Der Feminismus der zweiten Generation trug seine Forderungen auf die Straße, der Feminismus 3.0 überwiegend ins World Wide Web

#Ichbinviele

d'Lëtzebuerger Land vom 15.12.2017

„Wie viele #MeToo braucht es noch?“, empört sich die Stimme, die blechern durch die Stille der Nacht schneidet. Die Demonstrantinnen hatten nicht zufällig nahe dem Justizpalast auf dem Heilig-Geist-Plateau Halt gemacht. Die Entscheidung eines Luxemburger Staatsanwalts, einen Mann, der Frauen im Bus unter den Rock filmte, nicht anzuklagen, weil es im öffentlichen Raum kein Recht aufs Bild gebe, versetzt sie in Rage. Unter dem Aufruf „Reclaim the night!“ waren sie am 25. November zum nächtlichen Protestzug durch die Innenstadt aufgebrochen.

Jedes Jahr zum Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen versammeln sich Aktivistinnen weltweit, um gegen Sexismus und männliche Gewalt zu demonstrieren. Am Vormittag hatte ein gemischtes Bündnis von Parteien, Frauenorganisationen und Gewerkschaften unter Schirmherrschaft von Gleichstellungsministerin Lydia Mutsch (LSAP) im Rahmen der „Week Orange“ eine Mahnwache gegen Gewalt abgehalten, am Abend war es an den Frauen, auf die Straße zu gehen. Pläne dazu gab es schon 2016, sie seien damals aber „nicht vorangekommen“, erzählt Enrica Pianaro. Die Soziologin arbeitet beim Beratungszentrum für Schwule und Lesben Cigale und hat den Protestmarsch mitorganisiert. Was auffiel: Manche mit Schildern, andere ohne liefen neben bekannten Größen aus dem Nationalen Frauenrat und dem Informations- und Dokumentationszentrum Cid Fraen an Gender mehrheitlich Frauen und Lesben zwischen 20 und 30 Jahren mit.

Neue Gesichter...

Zum Beispiel Milena Steinmetzer, die via Megafon dem Protest für den Abend ihre Stimme lieh. Für die 26-Jährige, die sich selbst als linke, kapitalismuskritische Feministin versteht, ist Alltagssexismus das Problem, das Frauen ihrer Generation besonders beschäftigt. „Wir begegnen Sexismus überall, in der Schule, in der Arbeit, in der Familie, auf der Straße in den Medien. Das muss endlich aufhören“, fordert sie. Die ignorante Entscheidung der Justiz zum filmenden Belästiger ist auf wenig Protest gestoßen. Obwohl ein Grüner das Justizressort innehat und sich die Grünen als feministisch verstehen, gab es keine Forderungen, diese Schutzlücke zu schließen.

Was nicht heißt, dass sich Frauen hierzulande mit Sexismus abfinden. Auch in Luxemburg hat sich, ausgelöst durch die Wut von US-Frauen über sexistische Übergriffe und Vergewaltigungen in Hollywood, ein Anlaufpunkt gebildet, wo sich Frauen zu Sexismus im Beruf austauschen. Ähnlich wie der Hashtag #MeToo auf Twitter, unter dem Frauen Belästigungen und sexualisierte Gewalt öffentlich machten und weltweit Solidarität erfuhren, mobilisieren sie in Luxemburg unter dem Hashtag #EchOch.

Für die Initiatorin Anouk Wagener, Schauspielerin und derzeit in Berlin lebend, war #MeToo „eine Befreiung“. Plötzlich gab es Worte für das, was sie selbst erlebt hat: „Es ist klar, dass es das auch in Luxemburg gibt. #MeToo hat mir die Angst genommen, darüber zu reden.“ Gemeinsam mit einer Freundin lancierte sie eine Facebook-Gruppe. Die Resonanz war groß: Frauen berichteten von Machtmissbrauch und sexistischen Übergriffen auf der Arbeit, sei es in der Kulturszene, in der Wirtschaft, an der Uni. Vertraulich: Weil Luxemburg klein ist, scheuen sie davor zurück, Tat und Täter öffentlich zu machen, zu groß ist die Angst vor Jobverlust und Gegenklagen. Wagener und eine Mitinitiatorin überlegen derzeit, über andere Wege die Übergriffe anonym zu veröffentlichen.

#MeToo ist nicht die einzige Solidaritäts-Aktion, die durch Internet und sozialen Netzwerken den Weg nach Luxemburg findet. Cid Fraen an Gender, die Fraueninstitution in Luxemburg, die dieses Jahr 25-jähriges Bestehen feiert, hatte vor rund zehn Jahren mit einer Ausstellung und Erzählcafés an den 1971 gegründeten bis 1992 aktiven Mouvement de libération des femmes erinnert, seine Errungenschaften gefeiert – und zugleich besorgt die Frage nach dem Nachwuchs gestellt. Jetzt ist er da.

..bekannte Probleme

Vielleicht war es die Luxembourg Gender Voice Initiative, die 2012 den Anfang machte, um den Generationswechsel Feminismus 3.0 voranzubringen: Aktivistinnen um Danielle Diamond brachten Kampagnen wie „One Billion Rising“ oder den „V-Day“ gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen via Facebook nach Luxemburg. Die Gruppe löste sich 2016 auf, die Initiatorinnen fanden aufgrund beruflicher und familiärer Verpflichtungen keine Zeit mehr.

Andere haben keine Kinder, versuchen sich Zeit zu nehmen oder haben den Feminismus zur Berufung gemacht. Ich treffe Tessie Jakobs im Café Interview in Luxemburg-Stadt, passend, denn die junge Journalistin schreibt für die Wochenzeitung Woxx unter anderem über Genderthemen. Für die Kulturwissenschaftlerin ist Feminismus, ähnlich wie für Milena Steinmetzer, Teil ihrer Identität, den sie versucht, „überall mitzudenken“. Egal, ob im Beruf oder im Privatleben. Ob es einen neuen Feminismus in Luxemburg gibt und, falls ja, inwiefern er sich von dem der 1970-er bis 1990-er unterscheidet? Tessie Jakobs zögert einen Augenblick. „Mehr Aktionen ja“, „und mehr junge Frauen“, sehe sie, „aber eher punktuell und individuell“ um Themen organisiert. „Eine regelrechte Bewegung kann ich nicht erkennen.“

Die neue Generation knüpfe an die alte an, auch wenn sich manchmal abgegrenzt wird. Gesellschaftliche Errungenschaften, die in vergangenen Jahrzehnten hart erkämpft wurden, wie das Abtreibungsgesetz oder Frauenquoten für politische Parteien, scheinen heute selbstverständlich. Erst wenn sie darauf gestoßen werden, fällt jungen Frauen auf, dass manche Kämpfe der so genannten zweiten Frauenbewegung erst zehn, 20 Jahre her sind. Und andere weiter andauern. „Meine Mutter sagt, wir hätten heute dieselben Anliegen. Leider“, sagt Milena Steinmetzer. Obwohl es gemeinsame Aktivitäten gibt, organisiert sich der Protest ihrer Generation weniger über Institutionen und Verbände wie dem Cid oder den Nationalen Frauenrat, sondern in persönlichen Netzwerken und übers Internet: etwa in der Gruppe Flit* von Jonk Lénk oder über temporäre Zugehörigkeiten in Facebook-Gruppen. „Die Kommunikationsformen sind heute andere. Twitter und Facebook erlauben es, sich spontan um Themen zu organisieren und sich dann wieder anderen Dingen zuzuwenden“, hat Julia Maria Zimmermann beobachtet.

Feminismus? Feminismen!

Für die Soziologin mit Schwerpunkt Gender Studies, die an Schulen über Feminismus aufklärt, unterscheidet sich der heutige Feminismus vom vorigen vor allem durch seine „Inklusivität“ und „Intersektionalität“. Damit ist der Kampf an mehreren Fronten gleichzeitig gemeint, weil Diskriminierungen sich überlagern und gegenseitig verstärken können. Das klingt akademisch und ist es insofern, als feministische Begrifflichkeiten den Gender studies entlehnt sind und, wie die Journalistin Anne Schaaf feststellt, mitunter „wie eine Geheimsprache“ klingen. Gender beschreibt, dass Geschlecht sozial zugewiesen wird durch Rollenzuschreibungen, genderfluid meint, dass sich Geschlechtsidentitäten mit der Zeit oder bezogen auf Situationen ändern können, queer, dass dies außerhalb der zwei Geschlechter Mann und Frau möglich ist.

Für manche junge Feministinnen ist Laurie Penny zu so etwas wie einer Galionsfigur geworden. Die britische Schriftstellerin und Journalistin, die mit ihrem neusten Buch Bitch Doctrine kürzlich in Luxemburg gastierte, versteht sich selbst als links, feministisch und genderqueer. Ihr Feminismus, den sie in schlagfertigen und provokativen Essays darlegt, legt den Finger in die Wunden, die patriarchale und kapitalistische Machtverhältnisse Tag um Tag schlagen: Sei es in der offensichtlichsten Form männlicher Gewalt oder, subtiler, durch Schönheitsnormen, ungleichen Lohn oder Familien- und Beziehungsarbeit, die immer noch hauptsächlich Frauen schultern. Pennys Feminismus ist inklusiv und steht für eine Gesellschaft, in der alle Geschlechter, ungeachtet von Herkunft und Hautfarbe, ohne Ausbeutung und Unterdrückung frei leben. Neben der ausdrücklichen Öffnung für und Solidarität mit Trans- und Intersexuellen sind Männer, die die eigene Rolle hinterfragen, ebenso willkommen, sich am Kampf gegen Diskriminierung zu beteiligen. Wenngleich nicht in vorderster Reihe. Der Ansatz wird zunehmend von Luxemburger Feministinnen vertreten, etwa von Jonk Lenk, wo sich Frauen, Männer und Queers in der Gruppe Flit* engagieren. Einige Gesichter kennt man von Richtung22. Es waren junge Leute aus dem Kunst- und Aktionskollektiv, die 2016 gegen Sexismus mobilisierten und die Abschaltung von Pin-up-Bildern auf der RTL-Webseite forderten.

Genderqueer

Was nicht heißt, dass Protestmärsche und andere Aktionen nicht weiterhin ausschließlich von Frauen und LGBT-Menschen für Frauen und LGBT organisiert werden (können). „Reclaim the night“ richtete sich bewusst an Frauen und Lesben. Die Organisatorinnen wollten ein Zeichen für Selbstbestimmung und gegen Männergewalt setzen. „Das wäre mit Männern nicht glaubwürdig gewesen“, findet Enrica Pianaro. Die Sicht ist nicht unumstritten. Anne Schaaf etwa hadert mit der Entscheidung. „Ich habe Freunde, die sind manchmal feministischer als ich.“ Für die Tageblatt-Kulturjournalistin ist der Ansatz, den sie insbesondere bei traditionellen Frauenorganisationen sieht, zu eng gefasst und „schubladenmäßig“, dessen Botschaften deshalb in einem „bestimmten Dunstkreis steckenbleiben“.

Dabei ist in den letzten Jahren einiges in Bewegung gekommen und stimmt die Aufspaltung in institu-
tionalisierte Feministinnen auf der einen und autonomen auf der anderen Seite so trennscharf nicht, wenn sie denn je gestimmt hat: Zum einen gibt es zwischen beiden personelle Überschneidungen, wie das Beispiel des Cigale zeigt: Das Beratungszentrum ist Mitglied der Plattform des Internationalen Frauentags, hat viele feministische Aktionen mitgetragen oder selbst organisiert, zum Beispiel Informationsabende. Die Organisationen verändern und öffnen sich zudem, oder sie versuchen es zumindest: Im Cid-femmes, das sich 2015 in Cid Fraen an Gender unbenannt hat, sitzen mit Julia Maria Zimmermann und Enrica Pianaro zwei Feministinnen der jüngeren Generation. Im Frühjahr will das Zentrum eine Fortsetzung des Buchs Wenn nun wir Frauen auch das Wort ergreifen veröffentlichen, darunter Interviews mit jungen Aktivistinnen, verrät Cid-Sprecherin Christa Brömmel. Sie ist beeindruckt vom neuen Elan, sofern sie ihn mitbekommt: „weil vieles in den Netzwerken stattfindet“. Das Cid ist auf Facebook, aber nicht auf Twitter präsent.

Sogar der Nationale Frauenrat hat mit „Voix de jeunes femmes“ inzwischen so etwas wie eine Nachwuchsorganisation, die seit Februar 2017 existiert und etwa 30 aktive Mitglieder zählt. Laut Initiatorin Lou Reckinger ist die Facebook-Gruppe „für alle Geschlechter offen“. Ein Anliegen der VDJF ist die „Tampontax“. „Es ist eine Frechheit, dass Frauen für Binden und Tampons eine höhere Mehrwertsteuer zahlen“, ärgert sich Reckinger. Grund dafür sei, dass „die Steuerpolitik von Männern gemacht wird, die unsere Lebensrealität nicht sehen“. Die Aktion für eine Besteuerung als „objets de première nécessité“ wurde 2015 vom Planning Familial aus Skandinavien nach Luxemburg gebracht, eine Petition fürs Parlament scheiterte aber, weil es an Unterstützer/innen mangelte.

Inklusion als Anspruch

Was auffällt ist, dass die jungen Aktivistinnen meist von „meinen Feminismus“ sprechen. Auch wenn wahrscheinlich viele von ihnen die Einschätzung Ainhoa Achuteguis (Chefin von Neimënster, die in der Tageblatt-Kolumne „Mercuria“ öfters feministische Aktualität aufgreift) teilen, dass feministische Themen allmählich in den Mainstream gelangen – den Feminismus gibt es nicht; überhaupt sind universalistische Forderungen verpönt. Das ist die Lehre aus der Kritik, die Schwarze und Migrantinnen sowie Frauen aus dem Süden an den arroganten Alleinvertretungsanspruch weißer westlicher Mittelschichtfrauen äußerten (und äußern), die ihren Feminimus als für den einzig Wahren hielten. Eben diese Befangenheit, tendenziell eher Probleme und Interessen von weißen Mittelschichtfrauen aufzugreifen, hat auch die neue Generation geerbt: Das gilt für die Quote ebenso wie für die Vereinbarkeitsproblematik: Frauen, die heute Karriere machen, tun dies nicht selten auf dem Rücken ausländischer Frauen, die für sie den Haushalt schmeißen. An Aktionen beteiligen sich vorrangig gebildete weiße Frauen, Arbeiterinnen dagegen kaum; Ausländerinnen haben es wegen der Verständigung oft schwer, sich einzubringen. Initiativen, wie die für 2018 geplante Studie übers weibliche Prekariat oder gezielte Treffen mit Flüchtlingsfrauen, wie sie Cigale und Cid femmes organisieren, zeigen aber, dass die Vereine bemüht sind, sich auch hier mehr zu öffnen.

Es sei „weniger eine Frage des Alters, sondern der Haltung“, findet die Soziologin Julia Maria Zimmermann. Schon in den 1990-er Jahren konnte in Deutschland in basisdemokratischen Frauen- und Lesbenzentren keine Wortmeldung beginnen, ohne sich zuvor ausgiebig selbst zu verorten, mit dem Risiko, sich hinterher nicht mehr auf gemeinsame Aktionen verständigen zu können. Eine Gefahr, die Zimmermann ebenfalls sieht. „Wenn es nur noch um unterschiedliche Identitäten geht, kommen wir nicht weiter. Wir brauchen gemeinsame Ziele.“ Sie plädiert, bei aller notwendigen Selbstkritik, dafür, dass „alle Geschlechter“ feministisch handeln: „Sonst macht am Ende niemand etwas.“

Ines Kurschat
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