In vier Wochen soll das Parlament vorzeitig aus dem Sommerurlaub zurückkehren, um am 15. September zu einer außerplanmäßigen Sitzung zusammenzukommen, noch vor Beginn der neuen Session am 11. Oktober. Einziger Punkt der Tagesordnung soll die Erhöhung der Luxemburger Bürgschaft für den europäischen Stabilitätsfonds von 1,15 auf zwei Milliarden Euro sein. Die Erhöhung war am 25. Juni vom Europäischen Gipfel beschlossen worden und soll nun, auch unter dem Druck der internationalen Börsen, so schnell wie möglich in die Tat umgesetzt werden.
Zwar wurde mit der Urlaubspause des Parlaments die laufende Ses[-]sion keineswegs beendet. Denn die Session wird erst am zweiten Dienstag im Oktober geschlossen, wenn die neue Session gleich anschließend eröffnet wird. So wird unter anderem gewährleistet, dass die Abgeordneten auch während des Sommerurlaubs Diäten beziehen. Aber solche außerplanmäßige Sitzungen sind doch selten.
Doch bräuchte das Parlament überhaupt vorzeitig zusammenzukommen? Geht man davon aus, dass die Schuldenkrise im Euro-Raum eine „internationale Krise“ ist, dann könnte die Bürgschaft auch über ein großherzogliches Reglement entsprechend Artikel 32 der Verfassung erhöht werden: „Toutefois, en cas de crise internationale, le Grand-Duc peut, s’il y a urgence, pendre en toute matière des réglements, même dérogatoires à des dispositions légales existantes. La durée de validité de ces réglements est limitée à trois mois.“ Am Parlament wäre es dann, bis November die provisorische Erhöhung der Bürgschaft durch ein Gesetz zu ratifizieren.
Seit einem Jahrhundert wird darüber diskutiert, wie die repräsentative Demokratie in Krisensitua[-]tionen reagieren soll. Denn die parlamentarischen Prozeduren, welche den Respekt demokratischer Prinzipien gewährleisten sollen, brauchen manchmal Zeit, während autoritäre Entscheidungen oft schneller sind. Die politische Frage lautet also immer, auf wie viel Demokratie das Parlament verzichten soll, damit die Regierung im nationalen Notfall rasch handeln kann.
Die Gesetzgebung, mit der das Parlament in Krisenzeiten Vorrechte an die Regierung abtritt, entstand im Ersten Weltkrieg. Damals verabschiedete das Parlament das „Gesetz vom 15. März 1915, welches der Regierung die nötige Befugnis erteilt zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen des Landes während des Krieges“. Es erlaubte der Regierung, „durch öffentliche Verwaltungsreglemente die nötigen Maßnahmen“ anzuordnen, „um auf wirtschaftlichem Gebiet das allgemeine Interesse zu wahren“, und sah bei Zuwiderhandlung Strafen bis zu drei Jahren Gefängnis und Geldbußen bis zu 3 000 Franken vor. Gleich am Tag seines Inkrafttretens verfügte die Regierung „die Beschlagnahme der Brotgetreide- und Mahlvorräte, des Hafers und der Gerste im ganzen Land“.
Obwohl das Gesetz laut Artikel vier „am Schlusse des Krieges“ außer Kraft treten sollte, nutzte die Regierung es jahrzehntelang weiter, etwa zur jährlichen Festsetzung der gesetzlichen Sommerzeit, im Februar 1924 zum Kampf gegen den Anstieg der Lebensmittelpreise oder für einen großherzoglichen Beschluss vom 13. März 1934 zur Regelung von „Handelsschulden mit Griechenland“... Erst 1935 entschloss sich das Parlament im Zuge der Weltwirtschaftskrise, ein neues „Gesetz vom 10. Mai 1935, betreffend die Festsetzung der Kompetenz der Exekutivgewalt in Wirtschaftsangelegenheiten“ zu verabschieden.
Dabei zeigte sich der sozialistische Abgeordnete René Blum als entschiedener Gegner des Vollmachtenprinzips, weil ein solcher Freibrief für die Regierung in ein „autoritäres Regime“ zu führen drohe. Immerhin nahm die Regierung Bech zur gleichen Zeit nicht nur eine Anleihe über 50 Millionen Franken zur Finanzierung von Notstandsarbeiten durch Arbeitslose auf, sondern bereitete auch das Maulkorbgesetz vor. Das Vollmachtengesetz von 1937 sah schon nicht mehr die „Festsetzung“, sondern schon die „Ausdehnung der Exekutivgewalt der Regierung“ vor.
Mit dem Gesetz von 1935 wurde das Prinzip der jährlichen Erneuerung des Vollmachtengesetzes eingeführt. Das 1939 zwei Tage vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verabschiedete Vollmachtengesetz sah jedoch keine zeitliche Befristung vor, so dass es die gesetzliche Grundlage der Regierung während ihres Exils und bis zu den ersten Wahlen nach der Befreiung darstellen sollte. Doch im Januar 1960 warf aus[-]gerechnet der christlich-soziale Berichterstatter Georges Margue vor dem Parlament der aus dem Exil zurückgekehrten Regierung von CSV und Sozialistischer Arbeiterpartei vor, sich nicht einmal mehr an das Vollmachtengesetz gehalten zu haben, sondern mit Erlassen regiert zu haben, „qui eux accordaient vérita[-]blement des pouvoirs dictato[-]riaux“ und erlaubten, „de faire presque n’importe quoi sans avoir à suivre la procédure prévue par les lois d’habilitation“. Jedenfalls schrieben die Vollmachtengesetze künftig der Regierung als demokratische Sicherheit vor, Gutachten des Staatsrats und des parlamentarischen Arbeitsausschusses einzuholen.
Ab 1946 verabschiedete das Parlament jedes Jahr kurz vor Weihnachten ein Gesetz, das der Regierung für das Folgejahr Vollmachten für Notsituationen erteilte. Immer nach demselben Ritual: Die Regierung beteuerte, dass sie die Vollmachten nicht zu missbrauchen gedenke, die Opposition stimmte gegen das Gesetz, weil sie kein Vertrauen in die Regierung habe.
Während das Prinzip, in Krisenzeiten ein Stück Demokratie der Effizienz zu opfern, zumindest von den regierungsfähigen Parteien nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, herrschte immer Unklarheit über die Stellung der durch das Vollmachtengesetz erlassenen Reglemente in der Hierarchie der Rechtsnormen. Schließlich sind es Reglemente in Ausführung eines Gesetzes, die andere Gesetze außer Kraft setzen können. 1998 änderte der Staatsrat dann nach Jahrzehnten seine Meinung und legte im offenen Streit mit der Regierung plötzlich formellen Einspruch gegen Strafbestimmungen in solchen Reglementen ein, weil sie gegen die Verfassung verstießen. Worauf das Parlament dann im Jahr 2004 die eingangs zitierte Vollmachtenbestimmung in die Verfassung schrieb.
Der 2009 im Parlament hinterlegte Entwurf für die große Verfassungsrevision übernimmt unverändert diese Bestimmung. Obwohl der Gesetzgeber spätestens seit der Verfassungskrise um das Euthanasiegesetz darauf bedacht ist, die Befugnisse des Großherzogs einzudämmen, bleibt auch der Revisionsentwurf dabei, ausdrücklich dem Großherzog die Vollmachten zu erteilen, während das Gesetz von 1915 sie „der Regierung“ und das von 1935 „der Exe[-]kutivgewalt“ erteilt. Erst 1960 erkannte das Parlament nicht mehr der Regierung, sondern dem Großherzog Vollmachten zu, weil der Großherzog die Exekutive verkörpere und die Regierung sie ausübe, wie der Berichterstatter zum Gesetz erklärte.
War das Vollmachtengesetz zur Wahrung „der wirtschaftlichen Interessen“ von 1915 eine Reaktion auf die Versorgungskrise im Ersten Weltkrieg und dasjenige von 1935 „in Wirtschaftsangelegenheiten“ eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, wurden diejenigen von 1938 und 1939 im Zeichen der Kriegsgefahr auf die Wahrung der Staatssicherheit ausgedehnt. Mit dem Vollmachtengesetz vom 27. Februar 1946 sollte dann der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg vereinfacht werden. Die Verfassungsänderung von 2004 stand unter dem Eindruck der Terrorismushysterie nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA und beschränkt Vollmachten deshalb auf den Fall „internationaler Krisen“. So dass beispielsweise Naturkatastrophen oder Seuchen im Inland, welche staatliche Institutionen lahm legen könnten, ausgeschlossen sind.
Wurde das Vollmachtengesetz vor[-]übergehend dafür gebraucht, die Wechselkurse zu beeinflussen, Dringlichkeitsbeschlüsse im Interesse des Finanzplatzes umzusetzen oder von ihren Versicherern im Stich gelassenen Fluggesellschaften Bürgschaf[-]ten zu gewähren, so dienten sie in den vergangenen Jahren vor allem dazu, Sanktio[-]nen gegen den Irak, Serbien, Montenegro, Libyen und andere zu Schurkenstaaten erklärten Ländern zu verhängen. Wobei es zweifelhaft ist, ob Out-of-area-Interven[-]tionen der Nato tatsächlich eine die nationale Wirtschaft oder Sicherheit bedrohende Krise im Sinne der Vollmachtengesetze darstellen.
Da entspräche die aktuelle Gefährdung der Landeswährung durch die Schuldenkrise im Euro-Raum schon eher dem Sinn der Vollmachtenregelung. Trotzdem gibt es wohl zwei ausschlaggebende Gründe dafür, dass die Erhöhung der Bürgschaft für den europäischen Stabilitätsfonds nicht bis zum Beginn der nächsten Kammersession über ein Reglement gemäß der Vollmachtenregelung der Verfassung, sondern durch ein ordentliches Gesetz geschehen soll: Die Dringlichkeit ist einerseits nicht so groß, da die Prozedur in ande[-]-ren europäischen Ländern ebenfalls noch Wochen brauchen wird. Andererseits leidet die europäische Währungspolitik ohnehin unter einer mangelnden demokratischen Legitimirung und die Umgehung des Parlaments bei der Zuteilung einer Milliardensumme würde sicher zusätzliches Misstrauen in der Öffentlichkeit schüren.