Das Fenster steht offen; Autos hört man wenige, Flugzeuge keine, Menschengeplapper selten; ein Federvieh krächzt jedoch lauter als gewöhnlich, der Kolkrabe. Mit ihrem schwarz-metallisch glänzenden Gefieder fliegen die Raben von einem Ast zum andern, von Dach zu Dach. Sie sind gerade beschäftigt: mit Flirten, mit analogem Tinder, mit einander-den-Hof-Machen. Übersetzt in die Rabenwelt heißt dies, sie trumpfen mit Flugakrobatiknummern auf, sind laut, wollen auffallen. Oft müssen Kolkraben allerdings nicht um einen neuen Partner buhlen, mit der Polyamorie haben sie es nicht so, sie leben monogam.
Kolkraben pflegen Sympathien und Antipathien zu Artgenossen und können nach Jahren der Trennung FreundInnen wiedererkennen. Vor allem Singles verabreden sich untereinander und ziehen gemeinsam um die Häuser, Wälder, Felder. Ein Gedächtnis für triadische Beziehungen haben sie auch: Sie wissen, in welcher Beziehung ihre Artgenossen zueinanderstehen. Mit befreundeten Raben steht man in Konflikten zusammen, den andern aber stibitzt man gelegentlich die Nahrung vor dem Schnabel weg. Der Fachname für Rabenvögel lautet Corvidae; wer ihnen beim Durch-die Lüfte-Gleiten zusieht, ist also für ein paar Momente mit Corvidae statt Covid beschäftigt.
Neben der bis Ende März anhaltenden Balz hat zugleich die Brutzeit bereits im Februar begonnen. Die ersten Nesthocker – blind und nackt geborene Vögel – wollen gefüttert werden, auch sie krächzen. Die Hälfte von ihnen überlebt das kommende Jahr nicht. Wer die vielen Hürden der Kindheit übersteht, wird jedoch im Freiland in der Regel 30 Jahre alt sowie eine Flügelspannweite von etwa 120 Zentimetern erzielen. Einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus werden sie allerdings nicht ausbilden, das biologische Geschlecht ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen.
Ob den Raben derzeit auffällt, dass bei den Menschen die sozialen Gewohnheiten wegen Covid gerade Kopf stehen; dass viele Menschen mit zwei Metern Abstand nebeneinander spazieren gehen, dass weniger Autos rumfahren, dass die Fußgängerzonen leer sind? Raben sind im Ausdeuten anderer Tiere gewieft. Bereits Jungtiere testen ihre Grenzen im Umgang mit Raubtieren aus, sie kneifen Wölfen in den Schwanz und versuchen herauszufinden, wann ihre Provokationen lebensgefährlich werden. Zweckfrei ist das Gepöbele nicht; Raben laben sich gerne an der Beute anderer, wollen von der Beute anderer schmarotzen. Um fremde Beute zu ergattern, lernen sie früh, Raubtiere zu piesacken und abzulenken. Finden Raben einen Kadaver, wird die Information über ihren Nachrichtendienst verbreitet und Artgenossen eilen über eine Distanz von bis zu hundert Kilometern zum Pop-up-Restaurant herbei. Dabei kommt es vor, dass die Schlauesten lieber für sich arbeiten lassen, nach der Plünderaktion die Futterverstecke von ihresgleichen ausspähen und sich dort genüsslich bedienen.
Gut möglich, dass den Raben auffällt, dass Menschen in den letzten Wochen anders agieren. Stadtraben wundern sich also vielleicht vor allem über eins: Warum ist der Privatkompost hinter dem Haus gefüllter als sonst und die Restaurantmülltonne leer? Als gute Beobachter fällt ihnen womöglich der in einer Schieflage stehende Alltag der Homo sapiens auf. Der Grund für die Umstellung bleibt ihnen jedoch verschlossen; dabei kennen sie das auch: Probleme mit Parasiten, Viren, Bakterien.
Raben haben kein Spatzenhirn. Sie wissen, dass andere Raben eine andere Perspektive auf die Welt haben, sie können Absichten, Gefühle und Bedürfnisse bei anderen Wesen vermuten. Sie haben, was die Kognitionswissenschaftler eine „Theory of Mind“ nennen, daran zweifelt der Österreicher Thomas Bugnyar, der bekannteste Rabenforscher, nicht. Gemeinsam mit einem weiteren Kognitionswissenschaftler, Stephan Reber, und dem Philosophen Cameron Buckner hat Bugnyar 2016 Studienergebnisse publiziert, die nahelegen, Kolkraben (Corvus corax) könnten die Perspektive von Artgenossen auch in Situationen abschätzen, in denen sie sich nicht an den Kopf- oder Augenbewegungen der anderen orientieren konnten. Deshalb konnte das Forscherteam in ihrem Untersuchung ausschließen, dass Raben sich nur an Reizen orientieren würden und bloß „behaviour readers“ seien. Den Forschern zufolge ist klar, dass Raben sich den subjektiven Standpunkt eines anderen Lebewesens vorstellen, also „mind readers“ sind. Kognitionstechnisch flögen unter unserem Himmel Affen oder zweijährige Menschenkinder.
Ein weiteres Zeichen für die Intelligenz der Raben ist ihr Spieltrieb und ihre Neugierde: Sie rodeln Schneehügel oder Sanddünen herab, spielen mit Gegenständen, schaukeln kopfüber an einem Ast. Das Vogelhirn ist nicht leistungsschwächer als das von Säugetieren. Überdies beherrschen sie nicht nur das „Kraa kraa“, sondern über 30 Ruftypen: Sie ahmen gern den Gesang anderer Vögel nach, im Internet lassen sich Raben aufrufen, die Hundegebell imitieren und beispielsweise „Hello“ aussprechen können. Die Hirnzellen sind in dem nussgroßen Gehirn einfach kompakter gelagert und vieles deutet auf eine effizientere Verschaltung hin.
Erst seit den 1990-ern erforscht man die Intelligenz und das Sozialleben von Nicht-Primaten verstärkt. Die Tierverhaltensforschung war im 20. Jahrhundert vor allem vom Behaviorismus geprägt, der mit Reiz-Reflex- und Instinktmodellen arbeitete. Fragen zum Innenleben von Tieren blieben außen vor, Vermenschlichungen wurden als besonders sentimental und daneben betrachtet. Das steht allerdings nicht in der Tradition von Charles Darwin. Sein Ansatz war es, zu anthropomorphisieren, um sprachlich die Verwandtschaft zwischen nicht menschlichen Tieren und Menschen zu unterstreichen. „Some live in pairs and show mutual affection“, schrieb er bezüglich einer Art schwarzer Käfer (der Scarabaeoide, in Crist 1999:14). Tiere haben ein Innenleben, machen Erfahrungen und sind Autoren ihrer Handlungen, urteilte Darwin.
Raben sind die Artischocken unter den Singvögeln, entweder man mag sie, oder man mag sie nicht. Entweder wird man verführt von ihrem eleganten Gefieder, ihrer Vorwitzigkeit und Intelligenz, oder man sieht in ihnen habgierige Aasfresser, die unheilvoll rumkrächzen. In den Mythen lässt sich diese Ambivalenz ebenfalls auffinden. Raben sind entweder Unglücksboten (in Ovids Metamorphosen), als Rabeneltern egoistisch und unzuverlässig, oder stehen dem Menschen als Berater zur Seite (dem Propheten Elija) und werden gar als Totemtiere verehrt (bei den Tinglit).
Abseits der Mythen wurden sie vor allem von Jägern und Landwirten über Jahrhunderte als Schädlinge betrachtet und um 1940 in Mittel- und Westeuropa nahezu ausgerottet. Heute gelten die schwarzgefiederten Quengler mit 16 Millionen ihrer Art als ungefährdet. Mehr noch, die Dienstleistungsgesellschaft, die in geheizten Büros arbeitet und nicht mehr auf Feldern ackert, spricht sich gegen ihr Abschießen aus. So gab es in der Nähe von Lyon eine Ansammlung von etwa 500 Saatkrähen, einem Verwandten des Raben, die in einem verlassenen Garten Radau schlug. Die Anwohner wollten ihre Kinder nicht mehr draußen spielen lassen und wandten sich an die Stadtverwaltung; worauf diese vorschlug, Jäger zu schicken, die die Krähen abschießen sollten. Doch den Anwohnern war das zu rabiat, sie wollten, dass die Vögel einfach nur zum Fortziehen bewegt werden. Also brachte man zur Brutzeit Falken und Bussarde in ihr Revier, die die Krähen am Ausbrüten ihrer Eier hinderten. Die Begeisterung der Krähen, an dem Ort weiterhin Junge großzuziehen, verkehrte sich in ihr Gegenteil – sie zogen davon. So nisten Menschen sich ins Sozialleben der Tiere ein und Tiere sich in das der Menschen.