Durch den Schnee auf dem Gelände des stillgelegten Stahlwerks von Schifflingen ziehen sich Tierspuren. Die Abdrücke von Katzen-, aber auch Hasen- und Fuchspfoten. Aus der dünnen weißen Schicht stechen Gras und Gestrüpp hervor. Die Natur fordert das Terrain zurück. Im Herbst 2011 wurde die provisorische, zeitlich begrenzte Einmottung beschlossen, das Elektrostahlwerk und der Train à Laminés marchands (TLM) noch vor Jahresende stillgelegt. Ein Jahr später stellte auch die Drahtstraße den Betrieb ein. Schlussklappe für den Standort, an dem seit 1872 Stahl gekocht und weiterverarbeitet wurde.
Zum Zeitpunkt der Stilllegung waren in Esch/Schifflingen 550 Mitarbeiter beschäftigt, sie haben alle eine neue Anstellung gefunden, sagt Nicolas Martinussen, der seither für das Gelände verantwortlich ist. Ein Dutzend Wächter sind jetzt noch dort beschäftigt, zwei „Wissende“, die sich mit den Anlagen auskennen, sind noch da. Und: ein ehemaliger Personaldelegationsvorsitzender. Vor den Räumlichkeiten der Delegation sind die blau-roten Überreste einer abgewetzten OGBL-Fahne im Schnee zu erkennen. Der OGBL hatte nach der vorläufigen Schließung einen Vorschlag ausgearbeitet, wie ein rentabler Betrieb der Anlagen zu gewährleisten wäre. Dass es durchaus möglich sei, durch geringfügige Investitionen und Veränderungen rentabel zu produzieren, hatte ein von der Regierung im Rahmen der Stahltripartite beauftragtes Expertenbüro bestätigt. Doch in der Aufregung um den Geheimdienstskandal ging diese Nachricht unter, und da Arcelor-Mittal die definitive Schließung bis Februar vergangenen Jahres hinauszögerte, konzentrierten sich die Sozialpartner bei der Verhandlung des Stahlabkommens auf die Sicherung der anderen Standorte im Land.
Vorsorglich ließ das nationale Denkmalschutzamt (SSM) den alten Wasserturm der Metzeschmelz bereits im Sommer 2012 zum Denkmal erklären. Es ist die einzige Struktur auf dem Gelände, die offiziell als schützenswert gilt. Die anderen leeren sich. Noch bevor Arcelor-Mittal vor einem Jahr aus der vorläufigen eine endgültige Schließung machte, waren die Reste des ehemaligen Stahlwerks demontiert worden, das Anfang der Neunziger durch das Elektrostahlwerk ersetzt wurde. Das hatte für Aufregung in den Anrainergemeinden gesorgt. Die Überreste der alten Gusseisen-Behälter stehen einsam auf offenem Gelände auf ihren Sockeln, wie die Karkasse eines riesigen vorzeitlichen Tieres.
Die langen Hallen daneben wirken wie ausgenommen. Die Walzstraßen sind abmontiert. Teile der Drahtstraße sind in Arcelor-Mittal-Werke in Hamburg und der Tschechischen Republik gegangen. Andere nach Spanien. Vor einem Jahr berichtete das Hamburger Abendblatt, das Stahlwerk Hamburg investiere 16 Millionen Euro, um die dortige Drahtstraße zu modernisieren: „So sollen der Standort und die gut 550 Arbeitsplätze für die nächsten Jahre abgesichert werden.“
In Schifflingen haben Geschichtsfreunde von Arcelor-Mittal ein paar Räume gemietet. Sie stellen Memorabilien aus über 100 Jahren Stahlproduktion aus, darunter eine Tafel mit kaputten Sicherheitsbrillen, die mit auf der Schreibmaschine getippten kleinen Zetteln versehen sind. „Schranke kam runter. Kleine Beule“, steht beispielsweise darauf. Anschauungsmaterial für die Sicherheitsausbildung, um den Arbeitern zu verdeutlichen, warum die Brillen getragen werden müssen.
40 000 Tonnen Material wurden bisher abmontiert, erklärt Martinussen. Die Teile, die nicht in anderen Werken der Gruppe genutzt werden können, werden recycelt. Die Anlage aus Schifflingen wird in Belval und Differdingen zu Spundwänden und Trägern verarbeitet.
Als die Regierung und die Entwicklungsgesellschaft Agora vor einem Jahr ankündigten, Letzere erhalte den Auftrag zu analysieren, wie das Gelände umfunktioniert werden könne, gab es ebenfalls Aufregung in den Anrainergemeinden Esch und Schifflingen – den jeweiligen Gemeinderäten hatte man von dieser Entscheidung nichts mitgeteilt. Agora gehört zu gleichen Teilen Arcelor-Mittal und dem Luxemburger Staat. Schifflingen war in den Begleitgremien der Gesellschaft bis dahin gar nicht vertreten. Esch hat bei der Entwicklung von Belval nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Um das Versäumnis aufzuholen, traf sich kurz darauf ein halbes Dutzend Minister mit den Bürgermeistern Roland Schreiner und Vera Spautz (beide LSAP). Neue Begleitkomitees wurden gegründet, ein strategisch-politisches und ein technisches. Zweimal hat sich das strategische Komitee seither getroffen, zuletzt vergangenen Dezember. Schreiner und Spautz sind nun zufrieden, dass sie „auf Augenhöhe“ mitdiskutieren und -entscheiden können und ihre „Anliegen ernst genommen“ werden.
Eines ihrer Anliegen besteht darin, sich bis zu den anstehenden Gemeindewahlen positionieren zu können. Als der Standort Esch/Schifflingen vergangenen Februar der Agora anvertraut wurde, behielten die Beteiligten einen Zeitplan zurück. Demnach sollten binnen 24 Monaten alle Studien zur Betriebseinstellung und zur Entwicklung des Standortes vorliegen, damit schnell über die Umsetzbarkeit eines Konzeptes entschieden und binnen 36 Monaten ein Archtitekten-Wettbewerb ausgelobt werden kann. „Si accord de toutes les parties prenantes, mise en œuvre du concept retenu – Mois 36 et suivants“, heißt es in den Unterlagen.
Für das 62 Hektar große Areal, zu dem neben dem Produktionsstandort Teile des Schlassgoart, sowie sieben Hektar Fläche, die dem Eisenbahnfonds gehören, soll Agora eine urbanistische Studie anfertigen lassen, eine umwelt-historische, eine Biotopen-Bilanz erstellen, Wasserläufe analysieren, die Transportanschlüsse untersuchen sowie die bestehende Infrastruktur und die Anbindung an Energienetze. Darüber hinaus soll die sozio-ökonomische Situation analysiert werden sowie die Lage auf dem Immobilienmarkt.
Agora, sagt Verwaltungsdirektor Yves Biwer, ist dabei, die Lastenhefte für die verschiedenen Studien auszuarbeiten, damit die Expertenbüros, welche die Studien durchführen sollen, kurzfristig ausgewählt werden können. „Bis Ende des Jahres“, so Biwer, „soll der Ist-Zustand erfasst sein.“ Als „serré“, beschreibt Schreiner das Timing. Er ist aber optimistisch, dass er gegenüber seinen Wählern im Herbst eine Aussage machen kann.
Zwei zusammenhängende Aspekte riskierten schon im Vorfeld für neue Reibungen zu sorgen: die Sanierung und die Rentabilität. Vor allem um die Sanierung und die dafür anfallenden Kosten hatte es bei der Konversion von Belval viel Aufregung gegeben. Unter anderem das Mouvement écologique und déi Gréng hatten Arbed/Arcelor damals Intransparenz über die tatsächliche Bodenbelastung vorgeworfen, und dass die Sanierungskosten auf die Allgemeinheit abgewälzt würden.
Unter der Überschrift „Focus assainissement“ heißt es in den Unterlagen: „Agora établira un plan d’assainissement en fonction du futur concept d’urbanisation retenu par toutes les parties prenantes ceci en observant la législation et les règlementations en vigueur. Si la faisabilité du projet est établie, l’assainissement sera financé par le développement. Au cas contraire, Agora sera remboursée de ces frais encourus et chaque propriétaire assumera ses obligations.“
Wie man sich das vorstellen soll, erklärt Patrick Nickels, der das Wirtschaftsministerium im Verwaltungsrat von Arcelor-Mittal Rodingen-Schifflingen vertritt, in etwa wie folgt. Wenn klar ist, was an den verschiedenen Stellen des insgesamt 62 Hektar großen Gelände entstehen soll – Wohnungen, Bürogebäude, ... – werde der jeweilige Sanierungsbedarf festgestellt und analysiert, „wie groß das Delta ist“. Besagtes Delta ergibt sich dabei also aus dem potenziellen Erlös des Grundstücks, der je nachdem (Wohnungen, Bürogebäude) unterschiedlich hoch ist, und dem notwendigen Sanierungsniveau, beziehungsweise der dabei entstehenden Kosten. Vereinfacht soll das heißen: Werden Wohnungen gebaut, kommt viel Geld rein. Doch weil der Sanierungsbedarf dann besonders hoch ist, entstehen auch mehr Kosten. Geht die Rechnung nachher nicht auf? „Chaque propriétaire assumera ses obligations.“ Arcelor-Mittal Sprecher Pascal Moisy ist formell: „Das Verursacherprinzip ist in Luxemburg gesetzlich verankert. Wir wenden das Gesetz an. Auf die eine oder andere Art, wird Arcelor-Mittal für die Sanierung zahlen.“ Von den paar Hektar abgesehen, die dem staatlichen Eisenbahnfonds gehören, ist Arcelor-Mittal Eigentümer der Grundstücke. Doch können sich Stahlkonzern, Staat und Gemeinden auf ein Entwicklungskonzept einigen, soll die Agora die Rolle der Entwicklungsgesellschaft übernehmen, also sanieren und dies mit den Erlösen aus den Grundstücksverkäufen bezahlen.
Ob es also eine gewisse Logik hätte, wenn auf Industriegelände neue Industrie entstehen würde? Neue Schwerindustrie wollen beide Gemeinden dort nicht ansiedeln. Vom Stahlwerk sieht man auf das Industriegebiet Um Monkeler und das dortige Zementwerk. Vor zwei Jahren entwickelte sich der geplante Bau eines Asphaltwerks zur traumatischen Erfahrung für alle Beteiligten. „Das wollen wir nicht“, sind sich Schreiner und Spautz einig. Aber gegen Handwerks- oder Dienstleistungsbetriebe haben sie keine Einwände, die Nachfrage von Unternehmen nach Räumlichkeiten bestehe.
Das Areal Esch/Schifflingen ist nur halb so groß wie das von Belval. Um Belval zum Erfolg zu machen, war vor mehr als zehn Jahren beschlossen worden, Teile der Uni dort anzusiedeln, damit sich in ihrer Umgebung Forschungszentren, Start-Ups, Studenten und Lehrpersonal niederlassen würden. Ob man ein solches Zugpferd auch für Schifflingen braucht? „Eines zu haben, ist sicherlich nicht schlecht“, sagt Schreiner, „aber es ist keine Bedingung für den Erfolg.“ Dabei war es vor allem der staatlich finanzierte Bau öffentlicher Gebäude, der über den Erwerb der Gründstücke Geld in die Kassen der Agora brachte. Geld, mit dem sie die Weiterentwicklung von Belval und auch die Studien für Esch/Schifflingen vorfinanziert.
Für die Escher Bürgermeisterin Vera Spautz ist bei der Konversion von Esch/Schifflingen die Schaffung neuen Wohnraums eines der Hauptanliegen. Die Bevölkerung wächst, 2005 zählte Esch 28 746 Einwohner, Ende 2016 waren es 34 500. Aber die Stadt, sagt Spautz, ist zwischen der Grenze zu Frankreich und den Industriebrachen eingeklemmt, die deshalb die einzige Möglichkeit zur Ausdehnung sind. In Belval und den Nonnewisen entstanden in den vergangenen Jahren Wohnungen und Einfamilienhäuser. An beiden Standorten wird in den kommenden Jahren beziehungsweise Jahrzehnten weitergebaut werden, unabhängig davon, was in Esch/Schifflingen entschieden wird.
Daneben könnte es auf dem Gelände Terres Rouges ebenfalls in einer nicht allzu fernen Zukunft Bewegung geben. Terres Rouges gehörte neben Belval und den Schlackenhalden von Ehleringen und Rodingen zu den vier prioritären von insgesamt zehn ehemaligen Industriestandorten, deren Rekonversion im Rahmen der Agiplan-Studie Ende 1998 vorgesehen war und die zur Gründung der Agora führte. Zusammen ergeben die Flächen der Lentille und der Schlackenhalde von Terres Rouges eine Fläche von 39 Hektar. Für Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) war die Entwicklung von Terres Rouges als Escher Bürgermeisterin eine absolute Priorität, weil das Areal direkt ans Stadtzentrum von Esch grenzt. Aber aus dem geplanten Kauf der Kraftwerks durch die Stadt und dessen Umwandlung in eine Kultureinrichtung wurde ebensowenig wie aus dem Neubau des Lycée Hubert Clement. Arcelor bestand darauf, dass vor einer weiteren Nutzung die Schlacke im Straßenbau verwertet würde. Das Tiefbauunternehmen Cloos, das 2008 den Zuschlag für den Abbau der Schlackenhalde erhielt, komme damit viel schneller voran als geplant, sagt Luc Everling von der Gemeindeverwaltung Esch, so dass die Halde in zwei Jahren abgetragen und eine Erschließung möglich sei.
Was die Stadt aus dem Experiment Belval für die eventuelle Rekonversion von Esch/Schifflingen gelernt hat? Vera Spautz fällt einiges ein. Wenige Wochen nach der Eröffnung der Liaison Micheville staut es täglich im Rond-Point Raemerich. „Das Mobilitätskonzept muss vor der Entwicklung stehen.“ In den Diskussionen um den Fahrradweg, der Belval mit dem Stadtzentrum verbinden soll, spielen sich Arcelor-Mittal und CFL gegenseitig den Ball zu, berichtet Spautz. Bis das Spiel aufhört, gibt es keine direkte Verbindung zwischen der neuen und der alten Stadt. Die Bürgermeisterin bedauert außerdem den Mangel an grünen Flächen zwischen den Neubauten in Belval, die zur Belebung des Stadtteils beitragen würden. Doch nach der Erstellung des Masterplans hätten die Gemeinden bei der Vergabe der Baugenehmigungen an solchen Aspekten nicht mehr viel ändern können. Solche Fehler, da sind sich die Beteiligten einig, will man in Esch/Schifflingen vermeiden.