Weil der Forschungsbetrieb nur ein bedingt merkwürdiger ist, übernimmt er unter den lokalen Bedingungen selbstverständlich die bewährte Mischung von Wirtschaftsliberalismus und ideologischem Konservatismus. So huldigt die nach Bologna durchrationalisierte, von Privatunternehmern mitverwaltete und mit externen Audits gebenchmarkte Universität im geistesgeschichtlichen Fach aufopferungsvoll dem konservativen Identitätswahn.
Nach ihrer populärwissenschaftlichen Schrift, Lieux de mémoire au Luxembourg (d’Land, 23.03.07), und deren akademischen Synthese, Inventing Luxembourg (d’Land, 30.07.10), über die nationale Identität befasst sich die Forschungseinheit Identités, politiques, sociétés, espaces (Ipse) in ihrem dritten Buch, Doing Identity in Luxembourg, mit gegenwärtigen „Identitätskonstruktionen unter globalisierten Bedingungen“ (Buchdeckel).
Dazu gehören dann Betrachtungen über die Sprachendebatte in Leserbriefen und mehrsprachige Straßenschilder, die Darstellung des Landes in der Fremdenverkehrswerbung und in der Superjhemp-Serie oder über Meinungsumfragen zu den Geschlechterrollen, den Grenzpendlern und den Essgewohnheiten. Schon die Wahl der Studienobjekte legt den Verdacht nahe, dass dabei manchmal mit akademischen Kanonen auf Spatzen geschossen werden muss.
Doch im Mittelpunkt des Buchs steht „die für die luxemburgische Gesellschaft erstmalige Auseinandersetzung mit sozio-kulturellen Milieus“ (S. 8). Dass wir alle ein kunterbunter Haufen von gehobenen Liberalen und Konservativen, Alternativen, Hedonisten, Status-, Aufstiegs- oder Traditionsorientierten, Kleinbürgern und Unterprivilegierten sind – ohne „Großbürger“ und „Überprivilegierte“ –, war vor einem Monat während einer eigens organisierten Konferenz dargelegt worden (d’Land, 9.7.10).
Diese Form der Milieustudie war vor 30 Jahren von der Heidelberger Marktforschungsfirma Sinus erfunden worden, um gezielt Käufergruppen für verschiedene Produkte auszumachen. „Hedonisten“ wollen nun einmal nach einem moschushaltigeren Rasierwasser riechen als „gehobene Konservative“. Einen Teil der wissenschaftlich klingenden Terminologie hat die Firma sich als eine Art Markennamen schützen lassen.
Als die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) dann beschloss, lieber Marketing als Politik zu machen, nahm sie Sinus für ihren Wahlkampf unter Vertrag und fiel von 42,9 auf 38,2 und dann 37 Prozent. Dass dennoch manche Soziologen diese Marketingtechnik bereitwillig aufgriffen und als Wissenschaft ausgaben, hatte viel mit den Bedingungen des Kalten Kriegs in Westdeutschland und dem Bestreben zu tun, eine von jedem Verdacht einer Klassengesellschaft gesäuberte, also garantiert nicht ostdeutsch infizierte West-Soziologie zu liefern.
Folglich drängen sich die Sinus-Milieus zur Beschreibung der Luxemburger Gesellschaft auf. Denn sie stellen die Gesellschaft in Zeiten wieder zunehmender sozialer Unterschiede nicht politisch despektierlich als vertikal hierarchisierte Pyramide dar, sondern als horizontal vereinigten, also politisch befriedeten Familienkreis von Konsumenten.
Dass im CSV-Staat die Erde eine Scheibe ist ohne Oben noch Unten, ohne Arm noch Reich, ohne Mächtig noch Ohnmächtig, entspricht dem Bild, das die Obrigkeiten zu malen pflegen, und die DP verkündete schon im Wahlkampf, dass nur die Mittelschicht zählt. Doch nun liefert Ipse mit der unvermeidlichen TNS-Ilres-Umfrage die entsprechende Sinus-Kartoffelgrafik (S. 52) nach, einmal wolkiger, einmal eiförmig, als wissenschaftlichen Beweis, dass sich sämtliche politischen und ökonomischen Machtverhältnisse in Wohlgefallen aufgelöst haben. Dass der mitgelieferte Modernisierungs- und Marketingjargon seit dem Krach von Lehman Brothers stellenweise befremdlich klingt, ist Künstlerpech.