Ein leerer Raum. Verwinkelt. Eine Fensterfront zum zweiten Hinterhof. Abgedunkelt. Weiße Wände. Stille. Eine Leinwand hängt bedeutungslos im Raum. Ein Luftzug, der durch das geöffnete Fenster haucht, lässt ihn in seiner eigenen Existenz zurück. Hektisch fuchtelt die Galerievertreterin mit zwei Fernbedienungen, schließt das Fenster, entschuldigt sich. „Setzen Sie sich hin“, sagt sie und weist auf nicht vorhandene Stühle. Bleibt der Fußboden. Grau. Der Teppichboden ist frisch schamponiert, flauschig, weich, er mutet feucht an. „Es braucht ein immer ein wenig, bis die Installation startet.“ Sie müht sich mit dem Projektor ab, der – trotz mehrmaligen, heftigen Drückens auf die Fernbedienung – nicht so recht mit dem Leuchten beginnen will. Es dauert. „Schauen Sie es sich ruhig an. Wenn Sie Fragen haben, ich bin da hinten.“ Irgendwo. Stille. Dunkelheit. Verwinkelung. Zeitgenössische Kunst.
Das gewohnte Vorglühen der Projektion. Die Tonspur läuft bereits. Irgendwann geht es los. Home Videos. Eine Endlossschleife von Videoaufnahmen aus und im Leben des luxemburgischen Künstlers. Derzeit zu sehen im Michel Majerus Estate in Berlin. Der US-amerikanische Medienkünstler Jordan Wolfson hat eine filmische Collage mit Aufnahmen aus dem persönlichen Archiv von Majerus zusammengestellt. Der Video-Gegenwartskünstler spricht von einer Kompilation von Szenen eines Anrufbeantworters, MTV-Clips und privaten Filmaufnahmen, die zwischen 1998 und 2002 entstanden sind. Beobachtungen und Begegnungen aus Majerus’ Alltag.
Im Mittelpunkt steht der Anrufbeantworter. Der Luxemburger Künstler hat ihn seinerzeit aus kurzer Distanz abgefilmt. Ein unansehnliches Teil. Grau. Elektronisches Mittelalter. Digitale Anzeige. Notiert wird die Zahl der Anrufe. Tag und Uhrzeit. Der Anrufbeantworter stand damals im Berliner Atelier, dem heutigen Estate Majerus. Er selbst pendelte damals zwischen der deutschen Hauptstadt und Los Angeles. Die Kameraführung aus der Hand. Wackelig. Authentisch. Zufällig. Unterbrochen von einem Anruf dokumentieren die beiden Sequenzen die Unbeholfenheit von Anrufern. Abgespielt werden einmal neun, dann zwölf Nachrichten. Manche Botschaften bleiben schwer verständlich. Menschen aus aller Welt sprechen aufs Band – Menschen, die versuchen, des Künstlers habhaft zu werden, ihn fassen zu können, ihn erfassen zu können, eine Nachricht in seinem Leben zu hinterlassen. Darunter so profane Mitteilungen wie die Bitte, zu einem Essen an einem Allerheiligennachmittag doch noch Käse, Apfelsaft oder Wein mitzubringen, wo doch schon Maultaschen und Brezeln besorgt wurden. Aber auch schnippische, verzweifelte, bettelnde Aufforderungen, doch endlich zurückzurufen. Kurz vor Mitternacht. An einem Julitag. Oder Hinweise auf eine Veranstaltung in Berlin-Mitte. Die Nachrichten sind aus dem Frühjahr sowie dem Sommer und Herbst 2002, wie der kurze Begleittext zum Videowerk schreibt. Sie enden oder pausieren an einem 4. November. Es sind Stimmen seiner Wegbegleiterinnen und Weggefährten auf seiner künstlerischen Laufbahn. Die Nachrichten stammen von den Künstlerinnen, Malern und Grafikern Heike-Karin Föll, Milena Muzquiz aus Mexiko, Sixten Kai Nielsen, Jorge Pardo und Christopher Wool. Zwei Anrufer konnten nicht identifiziert werden. Die Botschaft verhallt. Auch Künstler kommunizieren nicht fortwährend in einem Manifesto ihres eigenen Schaffens, sondern verheddern sich in alltäglichen Belanglosigkeiten des „Ruf! Mich! An!“.
Durchbrochen werden die beiden AB-Sequenzen von Fernsehbildern aus den späten Neunzigerjahren. MTV-Clips, etwa Björks Musikvideo All is full of love (1997), abgefilmte Litfasswerbung für Badeanzüge, ein Ausschnitt aus einem Beavis & Butt-Head-Cartoon, Fernsehwerbung für Uhren, Programmtrailer eben des Musiksenders. Zu dem grauen, unsäglichen Anrufbeantworter liefern sie das popkulturelle Gegenargument, dass Majerus eben nicht aus der Zeit gefallen sei. Wolfson versucht vielmehr den Bogen zum künstlerischen Œuvre des Luxemburgers zu spannen. Grau versus bunt. Anrufbeantworter versus Pop. Alltag versus Kunst. Doch der direkte Link zum Künstler Majerus versandet und versiebt sich. Die Zusammenstellung, das Sampling, die Kompilation offenbart vor allen Dingen eines: die Unfassbarkeit von Michel Majerus. Einzig eine Sequenz wird diesem Anspruch gerecht: „Die reflektierende, zerknitterte Innenansicht einer fast leeren Tüte Erdnussflips, auf deren Oberfläche das Licht spielt. Majerus merkt hörbar an, dass das Gefilmte Vorlage für eine Installation sein könnte.“ In dieser knisternden, zerknüllten, fast leeren Tüte sieht man Kunst aufscheinen und die Kreativität aufblitzen.
Dann Aufnahmen aus seinem privaten Leben. Kurze Szene seines Vaters, gefolgt von seiner Mutter im Elternhaus, wobei die Anzahl der Kruzifixe auffällt. Hier wird die filmische Collage für zwei kurze Momente übertrieben privat, weitaus intimer als der Ausschnitt, der den Künstler im Jahr 1999 auf einer Parkbank in den Giardini von Venedig zeigt – während er im Katalog seiner Ausstellung in der Kunsthalle Basel blättert.
Die Home Videos schaffen es nicht, die Leere des Michel Majerus Estates in Berlin zu füllen. Mag der Teppichboden noch so flauschig und weich sein. Elf Minuten und zwanzig Sekunden dauert die Kompilation, die weder ein Best-Of noch ein Memory ist, aber eben auch kein Home Video. Es macht die Unfassbarkeit von Majerus in seinem Werk und seinem Leben überdeutlich, vor allem aber die Verzweiflung des Kunstbetriebs, eines Künstlers habhaft zu werden, der nicht gefasst werden wollte. Auch wenn die Verantwortlichen schreiben, dass die Auswahl Jordan Wolfsons einen Einblick in die vielschichtigen Positionen, Einflüsse und Ideen geben möchte, die den Luxemburger in seinem künstlerischen Schaffen prägten, bleibt die Endlosschleife genau dies schuldig. Irgendwann rappelt und krabbelt der Betrachter sich aus dem grauen, feuchtweichen Flor des Teppichbodens, sucht sich den Weg zurück in die Jetztzeit. Vorbei an weißen, klinisch weißen Wänden. Es bleibt die Verwunderung, dass auf dem Anrufbeantworter nicht mehr Nachrichten waren.