„Wer Europa spalten will, kann kein Partner der Europapartei CDU sein“, sagte die deutsche Arbeitsministerin Ursula von der Leyen vergangene Woche in einem Interview mit der Welt am Sonntag. Die Arbeitsministerin appellierte an die Union, in den letzten Tagen des Bundestagswahlkampfs deutlich zu machen, „wie sehr Deutschland profitiert hat von Europa und seiner gemeinsamen Währung.“
Das war es dann. Im diesjährigen Bundestagswahlkampf zum Thema Europa. Hier und dort ein paar nette Worte zum Kontinent und zur alten Tante Europäische Union, Lippenbekenntnissen gleich, die gemacht werden müssen, aber selten ernst gemeint sind oder Taten folgen lassen. Es ging auch der Arbeitsministerin nicht um Europa. Von der Leyen erteilte mit ihrem Satz allen Wünschen nach einer Koalition mit der rechts-konservativen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) eine Absage, bevor diese Partei überhaupt in den Bundestag eingezogen ist.
Die AfD war die einzige Partei im am Samstag zu Ende gehenden Wahlkampf, die auf europa-kritische und -feindliche Töne und Themen setzte. Die etablierten Parteien waren sich einig, auf das Thema Europa zu verzichten. Ganz und gar. Der Berliner SPD-Chef Jan Stöß sagte während eines Treffens mit Pariser Mitgliedern der Parti Socialiste, dass Europa derzeit in Deutschland keine Rolle spiele. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Thomas Silberhorn, seit 2005 immerhin europapolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, wollte in einem Internet-Interview nicht ganz so krass klingen: „Europa wird eine Rolle spielen, doch im Vordergrund stehen zunächst landespolitische Themen.“
Die mahnenden Worte von Ministerin von der Leyen, wie sehr Deutschland von Europa und vom Euro profitiert, waren dann auch im eigenen Lager schnell vergessen. Aber was sollte man mehr auch von einem Wahlkampf erwarten, in dem eine Halskette der Kanzlerin und ein Mittelfinger des Herausforderers für mehr Aufregung sorgten, denn irgendeine inhaltliche Positionierung oder ein politisches Thema. Wurde Europa dennoch zum Diskussionsthema, so glichen sich die Argumentationen der etablierten Parteien und ihrer Vertreter und ließen sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Wir halten das Geld zusammen.“
So sehr auch ganz Europa am Sonntag nach Berlin schauen mag, das Ergebnis mag die Weichen für die Europäischen Union stellen: Kommt es zu einer Fortführung der bisherigen Koalition von CDU/CSU und FDP, muss sich Kanzlerin Angela Merkel zunächst wichtigen innenpolitischen Reformen widmen – darunter auch und vor allem die Modernisierung des bisweilen sehr schwerfälligen Föderalismus. Darüber hinaus wird sich Merkel deutlicher zum Thema Europa positionieren, wobei dies keine komplette Revision der Europa-Verträge nach sich ziehen würde. Dafür ist die Gefahr des Scheiterns zu groß. In puncto Bankenunion folgen dann einige labbrige Kompromisse mit Frankreich und es werden ein paar kosmetische Maßnahmen durchgeführt, die sowohl Paris als auch Berlin das Gesicht lassen, in Europa das Sagen zu haben. Eurobonds wird es unter einer schwarz-gelben Regierung in Berlin in den kommenden vier Jahren nicht geben.
Steigt die SPD als Juniorpartner in eine große Koalition ein, wie zuletzt 2005, wird der europapolitische Kurs der letzten Jahre beibehalten, wenn auch der Druck auf die Krisenländer Europas zur finanzpolitischen Konsolidierung etwas gemildert wird, ganz verschwinden wird er kaum. Auch unter einer großen Koalition in Berlin wird es keine Eurobonds geben. Erst ein Wechsel zu einer rot-grünen oder gar rot-rot-grünen Bundesregierung würde tiefgreifende Veränderungen bringen – und die Finanzmärkte auf Talfahrt schicken, was eine neuerliche Zuspitzung der Euro-Krise bedeuten würde.
Orakel hin oder her: Gerade der zu Ende gehende Bundestagswahlkampf zeigt, dass das Konstrukt Europa, so wie es derzeit gelebt und verwaltet wird, vor allen Dingen ein westeuropäisches Konstrukt aus der Zeit des Kalten Kriegs ist, das sich – noch immer nicht – der veränderten europäischen Realität angepasst hat. Auf Sicherheit und Wohlstand bedacht, nach dem gemeinsamen Standard einer gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Entwicklung von oben gemacht. Derart starke soziale Gefälle und gesellschaftliche Unterschiede waren nicht vorgesehen. Die Idee Europa verblasste immer mehr vor dem Hintergrund, dass wirtschaftspolitische Fortschritte die Agenda bestimmten, gesellschaftliche und politische Aspekte hintenan gestellt wurden. Dass die Ökonomie dabei den Menschen in ihrer abstrakten Realität verloren hat, zeigt vor allen Dingen die Unfähigkeit der Politikerinnen und Politiker die Union durch die Euro-Krise zu regieren, sie zu wappnen und sie – im Sinne der Gründer – fortzuentwickeln. Man hangelt sich von einer nationalen Wahl zur nächsten. Mit der Besitzstandswahrungsvermarktung, wie sie vor allem die CDU im Bundestagswahlkampf betreibt, wird Europa zur Euro-Staatenbund degradiert werden.
Nicht wenige deutsche Medien fragen sich, ob es nicht wieder Zeit sei für eine Revolution. Die Antwort ist ein „Ja, aber“. Revolution müsse sein, um aus der Lethargie zu erwachen, um für Politik zu begeistern, um neue Visionen zu entwickeln. Man schaut gespannt und neugierig auf die Occupy-Bewegung, will seine Lehren aus dem Arabischen Frühling ziehen, die Menschen wieder für das Politische begeistern und gegen die Lethargie des Alltags und des Alltäglichen ankämpfen. Das Aber ist vor allen Dingen mit einem Wunsch verbunden: Gemütlich müsse sie sein, die Revolution.