Als er 1979 bei der großen politischen Rückkehr der CSV zum Abgeordneten gewählt wurde, entwickelte sich Fernand Rau rasch zum Hoffnungsträger der Christlich-Sozialen. Insbesondere da er als ehemaliger Bankangestellter und Wirtschaftsjournalist die Interessen des Finanzplatzes vertrat. Doch als er den von seinem Premier versprochenen Posten in der Europäischen Kommission nicht bekam, wechselte er 1993 vom wirtschaftsliberalen Flügel der CSV zur Partei der Zukurzgekommenen, zur ADR. Ein Jahr später starb er bei einem Verkehrsunfall. Doch zu dem Zeitpunkt hatte er sich bereits ein Denkmal gesetzt: die Loi Rau, wie bis heute Artikel 129c des Einkommensteuergesetzes genannt wird.
Denn die allseits gelobte „Loi du 27 avril 1984 visant à favoriser les investissements productifs des entreprises et la création d’emplois au moyen de la promotion de l’épargne mobilière“ schien die Zauberformel zu sein, um gleich mehrere wirtschaftspolitische Probleme der Achtzigerjahre zu lösen: Vor dem Hintergrund der sich beschleunigenden Globalisierung sollte sie heimische Spareinlagen für die langfristige Entwicklung der Luxemburger Unternehmen und Arbeitsplätze mobilisieren und Luxemburger Kapital beschaffen, um den „Ausverkauf des Hauses Luxemburg zu stoppen“, wie der ehemalige Wirtschaftsminister Robert Goebbels einmal schrieb. Es war nach der großen Stahlkrise der verspätete Versuch einer nationalen Industriepolitik, als die Europäische Union schon jede nationale Wirtschaftspolitik als unlauteren Wettbewerb auf dem Europäischen Binnenmarkt unter Strafe stellte.
Daneben sollte die Loi Rau im Gleichschritt des neoliberalen Durchmarschs der Margaret Thatcher und Ronald Reagan den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufheben, in dem sie jeden Arbeiter gleichzeitig zum Kapitalisten machte, dem das Wohl der Börse am Herzen liegen musste, weil sein Erspartes mit ihr stieg und fiel. Seither erklärt selbst das populäre RTL-Programm schon morgens um sieben Uhr ausführlich das aktuelle Auf und Ab von Dow Jones, Nikkei und Cac 40. Das von Fernand Rau beabsichtigte Kunststück sollte möglich werden durch einen Freibetrag bei der Einkommensteuer von 60 000 Franken beziehungsweise 120 000 Franken für gemeinsam veranlagte Ehepaare.
Als der Freibetrag vor nunmehr zehn Jahren der Freizügigkeit des Kapitalverkehrs in der Europäischen Union geopfert wurde, hatte sich die Loi Rau als Erfolg und Misserfolg zugleich erwiesen. Das Gesetz hatte Zehntausende Mittelschichtfamilien dazu bewogen, für 60 000 oder 120 000 Franken Sicav-Anteile zu kaufen. Aber ihnen war es weniger um die Förderung der heimischen Unternehmen gegangen und nicht einmal um die Aussicht auf hohe Dividenden, sondern sie wollten bloß Steuern sparen. Weswegen sie die 1 500 oder 3 000 Euro von ihrem Sparbuch abhoben und in eigens von den Schalterbanken dazu angebotene Sicav steckten. Das war auch dem Gesetzgeber aufgefallen, der nachträglich wenigstens zur Bedingung machte, dass die Anteile mindestens vier Jahre lang gehalten werden mussten, damit der Eigentümer in den Genuss des Steuervorteils kam.
Dafür hatte sich aber eine Aktienblase mit den aufgeblähten Kursen der wenigen börsennotierten Luxemburger Unternehmen gebildet, wie Arbed, RTL, SES und die nationalen Schalterbanken. Kleinere oder neue Unternehmen, die tatsächlich Kapital suchten, blieben von dem staatlich bezuschussten Geldsegen ausgeschlossen. Um ein jähes Platzen der Blase zu verhindern, wurde der Freibetrag zwischen 2002 und 2005 schrittweise abgeschafft. Dadurch fiel der Preis einer typischen Loi-Rau-Sicav binnen zwei Jahren um die Hälfte und die entsetzten Inhaber ärgerten sich, dass sie die Papiere machtlos vier Jahre halten mussten, um im Genuss des Steuervorteils zu bleiben.
Als dann auch noch viele Kleinsparer merkten, dass der Kurs ihrer gerade zu einem überhöhten Preis gekauften SES-Anteile gleich nach der Börseneinführung einstürzte und die weltweite Internet-Blase mit all den wohlklingenden Hightech-Fonds platzte, verging ihnen rasch wieder die Lust am Börsenrisiko. So verlor auch der Staat seine Begeisterung für die hierzulande anscheinend unterentwickelte Börsenkultur und gab seine Ambitionen auf, das Wertpapiersparen zum Volkssport zu machen. Als Ersatz für die Freibeträge der Loi Rau wurde, auch im Zuge der Pensionsreform, der Erwerb privater Zusatzpensionen steuerlich gefördert. Zu einem florienden Geschäft wurden auch steuerlich bezuschusste Lebensversicherungen.
Noch heute wird die Loi Rau vielfach als ein wirtschaftspolitischer Geniestreich angesehen, der dem europäischen Wettbewerbsrecht zum Opfer fiel. Aber der Wirtschafts- und Sozialrat hatte schon 2001 über Artikel 129c LIR festgestellt, „qu’il n’a pas réalisé son objectif principal qui a été de drainer, de façon continue, une épargne supplémentaire dans l’économie luxembourgeoise. Au contraire, on a assisté à un effet pervers consistant dans un recyclage fiscalement induit d’une épargne existante, avec comme corollaire, et toutes autres choses égales par ailleurs, un effet de gonflement artificiel de certains cours d’actions luxembourgeois“.