagen. So erklärte er nach den Plenarsitzungen, man höre nun erst einmal zu, um sich ein Bild von der Situation zu verschaffen. Dabei liegt genau in diesem Punkt einer der großen Unterschiede zwischen der Bildung der Dreierkoalition 2013 und 2018. Als die DP und die Grünen 2013 in die Koalitionsgespräche gingen, kamen sie aus der Opposition und konnten legitimerweise erklären, ihnen sei die reelle Lage in den unterschiedlichen Ressorts unbekannt. Doch dieses Mal sind alle Verhandlungspartner auch ehemalige Regierungsparteien und daher müsste ihnen die eigene Bilanz, das Ergebnis ihrer Arbeit in der vergangenen Legislaturperiode, eigentlich bestens bekannt sein. Beim Kassensturz der Verwaltungen geht es um ihre eigene Kasse.
Entsprechend gering scheint das Interesse der Delegierten – manche von ihnen nahmen am Donnerstag während der Plenarsitzungen andere Termine wahr. Von denen, die drinnen „zuhörten“, sollen viele mehr an ihrem Smartphone als an den Präsentationen interessiert gewesen sein. Das Nationale Wirtschafts- und Finanzkomitee, besser unter seinem früheren Namen Comité de prévision bekannt, also das Gremium, auf das sich die Regierung eigentlich bei finanzpolitischen Entscheidungen stützt und das die wichtigste aller Notes au Formateur vorlegen wird, war auf der Liste der vom Formateur eingeladenen Ansprechpartner gar nicht eingetragen, bisher am Defilee nicht beteiligt und wird erst kommende Woche vorsprechen. So dass man sich langsam fragen kann, was die Delegationen den ganzen Tag lang im Außenministerium treiben.
Auch die Leiter der Verhandlungsdelegationen von DP, LSAP und Déi Gréng beschränkten sich darauf, zu erklären, die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Landes sei besser als vor fünf Jahren, als man die Regierungsgeschäfte von der CSV-geführten Regierung übernahm, und es bleibe Spielraum für weiterhin hohe Investitionen und eine weitere Steuerreform. Daher lohnt sich ein Blick auf die neuesten Statec-Veröffentlichungen beziehungsweise den provisorischen Haushaltsentwurf, den die Regierung vergangene Woche nach Brüssel geschickt hat, um zu erfahren, wie groß oder klein besagter Spielraum ist.
Im Haushaltsentwurf nach provisorischem Zwölftel, der am heutigen Freitag durchs Kabinett soll, rechnet die Regierung mit einem Wirtschaftswachstum von 3,9 Prozent in diesem und von vier Prozent im kommenden Jahr. Ohne neue politische Akzente zu setzen, ergebe sich demnach ein nominaler Überschuss der öffentlichen Hand von 1,5 Prozent für 2018 und von 1,3 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) für 2019. Demnach würde Luxemburg sowohl 2018 als auch 2019 sein mittelfristiges Haushaltsziel eines strukturellen Saldos von -0,5 Prozent mit 1,7 und 1,1 BIP-Prozentpunkten weit übertreffen. Auch der Nationale Rat der öffentlichen Finanzen (CNFP) bestätigte diese Woche, dass Luxemburg die europäischen Haushaltsregeln (nach vier unterschiedlichen Rechenmethoden) im vergangenen und im laufenden Jahr locker einhält. Das Statec hielt diese Woche an den nach Brüssel geschickten Prognosen für dieses und kommendes Jahr fest, obwohl die Zahlen für vergangenes Jahr drastisch, auf 1,5 Prozent Wachstum, nach unten korrigiert wurden. Bei einem BIP von 55,301 Milliarden Euro 2017 und Überschüssen von über einem BIP-Prozentpunkt ergeben sich durchaus ein paar hundert Millionen Euro Bewegungsfreiheit für politische Gestaltung – wenn man nur wüsste, welche Politik man machen will.
Denn darin liegt ein weiterer großer Unterschied zur Regierungsbildung vor fünf Jahren: Die Konjunktur war nach der Krise noch schwach, der Aufschwung zwar in Sicht, doch bei den Staatsfinanzen rechnete man für die gesamte Legislaturperiode mit steigenden Defiziten. Heute ist es umgekehrt; die Konjunktur brummt und die Haushaltslage ist deshalb gut. Damals hatte die Regierung neben ihren gesellschaftlichen Reformen nur ein Ziel: Sparen. Doch das fällt diesmal aus. Corinne Cahen (DP) und Félix Braz (Déi Gréng) deuteten im Laufe der Woche in verschiedenen Interviews an, die 2016 begonnene Steuerreform könne fortgesetzt werden und so könnte daraus eines der großen Regierungsprojekte der nächsten Legislaturperiode werden. Darunter versteht Erstere die Individualisierung bei der Personenbesteuerung, und Letzterer grüne Steuern, die 2016 nicht durchgesetzt wurden. Die Frage wird sein, in welche Richtung die Koalition dabei umverteilen wird: von unten nach oben oder von oben nach unten.
Vorsichtshalber verlangte UEL- und Handelskammerpräsident Michel Wurth deshalb schon diese Woche, den Körperschaftssteuersatz zu senken, während andere darüber spekulieren, wie über die Steuern die Mindestlohnbezieher besser gestellt werden können. Die Handelskammer hielt am Dienstag eine Pressekonferenz ab, bei der sie ihr eigenes Regierungsprogramm vorlegte. Es sieht nicht nur vor, die Regierung nach dem Vorbild der Geschäftsführung eines Konzerns umzubauen, sechs Superministerien einzurichten und die „Weisungsbefugnisse“ des Staatsministers auszubauen, sondern auch den Index für die gesamte Legislaturperiode zu modulieren und auf maximal eine Tranche alle 18 Monate zu beschränken. Die Gewerkschaft der Staatsbeamten, CGFP, verschickte deshalb ihrerseits eine Mitteilung, um von den Verhandlungspartnern in den Koalitionsgesprächen erstens ein Bekenntnis zum unmodulierten Index und zweitens „klare Aussagen in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit“ zu fordern.
Dass Wurth seine Forderungen in Interviews und auf Pressekonferenzen stellt, statt dass die Arbeitgeber einen Fürsprecher in den Verhandlungsgruppen haben, liegt daran, dass die DP offensichtlich einige Lehren aus den Diskussionen von 2013 gezogen hat. Damals hatte sie den EY-Partner Alain Kinsch in die Verhandlungen geschickt, der es geschafft hatte, die Einführung steuerlich absetzbarer fiktiver Zinsen ins Regierungsprogramm zu schreiben. Dieses Mal schicken die Liberalen ausnahmsweise Mandatsträger der Partei, beziehungsweise mehr oder weniger erfolgreiche Kandidaten der Wahlen in die Arbeitsgruppen. Der Unterschied ist so flagrant, dass es sich dabei nur um eine bewusste Entscheidung handeln kann, um eine erneute Polemik darüber zu vermeiden, dass es der Partei an fähigem Personal fehle und sie deshalb Firmenberater in die Verhandlungen schicke.
Obwohl alle Beteiligten behaupten, nicht über Personalfragen diskutiert zu haben, zeichnen sich manche Entscheidungen ab. Da Xavier Bettel, der selbst in keiner thematischen Arbeitsgruppe mitwirkt, Staatsminister bleiben will und Jean Asselborn (LSAP) nun Außenminister bleiben muss, da er sich für kein anderes Ressort interessiert und aufgrund seines Wahlergebnisses in die Regierung gehört, könnten die Grünen den EU-Kommissar beanspruchen.