Der Anwalt lässt sich in einem schweren Geländewagen vor den Panzersperren der Justizstadt absetzen. Von dort bewegt er seine imposante Statur über den Hof, in das Gerichtsgebäude hinein und hoch in den ersten Stock, zu den Verhandlungssälen. Im alten Justizpalast, wo diese Woche der Außenminister eingezogen ist, konnte es vorkommen, dass er –Bam! – die Türen mit so viel Karacho aufschlug, dass Richter, Verhandlungsparteien und Zuhörer vor Schreck zusammenzuckten, er laut redend herein marschierte, um festzustellen, dass er sich im Saal geirrt hatte und lauthals fluchend auf dem Absatz Kehrt machte. Drinnen herrschte verdutztes Schweigen, bis die Tür hinter der Erscheinung, die nur wenige Sekunden dauerte, zufiel.
In der neuen Justizstadt geht das nicht. Dazu sind die Türen zu schwer und die Sicherheitsscharniere, die die schweren Türen bremsen, zu neu. Das Mobiliar ist zu klobig und steht so eng, dass selbst der magerste Jurist sich nur unter größeren Anstrengungen zu einem Sitzplatz begeben kann. Das stört den Anwalt nicht, er kann sich auch hier bemerkbar machen, wenn er zu seinem bevorzugten Platz, ganz vorne neben dem Rednerpult, geht. Wenn er sich bedächtig an Stühlen und Tischen vorbeischiebt, füllt er nicht nur die jeweilige Reihe, er füllt den ganzen Raum. Er legt seinen Mantel hierhin, seine Akten dahin, bis sich niemand seiner Anwesenheit entziehen kann.
Der Anwalt hält nicht viel von der Höflichkeit, mit der die chers confrères untereinander und mit dem vorsitzenden Richter umgehen. Seine Einwürfe entfahren ihm, sowie sie ihm durch den Kopf gehen. Der Anwalt wartet nicht auf das Wort, er nimmt es sich. Er steht nicht auf, um Zeugen zu befragen. Er befragt sie auch nicht wirklich. Er kommentiert, macht Vorwürfe. Er redet dazwischen und schüchtert ein. Das gelingt ihm auch im Sitzen hervorragend. Hinter ihm warten die Würdenträger der Anwaltschaft, die er unterbrochen hat, stehend, bis er fertig ist. Der Richter lässt ihn gewähren. Die Confrères auch. Wie die Erwachsenen, die warten, bis das Kleinkind seinen Tobsuchtanfall von sich aus übersteht, weil sie wissen, dass jedes Eingreifen eine neue Wutwelle auslöst.
Der Anwalt unterhält sich ungeniert mit seinem Mandanten, während der Richter einen Zeugen befragt. Der Richter kann das nicht weiter ignorieren, weder er noch sonst wer im Raum kann die Verhandlung hören. Schon gar nicht die Übersetzerin, die dafür sorgen soll, dass alle Angeklagten ihrem fairen Prozess zuhören können.
Der Richter fordert den Anwalt nicht auf, still zu sein. Er fordert ihn auf, leiser zu sprechen. Angesichts so viel richterlichen Muts atmen die Anwesenden vor Spannung scharf ein. Die gebannten Blicke ruhen auf den akkurat sitzenden Locken am Hinterkopf des Anwalts.
Auf ihn ist Verlass. Er explodiert in einen Redeschwall. Er entschuldigt sich nicht. Er erklärt, seine Stimme sei von Natur aus lauter als die des Richters; nicht seine Schuld. Der Richter ermahnt ihn, den Prozess nicht zu stören. Aber der Anwalt kann jetzt nicht nachgeben. Er redet einfach weiter. Nach einem Räuspern ein paar Dezibel lauter. Hätten alle, die bei Gericht antreten, ein derart kräftiges Organ, wäre nie aufgefallen, dass der Architekt der Justizstadt in einem funktionierenden Rechtsstaat mehrere Jahre wegen krimineller Fehlplanung absitzen müsste.
Eine neue Wendung im Prozess: Einer der Verteidiger reicht ein neues Beweisstück ein, das möglicherweise von der Schuld seines Mandanten ablenkt. Noch bevor die Richter zur Beratung aus dem Saal sind, steht der Anwalt trotz klobiger Möbel flink wie ein Wiesel vor den Gerichtsreportern. Er schwenkt die Unterlagen verheißungsvoll vor ihnen hin und her, wie ein Hypnotiseur das Pendel. Mit schnurrender Stimme erklärt er, das Dokument belege etwas, was daraus ganz offensichtlich überhaupt nicht hervorgeht. Das stört ihn nicht, da ihm niemand widerspricht.
Wenn der Anwalt plädiert, hält er sich am Pult fest. Er tritt als erster an. Der Anwalt bemüht oft das Absolute. „Jamais“, „toujours“. Schnell mischen sich ein paar Kraftausdrücke unter. Und ein bisschen Latein, um seinen beflügelten Intellekt zur Schau zu stellen. In einem heiseren Crescendo arbeitet er sich auf den Skandal im Kern der Sache vor, dem zersetzen Staat. Fast bricht die Stimme.
Dann ist er fertig. Er packt seine Sachen und geht mit wehender Robe hinaus. Das war’s. Ende der Vorstellung. Der Mandant ist zufrieden in der Gewissheit, für sein Geld eine gute Votrstellung bekommen zu haben. Die Reporter sind zufrieden. Sie haben etwas zu berichten. Die zuhörenden Rentner sind zufrieden. Eine derartige schauspielerische Leistung gibt es im Theater nicht jeden Tag zu sehen.
Michèle Sinner
Kategorien: Stil
Ausgabe: 24.02.2017