Wer heute eine Luxemburger Tageszeitung aufschlägt, dem drohen zuerst einmal bunte Reklameblätter von Supermärkten, Konfektionshäusern und Baumärkten auf die Füße zu fallen. Ab Herbst kann es auch noch der Kammerbericht sein.
Denn dann wird der Sitzungsbericht der Abgeordnetenkammer nicht mehr kostenlos an alle Haushalte verteilt, sondern etwa alle 14 Tage den vier Tageszeitungen Luxemburger Wort, Tageblatt, Lëtzebuerger Journal und Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek beigelegt werden.
Die vier Blätter bekommen den Inhalt der Sitzungsberichte als druckfertige Seiten in ihrem jeweiligen Zeitungsformat angeliefert und verkaufen ihn ohne Aufpreis als Beilage zu ihrer normalen Ausgabe. Die anfangs berücksichtigten französischsprachigen Tageszeitungen Le Quotidien und La Voix wurden nicht für das weitgehend luxemburgische Verbatim zurückbehalten; ein fünfter Druck in Kleinstauflage bleibt für die in Buchform gebundenen Sitzungsberichte notwendig.
Im Herbst soll das bisher eher versuchsweise ausgestrahlte Fernsehprogramm der Abgeordnetenkammer vorsichtig ausgebaut werden und damit seine endgültige Form erhalten. Doch wenn die Wähler ihren Lieblingsabgeordneten live hören können, brauchen sie nicht mehr unbedingt die gedruckten Reden nachgeschickt zu bekommen, so geht die Überlegung im Kammerbüro. Deshalb stand für die Initiatoren von Chamber TV von Anfang an fest, dass ein Teil der Mittel für das Fernsehprogramm beim gedruckten Chamberbliedchen eingespart werden soll.
Der Kammerbericht wird in Wirklichkeit umkämpft, seit es ihn gibt. Am 26. Juni 1843 hatte die Ständekammer endgültig beschlossen, "pour faire imprimer le Compte-rendu des séances des États du Grand-Duché de Luxembourg". Und 1844 kamen dann die beiden ersten Bände im Groß-8°-Format zu 463 bzw. 451 Seiten aus der Druckerei Jacques Lamort auf der Place d'Armes. Nach der demokratischen Revolution hieß der 1851 gedruckte Bericht des Jahrgangs 1848 Procès verbaux des séances de la Chambre des Députés, nach dem Putsch von König-Großherzog Wilhelm III. von 1857 bis 1868 wieder Compte rendu des séances de l'Assemblée des États du Grand-Duché de Luxembourg. Doch schon am 6. Oktober 1852 hatte der Diekircher Abgeordnete Lucien Richard gemeint, dass der Kammerbericht mit viel zu großer Verspätung erscheine, deshalb seinen Zweck verfehle und genauso gut eingestellt werden könnte...
Einen ersten Versuch, um in Konkurrenz zur damals gerade aufblühenden Presse eigene aktuelle Sitzungsberichte unter die Wähler zu bringen, hatte das Parlament schon am 13. Oktober 1848 unternommen, als es mit 35 gegen 12 Stimmen beschloss: "1° les débats de la Chambre seront publiés jour par jour, d'après un mode à arrêter ultérieurement par elle; 2° une feuille d'impression, contenant le résumé des séances, sera publié jour par jour". Doch es dauerte noch bis Januar 1883, als die Kammer einen analytischen Bericht mit ihren in deutscher Sprache zusammengefassten Sitzungsberichten herausbrachte. Er stieß von Anfang an auf den Widerstand der größten Zeitungen, die um ihr politisches Meinungsmonopol fürchteten; 1902 musste der Sozialist Michel Welter Unterschriften gegen die Abschaffung des Chamberbliedchen sammeln.
Nach dem Ende der Mittelinkskoalition 1979 wurde "der Analytische" durch den Sitzungsbericht mit dem vollen Wortlaut in den Originalsprachen Luxemburgisch und Französisch ersetzt. Die Freude jener Leser, welche die Bleiwüsten des Berichts nach Zwischenrufen und heiteren Rededuellen abgrasten, war allerdings von kurzer Dauer, denn Mitte der Achtzigerjahre wurden immer mehr Zwischenrufe aus dem Verbatim zensiert und durch die Zeile "(Interruptions diverses)" ersetzt...
So tauchte die seit Jahrzehnten herumgeisternde Idee, den Sitzungsbericht nicht mehr an alle wahlberechtigten Haushalte zu verteilen, sondern nur noch an jene, die ein kostenloses Abonnement zeichneten, nun auch wieder auf, als es hieß, für Chamber TV zu sparen. Doch weil ein bedeutender Teil der Satz- und Druckkosten von der Auflagenhöhe unabhängige Fixkosten sind, scheinen die so erwarteten Einsparungen nicht auszureichen.
An die simple Abschaffung des immer wieder als weltweit einzigartige demokratische Einrichtung dargestellten und laut Umfragen von etwa 15 Prozent der Haushalte gelesen Chamberbliedchens wagte sich aber auch niemand. Denn die jährlich etwa 330 Tonnen Papier waren von Anfang Zankapfel von Parteien und Zeitungen. Als nach der Rückkehr der CSV in die Regierung wieder einmal über die Verteilung des Berichtes an alle Haushalte debattierte wurde, resümierte der ehemalige LSAP-Minister Robert Krieps am 18. Juni 1980 im Parlament: "Das Luxemburger Wort hat eine dominante Position hier im Land, und es ist nicht denkbar, dass die auch noch dadurch gestärkt wird, dass man das Informationsmittel, um das es hier geht, das heißt den kostenlosen Sitzungsbericht, abschaffen würde." Und für die Parteiblätter, deren Druckereien sich bisher diskret abwechselnd die Herstellung des Berichtes teilen, war der Auftrag alle vier Jahre eine willkommene Vitaminspritze.
Da tauchte unverhofft die Werbeagentur Media Brain des DNR-Direktors auf und verkaufte der Abgeordnetenkammer das Ei des Kolumbus: den Sitzungsbericht den Tageszeitungen beizulegen. Dadurch soll die Zeitspanne zwischen der Kammersitzung und der Veröffentlichung des Berichts von derzeit fast zwei Monaten auf zwei Wochen verkürzt und vor allem sollen die Kosten halbiert werden.
Im Jahr 2000 erschienen 19 Nummern des Sitzungsberichtes mit einem Umfang von 2 312 Seiten, zu denen noch 518 gelb markierte Seiten mit den Texten der parlamentarischen Anfragen und 88 grüne Seiten mit sonstigen Informationen aus dem Parlament kamen. Die Druckkosten beliefen sich auf 63,5 Millionen Franken; die Verteilung an 122 500 Haushalte kostete 10,9 Millionen Franken. Die Gesamtkosten des Sitzungsberichtes betrugen 75 Millionen Franken.
Die Agentur versprach nun dem Kammerbüro, die Kosten für Druck und Verteilung von 19 Ausgaben des Sitzungsberichtes von 75 Millionen auf die Hälfte, 34,6 Millionen Franken, zu senken. Und alle Fraktionen im Kammerbüro waren begeistert.
Auch die Zeitungsdruckereien können, ohne Angst vor europäischer Konkurrenz, ihre Druckaufträge retten. Sie erhalten für Einlegen und Verteilen des Berichts bis zu einer Auflage von 5 000 Exemplaren einen Euro pro Exemplar, multipliziert mit dem Format und einem dynamischen Koeffizienten für alle weiteren Exemplare. Was pro Ausgabe zwischen etwa 3 000 Euro für die Zeitung und über 20 000 Euro für das Wort ausmacht.
Der erhoffte Zeit- und Geldgewinn soll vor allem dadurch geschehen, dass der Bericht kein eigenes Druckwerk mehr ist, sondern im gleichen Arbeitsgang und im gleichen Format mit den jeweiligen Zeitungen gedruckt wird. Auch die Texterfassung soll, wie das Layout, an kommerzielle Firmen - noch einmal dieselben Druckerein - outgesourcet werden, welche am frühen Morgen Tonaufnahmen der Sitzungen vom Vortag zum Abtippen übermittelt bekommen. Hier sollen vor allem die niedrigeren Lohnkosten zu Einsparungen führen.
Nachdem Ende der Achtzigerjahre einige Monate erfolglos versucht worden war, die Parteiblätter zum Abdruck eines von der Kammerkanzlei verfassten Kommuniqués mit einem "neutralen" Sitzungsbericht zu bewegen, dürfte ab Herbst die Luxemburger Tagespresse an verschiedenen Tagen nun doch noch ziemlich halbamtlich aussehen. Und selbst wenn eine Abonnementmöglichkeit erhalten bleibt, dürfte in der Praxis der kostenlos an alle Haushalte verteilte Sitzungsbericht, der letztes Jahr noch eine attraktivere Aufmachung verpasst bekommen hatte, der Vergangenheit angehören. Denn die meisten interessierten Wähler müssen ab Oktober eine Tageszeitung kaufen, um ihr Chamberbliedchen zu erhalten - selbst wenn sie gar keine wollen.