Dass auf der hauptstädtischen Place Clairefontaine Kundgebungen stattfinden, ist nicht neu. In der Vergangenheit trafen sich dort schon öfters Demonstranten, die dem Aufruf linker Parteien, von Drittweltvereinen oder Ausländerorganisationen gefolgt waren. Dass auf dem keilförmigen, abschüssigen Platz aber Gewerkschaftskundgebungen, wie die Grenzpendlerdemonstration vor zwei Jahren, stattfinden, bleibt noch immer die Ausnahme.
In 14 Tagen wollen die größten Gewerkschaften auf der Place Clairefontaine gegen die Rentenreform protestieren, die bis zum Jahresende verabschiedet werden soll. Und selbst wenn der 9. Oktober dieses Jahr auf den 16. Oktober fällt, wird die Kundgebung auch ein wenig die Mobilisierungsfähigkeit von OGBL, CGFP & Co. testen. Doch dass die Gewerkschaften für diese Kundgebung nicht den größeren Knuedler, die Place d’Armes oder die Place de la Constitution, sondern die enge Place Clairefontaine ausgewählt haben, nährt den Verdacht, dass sie sich keine richtige Steigerung gegenüber ihrer Protestversammlung vor einem halben Jahr im ehemaligen Straßenbahndepot auf dem Limpertsberg zutrauen.
Dabei rufen inzwischen fast sämtliche Gewerkschaften der Privatwirtschaft und des öffentlichen Dienstes für den 16. Oktober auf, und die Rentenreform ist längst nicht der einzige sozialpolitische Streitpunkt dieses Herbstes. Die erwartete Ankündigung weiterer Steuererhöhungen und Kürzungen bei den Sozialausgaben, die angedrohten Werksschließungen in der Industrie, die diffuse Sorge um einen angeblichen Ausverkauf der Volkswirtschaft an fremde Mächte und die für Luxemburger Verhältnisse hohe Arbeitslosenrate beunruhigen weite Teile der Bevölkerung.
Aber all diese Konflikte verursachen weder Empörung, noch Entrüstung, sie wirken derzeit alles andere denn mobilisierend. Das vorherrschende Gefühl scheint vielmehr eine Resignation, dass die 2008 offen ausgebrochene Wirtschaftskrise zum Dauerzustand wird. Sie wird als Naturphänomen wahrgenommen, für den niemand verantwortlich ist, so dass sich sowieso kein Adressat für irgendeine Form von Protest finden ließe: Die Regierung? Die Unternehmer? Europa? So herrscht ein Gefühl der Machtlosigkeit vor, das derzeit eher eine depressive Stimmung im Land versursacht.
Selbstverständlich wollen die Gewerkschaften auch nicht zu viel Aufhebens um die Rentenreform von LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo machen. Denn wenn die Reform tatsächlich am 1. Januar in der aktuellen Form in Kraft träte, ginge sie noch immer weniger weit als die Forderungen von Unternehmerverbänden, manchen Mehrheitspolitikern, EU-Kommission, OECD und IWF. Deshalb zielten die Forderungen, die OGBL-Präsident Jean-Claude Reding am Dienstag wiederholte, weniger auf eine grundsätzliche Ablehnung des Reformentwurfs ab als auf Detailverbesserungen: die Erwägung einer zusätzlichen Finanzierungsquelle, eine Erhöhung der Grundrente zugunsten der Bezieher niedriger Renten, die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Zusatzversicherung, den höchsten Steigerungssatz für Nachtarbeiter, Sonderregelungen für lange Studienzeiten und Teilzeitarbeit...
Dass sich auch die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, wie CGFP und FGFC, der Kundgebung wieder anschließen, ist alles andere als selbstverständlich. Denn die Gewerkschaften der Privatwirtschaft hatten diese Solidarität nicht gezeigt, als 1998 die Pensionen im öffentlichen Dienst gekürzt wurden. Um so mehr überraschte LCGB-Präsident Patrick Dury seine Kampfgefährten, als er während einer ersten Pressekonferenz am 17. September fragte, ob „wir uns das Gehälterabkommen im öffentlichen Dienst in dieser Lage überhaupt noch leisten können“. Dabei versuchte CGFP-Generalsekretär Romain Wolff gerade noch seinen Mitgliedern in der Verbandszeitung zu erklären, weshalb er im April mit einer Aufschiebung der bereits abgemachten Punktwerterhöhung einverstanden war. Sogar die LCGB-Schwestergewerkschaft Syprolux fühlte sich provoziert und verschickte eine geharnischte Erklärung, in der es hieß: „Diese konstanten Attacken auf die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes vertiefen den Graben zwischen privatem und öffentlichem Sektor immer weiter. [...] Mit diesem Schreiben also distanziert sich die christliche Eisenbahnergewerkschaft, Syprolux, ganz klar von den Aussagen des LCGB-Präsidenten in Bezug auf seine Überlegungen zum öffentlichen Dienst und zur Rentenreform.“ Dabei ist die Syprolux als Fachverband LCGB-FCPT-Transportpersonal inzwischen auch ein Teil des krisengeschüttelten LCGB.
Dass die Kommunikation zwischen den Gewerkschaften schlecht funktioniert, lässt auch ein diese Woche veröffentlichter Aufruf zur Rentenkundgebung vermuten, in dem es heißt: „Aus der Presse erfuhr die christliche Eisenbahngewerkschaft, Syprolux, vom Aufruf zur Mobilisierung gegen die Rentenreform, welche in einer Kundgebung am 16. Oktober 2012 enden soll. Bis dato wurden die Verantwortlichen unserer Organisation nicht um eine aktive Beteiligung gebeten.“ Am Mittwoch sagte der LCGB dann seine Teilnahme an der gemeinsamen Kundgebung ab und kündigte an, zeitgleich eine eigene Protestversammlung in Niederanven zu organisieren.
Solches Störfeuer aus den eigenen Reihen verbessert nicht unbedingt die Kampfmoral der Truppen. Um so mehr, als die Gewerkschaften mit Ausnahme des einsamen Abgeordneten von déi Lénk weder in der Regierungsmehrheit noch in der parlamentarischen Opposition Verbündete finden, um ihren Anliegen politischen Nachdruck zu verleihen: Die einen Parteien unterstützen die Rentenreform, den anderen geht sie nicht weit genug. Dafür wollen die Unternehmer die Hinterlegung des Haushaltsentwurfs nächste Woche nutzen, um in die Offensive zu gehen. Die Handelskammer zieht am Montag vor der Presse ihre Bilanz nach der Hälfte der Legislaturperiode. Am Donnerstag untermauert der Verein 5 vir 12 dann seine Thesen mit einer Umfrage der Marktforschungsfirma Quest.
Für Beunruhigung sorgen aber vor allem die drohende Schließung der Guardian-Glasfabrik in Düdelingen und der Hyosung Reifendrahtfabrik in Colmar-Berg mit jeweils über 200 Beschäftigten, die ungewisse Zukunft der Arcelor-Mittal-Werke in Schifflingen und Rodingen sowie die mögliche Auslagerung wichtiger Aktivitäten der Cargolux (siehe Seite 2-3, 8 in dieser Nummer). Und die Antwort ist allgemeine Ratlosigkeit: Die Gewerkschaften wenden sich händeringend an die Regierung. Die Regierung bleibt stumm und befürchtet einen Skandal um ihre Abhängigkeit von Kapital aus dem Katar. Die LSAP verspricht, „die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Luxemburg“ zum großen Wahlkampfthema zu machen – in zwei Jahren.
Besorgt erwaten viele die Hinterlegung des Entwurfs des Staatshaushalts für 2013 im Parlament nächste Woche. Denn die Regierung hat bereits angekündigt, dass das Staatsdefizit größer als erwartet werde, so dass die im Frühjahr angekündigten Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen von rund einer halben Milliarde Euro nicht ausreichen würden. LSAP-Präsident Alex Bodry hatte am Montag die Unvermeidbarkeit weiterer Einsparungen erklärt und gleichzeitig die „rote Linie“ benannt, welche die Sozialisten dem offenbar für die Finanzen zuständigen Koalitionspartner ziehen wollen: keine zusätzliche Indexmanipulation, keine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder anderer indirekter Steuern, keine Einsparungen ohne gleichzeitige eine Erhöhung der Steuern, nicht zuletzt der Unternehmen.
Diese „rote Linie“, mit der laut Bodry auch Premier Jean-Claude Juncker einverstanden sei – „andere CSV-Politiker weniger“ –, scheint immerhin OGBL-Präsident Jean-Claude Reding zu beruhigen. Denn mit den bevorstehenden zusätzlichen Sanierungsmaßnahmen scheint er sich abgefunden zu haben – sie waren ihm am Dienstag kaum der Rede wert. LCGB-Kollege Patrick Dury hatte noch 14 Tage zuvor eine „sozial ausgewogene“ Defizitsenkung verlangt, wobei er vor allem an Einsparungen im öffentlichen Dienst dachte. Er wünschte sich daneben „eine Diskussion über den Spitzensteuersatz“, der mittlere Einkommen zu viel und hohe Einkommen zu wenig belaste. Auch „warten wir noch immer auf den Beitrag der Betriebe, die ebenfalls ihren Teil zur Finanzierung des Staatshaushalts beitragen müssen“. Die CGFP spottet dagegen in der neusten Fonction publique: „Gegenüber 2009 haben die Staatseinnahmen um mehr als +24% zugelegt, was profilierungssüchtige Politaktivisten der dritten Reihe kaum daran hindern wird, sich erneut dramatisch als Sparprediger in Szene zu setzen, als staatsmännische Retter der vom Untergang bedrohten Heimat.“
Dass der neue LCGB-Präsident ein Gewerkschafter der alten Schule ist, zeigte er aber vor allem mit der Feststellung: „Wir fordern eine Tripartite über die Staatsfinanzen“, wo sich Regierung und Sozialpartner auf Sanierungsmaßnahmen einigen sollten, „die gefunden werden müssen“. Doch trotz der unleugbaren Krise redet bei den anderen Gewerkschaften, in der Regierung und den Unternehmerverbänden niemand mehr von der Tripartite, die „sich ausgelebt“ habe „mit ihrem mediatisierten Begleitspektakel“, wie Jean-Claude Juncker schon vor zwei Jahren feststellte. Mit dem Verschwinden der Tripartite sind die Gewerkschaften aber nun eines ihrer wichtigsten politischen Instrumente beraubt und müssen sich erst einmal nach einer neuen Vermittlungsinstanz zwischen den kleinen Leuten im Betrieb und der großen Politik umsehen.
Romain Hilgert
Catégories: Histoire contemporaine, Relations sociales
Édition: 24.08.2012